Gegen Ende des Jahres, wenn die Nächte immer länger
werden und das allgegenwärtige Dunkel uns zu bedrücken beginnt, feiern mit
Judentum, Christentum und Hinduismus drei große Weltreligionen ihre
traditionellen Lichterfeste. Chanukka, Weihnachten und Diwali versetzen uns
nicht nur als Mitglieder unserer sozialer Gemeinschaften in erwartungsvolle
Geschäftigkeit, sondern auch als Konsumenten. Manch einer mag insgeheim sogar
auf die verheißene spirituelle Erleuchtung hoffen. Das antike Chanukka-Wunder
im Jerusalemer Tempel ließ das ewige Licht sieben Tage länger brennen als die
übrig gebliebene kümmerliche Ration geweihten Öls erhoffen ließ. Aus der
Vielzahl an Buch-Neuerscherscheinungen des zurückliegenden Jahres, habe ich
analog zu diesem Wunder sieben Bücher des Jahres ausgewählt, deren inneres
Licht im Geiste des Lesers gleichermaßen lang zu leuchten vermag. Bücher sind
immer ein Geschenk – und ein Lichtwunder, das man sich mühelos selbst zünden
kann.
„SUNRISE – Das Buch Joseph“ von Patrick Roth
Es gibt wohl keinen
anderen lebenden Schriftsteller, dem es auf so genial-beeindruckende,
mitunter gar im allerpositivsten Sinne überwältigende Art und
Weise immer wieder scheinbar ganz mühelos gelingt, biblische
Urlandschaften und Motive in der Fantasie des Lesers auferstehen zu
lassen wie dem 1953 in Freiburg geborenen Patrick Roth in seinem
aktuellen für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2012
nominierten Roman „Sunrise – Das Buch Joseph“ oder der diesem
sprachmächtigen Hauptwerk furios den Weg bereitenden
Riverside-Trilogie aus den 1990er Jahren.
Dabei würde der in
seinem singulären Schreiben ebenso maßgeblich vom klassischen
amerikanischen Film wie von der Philosophie Carl Gustav Jungs
beeinflusste Schrifststeller sowohl dem Eindruck des scheinbar
Mühelosen widersprechen wie auch der vorschnellen Diagnose, er
beschreibe in seinen Büchern reale Landschaften der Bibel, wie wir
sie heute noch in Israel/Palästina oder Jordanien vorfinden können:
Denn die Landschaften, aus denen Patrick Roth so bravourös schöpft,
liegen für gewöhnlich verborgen im kollektiven oder persönlichen
Unbewussten der menschlichen Psyche und werden von Autor in einer für
den Laien kaum zu ermessenden Anstrengung ans Licht gezogen, deren
Handwerkszeug er ausführlich in seinen beiden bei Suhrkamp
erschienenen Poetik-Vorlesungen beschreibt.
Sein opus magnum
„SUNRISE“ ist die bislang ungeschriebene Geschichte eines der
auch in der irritierenden Oberflächlichkeit seiner apostolischen
Darstellung auffälligsten und damit im heimlich Verborgenen
bedeutendsten männlichen Nebencharaktere des Neuen Testaments, der
erstaunlicherweise in der christlichen Überlieferung kaum Erwähnung
findet, obwohl er doch wie selbstverständlich das Kind aller Kinder
als sein eigenes annahm, jenes Kind, ohne das das Christentum nicht
wäre, obwohl die wahre Vaterschaft dieses Kindes heute wie zu
biblischen Zeiten mehr als zweifelhaft erscheinen muss und auch die
Geschichte der Mutter vor dem gewöhnlichen Hintergrund einer
rationalen Weltsicht kaum bestehen kann.
„Ich kenne einen
Menschen, dessentwegen Himmel und Erde geworden sind, [...] der einst
Herr eures Herrn war.“
Patrick Roth macht
Joseph, den Jesus- und Gottesvater, ohne wenn und aber zum
langmütigen Helden seines aufsehenerregenden sprachmächtigen Romans
und folgt ihm, als einem zweiten „herrlichen Dulder“, bis in
tiefste Tiefen von Vision, Vorsehung und Schicksal, bis ins mythische
Dunkel der hebräischen Vorväter der biblischen Überlieferung,
deren Abstammungslinie bis zum legendären ersten Menschen Adam
hinabreicht. Der altsprachlich ausgebildete Autor beschreibt Joseph
dabei als einen im modernsten Sinne visionären Menschen, der seinen
Träumen und Gott in einem Maße vertraut, wie es gleichsam nur einem
Menschen der Bibel anzustehen scheint. Eine in der
jüdisch-osteuropäischen mystizistischen Bewegung des Chassidismus
populäre und durch zahlreiche Vertonungen bis heute bekannte
spirituelle Anrufung lautet:
Warum
stürzt die Seele
aus
erhabensten Höhen hinab
in
den tiefsten Abgrund? -
Absturz
und Aufstieg schaffen
und
bedingen einander.
Diese erschütternde
Erkenntnis scheint Patrick Roth wie in einem ebenso versierten und in
jeder erdenklichen Hinsicht fundierten wie traum- und
lebensgesättigten literarischen Kommentar bildmächtig auszuführen.
Als sich sein Protagonist Joseph dem undenkbaren Gottesbefehl
verweigert, jenes eine, größte und für einen liebenden Vater
gänzlich unzumutbare Opfer erneut zu vollbringen, dem sich Abraham
einst beugte, ohne es letztlich ausführen zu müssen, wird er in
eine fesselnde Geschichte von Schuld und Verstrickung hineingezogen,
der man sich als Leser nicht entziehen kann und an deren sämtliche
Handlungstränge auf wunderbare Weise miteinander versöhnenden Ende
man mit einer der beglückendsten und tröstlichsten Schlussszenen
entschädigt wird, die die Literatur je hervorgebracht hat.
Einen absolut
empfehlenswerten Einstieg in Patrick Roths faszinierendes Werk bietet
die Komplettlesung des als glänzender Vorleser bekannten Autors, die
seit heute im Rahmen der Sendereihe „Fortsezung folgt“ täglich
bis zum 29. Januar in 33 Folgen auf SWR-2 ausgestrahlt wird.
"SUNRISE - Das Buch Joseph", erschienen bei Wallstein, 509 Seiten, € 24,90
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