Jerusalem

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Samstag, 28. November 2015

„Die Möglichkeit eines Verbrechens“ von Dror Mishani

„Avi, Avi! Pass auf!“, möchte man im Verlauf der Handlung von Dror Mishanis zweitem Avi-Avraham-Roman dem gutmütigen Protagonisten mit wachsender Ungeduld immer wieder zurufen und ihn dabei kräftig an den Schultern rütteln, „Du tust es schon wieder! Warum begehst du den selben verhängnisvollen Fehler ein zweites Mal?“ – Im ersten überaus originellen Band der klug konstruierten Reihe des Lehrbeauftragten für Kriminalliteratur der Universität Tel-Aviv hatte der erfahrene, stets sorgfältig arbeitende israelische Polizeiinspektor im Verlauf der erfolglosen Suche nach einem von seinen Eltern als vermisst gemeldeten Jugendlichen aus persönlicher Empathie wichtige Spuren nicht weiterverfolgt und den ebenso undurchsichtigen wie tragischen Fall um familiären Missbrauch durch sein ärgerliches Versäumnis nicht nur unnötig in die Länge gezogen, sondern hätte dabei beinahe auch die bürgerliche Existenz eines unschuldigen, aber höchst verdächtigen Lehrers des Verschwundenen vernichtet, auf den er sich als möglichen Täter regelrecht eingeschossen hatte. Für den berufenen Ermittler selbst hatte sein unbegreifliches Versagen auch berufliche Konsequenzen: ein psychologisches Gutachten, Versetzung in den Innendienst sowie den anhaltenden hämischen Spott vieler seiner Kollegen. Einziger persönlicher Lichtblick für den schüchternen Romantiker war eine zarte Romanze mit einer Brüsseler Kollegin während einer gleichsam als Strafe über ihn verhängten Fortbildung in der belgischen Hauptstadt.




Im lange erwarteten und letzten Sommer endlich in deutscher Übersetzung erschienenen zweiten Band der Reihe ist Avi Avraham beruflich weitgehend rehabilitiert und darf ernsthaft hoffen, schon bald wieder seinen ersten eigenen Fall seit seiner Suspendierung zu leiten, während er im Privaten voller Vorfreude dem baldigen Eintreffen seiner belgischen Freundin entgegenfiebert. Die Beziehung der beiden hat sich im Verlauf der letzten Monate durch einen mehrwöchigen Liebesurlaub in Belgien intensiviert, und sie steht kurz davor, ihren Dienst in Brüssel zu quittieren und zu ihm nach Tel Aviv zu ziehen. Eines Morgens wird vor einem kleinen privaten Kindergarten in der schäbigen Vorstadt von Cholon im Bezirk Tel Aviv ein verdächtiger herrenloser Koffer gefunden – Bombenalarm wird ausgelöst und entsprechend der üblichen Mechanismen des tagtäglich von Terrorismus bedrohten jüdischen Staates rückt ein Räumkommando an, evakuiert die Nachbarschaft und die Polizei beginnt zu ermitteln. Als sich nach der kontrollierten Sprengung des Gegenstands herausstellt, dass es sich dabei nicht um eine Kofferbombe handelte, sondern lediglich um eine täuschend echte Attrappe, wird entschieden, dass Avi Avraham den vermeintlich unbedeutenden Fall als persönliche Bewährungsprobe übernehmen darf.

Er räusperte sich und sagte: „Jedes Mal denke ich, es würde anders enden, weißt du? Zu Beginn jeder Ermittlung. Das alles, was war, gelöscht ist. Aber nichts wird gelöscht, alles sammelt sich nur von einem Fall zum nächsten an. Ich war mir sicher, dass es diesmal tatsächlich so war, aber auch bei diesem Fall habe ich es nicht geschafft, irgendjemanden zu retten. Weder sie noch die Jungen und auch mich selbst nicht.“
Sie rückte noch näher an ihn heran. „Avi, ich glaube nicht, dass es möglich ist, Kinder vor ihren Eltern zu retten.“ Sie verstummte und fügte dann hinzu: „Aber vielleicht gelingt es dir eines Tages.“ Er schloss die Augen.

Mit großem, möglicherweise sogar zu großem Engagement stürzt sich der Inspektor in die Ermittlungen. Der monatelange, seinen eigentlichen detektivischen Fähigkeiten nicht im geringsten angemessene Innendienst und die zahlreichen drängenden Fragen, die sich auch für ihn selbst aus seinem unerklärlichen Versagen ergeben haben und eine anhaltende Belastung für seine angeschlagene Psyche darstellen, haben seinen persönlichen Ehrgeiz, sich nicht nur vor seinen Kollegen und Vorgesetzten, sondern vor allem auch vor sich selbst wieder zu beweisen, in unrealistische Höhen geschraubt. Bei ersten Befragungen der Kindergartenleiterin, ihrer Mitarbeiterinnen und weiterer Zeugen, konzentriert er sich bald schon auf Eltern, die bekanntermaßen aus unterschiedlichsten individuellen Gründen mit der Institution in Konflikt stehen. Insbesondere die widersprüchliche Aussage des Betreibers eines kleinen Catering-Service‘, Chaim Sara, der in den frühen Morgenstunden in Tatortnähe gesehen wurde und sich bei verschiedener Gelegenheit in aggressivem Ton mit der Leiterin des Kindergartens über die Erziehung des jüngeren seiner beiden Söhne gestritten hat, lässt einen unbestimmten Verdacht in Avi Avraham aufkeimen, den keiner seiner Kollegen zu teilen scheint, dem er selbst sich aber trotz seiner problematischen Vorgeschichte nicht zu entziehen vermag, so dass er auch gegen den expliziten Wunsch seiner direkten Vorgesetzten unbeirrt weiterermittelt, anstatt routinemäßig einer Spur zu einer ehemaligen Mitarbeiterin des Kindergartens zu folgen, die ihre Stelle erst kürzlich überraschend gekündigt hat.

Cholon, Israel/Foto: Miroslaw Z. Wojalski


Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als der Inspektor auf eigene Faust den von ihm verdächtigten Chaim Sara beschattet, dessen philippinische Ehefrau angeblich auf Urlaub in ihre Heimat geflogen ist, wird die wenig mitteilungsfreudige Leiterin des Kindergartens von Unbekannten tätlich angegriffen und dabei so schwer verletzt, dass sie nach einer langwierigen Notoperation ins Koma fällt, über dessen voraussichtliche Dauer die behandelnden Ärzte keinerlei zuverlässige Aussage zu treffen vermögen. Während Avi im privaten Handlungsstrang des Romans verzweifelt auf eine Nachricht von seiner Freundin wartet, die seit Tagen aus ungeklärtem Grund ihr Handy abgestellt hat und auf seine Festnetz-Anrufe nicht reagiert, scheint alles darauf hinauszulaufen, dass der sensible Ermittler kurz davor steht, auch dieses Mal den neutralen Überblick zu verlieren und seine lang ersehnte Bewährungschance auf spektakuläre Art und Weise zu vermasseln. Als Leser sind wir ihm allerdings aufgrund der Parallelperspektive aus Chaim Saras Sicht ein gutes Stück voraus und können durch diesen cleveren Trick des Autors umso mehr ehrlich empfundene Empathie für den unverstandenen Polizisten in unsere Lektüre einbringen, der bis zum Schluss aus genuinem detektivischem Instinkt auf seinen Anfangsverdacht vertraut und diesmal auf ungeahnte Weise richtig liegt.

Chaim hätte sich die Gesichter seiner Söhne stundenlang anschauen können, aber nicht aus dem Grund, aus dem die meisten Eltern dies taten, so dachte er. Er betrachtete die schmalen Augen, die andersartigen Gesichtszüge und versuchte zu erkennen, worin sich diese von seinen eigenen unterschieden und worin sie ihm doch ähnlich sahen. Von Shalom wurde immer gesagt, er gliche ihm etwas mehr, aber von seinem Charakter kam er eher nach Jenny. Quirlig und eine Plaudertasche. Während hingegen Eser, der Chaim mit seinem ausdauernden Schweigen und seiner Verschlossenheit so sehr an sich selbst erinnerte, ihr wie aus dem Gesicht geschnitten war, ja manchmal buchstäblich wie sie aussah. Die Fremdheit in ihren Gesichtern würde ihnen stets anhaften. Er hatte dies vor allem durch die Augen anderer Menschen begriffen. [...] Auch an die Geburt erinnerte er sich. An Jennys Schreie und an seine Sorge, seinem Sohn könne während der Geburt etwas zustoßen. Die Ärztin auf der Entbindungsstation hatte es abgelehnt, Jenny aufzunehmen, auch als diese sagte, sie habe bereits Wehen. Sie wurden gebeten, in ein paar Stunden wiederzukommen, und Chaim war sich sicher gewesen, dass dies nur wegen ihrer Fremdheit geschah. Er hatte aber nicht zu protestieren vermocht und Jenny, die sich vor Schmerzen krümmte, wieder mit nach Hause genommen.

Dror Mishani erweist sich auch in seinem zweiten Roman als überaus versierter, hoch origineller Erzähler. Diesmal droht ihm allerdings mehrmals das im Sinne eines ökonomischen Spannungsbogens notwendige Verhältnis zwischen dem organischen Fortschreiten der Handlung und dem bewusst inszenierten erzählerischen Vorenthalten wichtiger Fakten aus einem für den Leser zumutbaren Gleichgewicht zu geraten. Im Falle von Avi Avrahams detektivischem Streben nach Aufklärung des ihm übertragenen Falles ist dies ohne Zweifel vollkommen legitim: die meisten Kriminalromane funktionieren genau nach diesem Prinzip, dass sämtliche Informationen, Fakten und Indizien vom ermittelnden Detektiv erst über einen bestimmten Zeitraum zu einem vollständigen Gesamtbild zusammengesetzt werden müssen. Dadurch ergibt sich zwangsläufig ein Wissensdefizit, das der Leser mit dem Ermittler teilt. Die von Chaim Sara selbst umrissene alternative Perspektive in Mishanis Roman funktioniert jedoch für den Leser über einen nicht unwesentlichen Teil der Lektüre nur, weil der Verdächtige in seinen inneren Monologen stets nur das ausspricht, was wir als seine Beweggründe im Rahmen seiner psychischen Disposition sowie seinen spezifischen Lebensumständen durchaus billigend nachvollziehen und sogar als logische Konsequenz aus seiner möglichen Tat werten können, wie auch immer diese ausgesehen haben mag; das eigentliche zurückliegende Verbrechen, das er möglicherweise begangen hat, bleibt aber ebenso in Saras erzählerischem Off wie das von Avi fälschlicherweise vermutete zukünftige.


Dror Mishani/Foto: Yanai Yechiel

Auch in seinem zweiten geistreich-spannenden Fall verbeißt sich der wackere Avi Avraham intuitiv in einen höchst subjektiven, auf eine bestimmte Person gerichteten Verdacht, den keiner seiner Kollegen mit ihm teilt. Diesmal allerdings gelingt es ihm mit Hilfe seines kriminalistischen Gespürs, einen Fall zu lösen, den niemand sonst innerhalb der Polizeibehörden überhaupt als möglichen Fall wahrgenommen hatte. Dass der verunsicherte Inspektor allerdings am Ende die meisten Lorbeeren ausgerechnet für das scheinbar weitsichtige Verhindern einer zukünftigen Tat einheimst, die vom vermuteten Täter überhaupt nicht intendiert war, hebt Dror Mishanis durchdachten Plot weit über das übliche Niveau eines gewöhnlichen Kriminalromans heraus. Auch das gute psychologische Gespür des Schriftstellers für seine Protagonisten und ihre Handlungsmotive sowie seine sensible, empathische Weltsicht machen den Israeli ohne Zweifel zu einem der interessantesten aktuellen Vertreter des zeitgenössischen klassischen Kriminalromans, dem gerade angesichts des offenkundigen aktuellen Desinteresses an israelischer Literatur auf dem deutschen Buchmarkt (über das an anderer Stelle noch zu reden sein wird) viele unbefangene Leser zu wünschen sind. Am Ende darf sein wortkarger Ermittler nach einem Wechselbad der Gefühle und einer erneuten Reise nach Brüssel erneut in eine fragile Idylle privaten Glücks eintauchen. Man darf sich auf weitere Fälle des sympathischen Anti-Helden freuen!

„Die Möglichkeit eines Verbrechens“, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, erschienen bei Zsolnay, 336 Seiten, € 19,95

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