Jerusalem

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Montag, 10. Dezember 2012

Chanukka-Geld, Teil 5 - Patrick Roth


Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden kann.

„SUNRISE – Das Buch Joseph“ von Patrick Roth

Es gibt wohl keinen anderen lebenden Schriftsteller, dem es auf so genial-beeindruckende, mitunter gar im allerpositivsten Sinne überwältigende Art und Weise immer wieder scheinbar ganz mühelos gelingt, biblische Urlandschaften und Motive in der Fantasie des Lesers auferstehen zu lassen wie dem 1953 in Freiburg geborenen Patrick Roth in seinem aktuellen für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012 nominierten Roman „Sunrise – Das Buch Joseph“ oder der diesem sprachmächtigen Hauptwerk furios den Weg bereitenden Riverside-Trilogie aus den 1990er Jahren.

Dabei würde der in seinem singulären Schreiben ebenso maßgeblich vom klassischen amerikanischen Film wie von der Philosophie Carl Gustav Jungs beeinflusste Schrifststeller sowohl dem Eindruck des scheinbar Mühelosen widersprechen wie auch der vorschnellen Diagnose, er beschreibe in seinen Büchern reale Landschaften der Bibel, wie wir sie heute noch in Israel/Palästina oder Jordanien vorfinden können: Denn die Landschaften, aus denen Patrick Roth so bravourös schöpft, liegen für gewöhnlich verborgen im kollektiven oder persönlichen Unbewussten der menschlichen Psyche und werden von Autor in einer für den Laien kaum zu ermessenden Anstrengung ans Licht gezogen, deren Handwerkszeug er ausführlich in seinen beiden bei Suhrkamp erschienenen Poetik-Vorlesungen beschreibt.

Sein opus magnum „SUNRISE“ ist die bislang ungeschriebene Geschichte eines der auch in der irritierenden Oberflächlichkeit seiner apostolischen Darstellung auffälligsten und damit im heimlich Verborgenen bedeutendsten männlichen Nebencharaktere des Neuen Testaments, der erstaunlicherweise in der christlichen Überlieferung kaum Erwähnung findet, obwohl er doch wie selbstverständlich das Kind aller Kinder als sein eigenes annahm, jenes Kind, ohne das das Christentum nicht wäre, obwohl die wahre Vaterschaft dieses Kindes heute wie zu biblischen Zeiten mehr als zweifelhaft erscheinen muss und auch die Geschichte der Mutter vor dem gewöhnlichen Hintergrund einer rationalen Weltsicht kaum bestehen kann.

Ich kenne einen Menschen, dessentwegen Himmel und Erde geworden sind, [...] der einst Herr eures Herrn war.“



Patrick Roth macht Joseph, den Jesus- und Gottesvater, ohne wenn und aber zum langmütigen Helden seines aufsehenerregenden sprachmächtigen Romans und folgt ihm, als einem zweiten „herrlichen Dulder“, bis in tiefste Tiefen von Vision, Vorsehung und Schicksal, bis ins mythische Dunkel der hebräischen Vorväter der biblischen Überlieferung, deren Abstammungslinie bis zum legendären ersten Menschen Adam hinabreicht. Der altsprachlich ausgebildete Autor beschreibt Joseph dabei als einen im modernsten Sinne visionären Menschen, der seinen Träumen und Gott in einem Maße vertraut, wie es gleichsam nur einem Menschen der Bibel anzustehen scheint. Eine in der jüdisch-osteuropäischen mystizistischen Bewegung des Chassidismus populäre und durch zahlreiche Vertonungen bis heute bekannte spirituelle Anrufung lautet:

Warum stürzt die Seele
aus erhabensten Höhen hinab
in den tiefsten Abgrund? -
Absturz und Aufstieg schaffen
und bedingen einander.

Diese erschütternde Erkenntnis scheint Patrick Roth wie in einem ebenso versierten und in jeder erdenklichen Hinsicht fundierten wie traum- und lebensgesättigten literarischen Kommentar bildmächtig auszuführen. Als sich sein Protagonist Joseph dem undenkbaren Gottesbefehl verweigert, jenes eine, größte und für einen liebenden Vater gänzlich unzumutbare Opfer erneut zu vollbringen, dem sich Abraham einst beugte, ohne es letztlich ausführen zu müssen, wird er in eine fesselnde Geschichte von Schuld und Verstrickung hineingezogen, der man sich als Leser nicht entziehen kann und an deren sämtliche Handlungstränge auf wunderbare Weise miteinander versöhnenden Ende man mit einer der beglückendsten und tröstlichsten Schlussszenen entschädigt wird, die die Literatur je hervorgebracht hat.

Einen absolut empfehlenswerten Einstieg in Patrick Roths faszinierendes Werk bietet die Komplettlesung des als glänzender Vorleser bekannten Autors, die seit heute im Rahmen der Sendereihe „Fortsezung folgt“ täglich bis zum 29. Januar in 33 Folgen auf SWR-2 ausgestrahlt wird.

"SUNRISE - Das Buch Joseph", erschienen bei Wallstein, 509 Seiten, € 24,90

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