Für seinen packenden
historischen Kriminalroman „Germania“ wurde der langjährige
Fernsehredakteur und Theaterregisseur Harald Gilbers im Jahr 2014 zu
Recht mit dem Friedrich-Glauser-Preis für das beste (und
überraschendste) Krimi-Debüt des Jahres ausgezeichnet. In seinem
überaus originellen, vielfach gebrochenen Protagonisten Richard
Oppenheimer, einem von den Nazis verfolgten jüdischen
Ex-Kriminalkommissar, der im vom intensiven alliierten Luftkrieg
geprägten Berlin der letzten Kriegsjahre untergetaucht ist, hat der
studierte Historiker gewissermaßen einen politisch korrekteren
Gegenentwurf zu Philip Kerrs unverwüstlichem kriminalistischen
Dauerbrenner an deutschen Kriegsschauplätzen, Bernie Gunther,
geschaffen, der in seinen persönlichen Widersprüchen nicht nur sehr
viel komplexer angelegt ist als sein nahezu gleichaltriger jüdischer
Kollege, sondern sich auch gegen seinen Willen immer wieder in die
politischen Intrigen und Verbrechen der Nationalsozialisten
verstrickt, woraus die international vielfach prämierte Reihe ohne
Zweifel einen großen Teil ihrer Spannung bezieht.
Der amphetaminabhängige
Oppenheimer hingegen lebt im nationalsozialistischen Berlin unter
doppelter Lebensgefahr: als illegaler Jude kann er jederzeit entdeckt
oder denunziert und nach Auschwitz deportiert werden, gleichzeitig
schwebt über ihm aber auch das Damoklesschwert eines nicht weniger
unpersönlichen Todes im nahezu allnächtlichen alliierten
Bombenhagel, das er mit allen anderen Bewohnern Berlins teilt. Zwar
scheint die Konstruktion der Figur eines verfolgten Juden im Jahr
1944/45, der Dank einer gefälschten Identität unbehelligt als
Nachtwächter in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitet (und daher
nicht zur Wehrmacht eingezogen werden kann) angesichts des
unvorstellbaren, uns in seinen furchtbaren Details nur allzu
bekannten kollektiven Leidens in den Konzentrationslagern besonders
zu Beginn des nun vorliegenden zweiten Bandes der Reihe, „Odins
Söhne“, durchaus gewagt und nicht wenig verharmlosend,
möglicherweise unangemessen, doch gelingt es dem Autor erstaunlich
schnell, uns mit einer ebenso spannenden wie gut recherchierten, an
authentischen Fakten reichen Handlung von seiner durchdachten
Konstruktion zu überzeugen.
„Also abgesehen von
der Thule-Gesellschaft – könnte man noch andere Sekten mit den
Indizien in unserem Fall in Verbindung bringen?“
Larsen schmunzelte.
„Diese Vorstellungen kursierten schon weit vor dem Aufkommen der
Nationalsozialisten. In den letzten Jahrzehnten gab es so viele Logen
und okkulte Verbindungen, dass es schwerfällt den Überblick zu
behalten.“[...]
Oppenheimer blickte
Larsen aufmerksam an.
„Aber die Leute haben
doch sicherlich bemerkt, dass das alles Unfug ist“, wandte er ein.
„Nur eine Minderheit kann an so etwas geglaubt haben.“
„Natürlich“, sagte
Larsen. „Dieser Okkultismus wurde allgemein als Spinnerei abgetan,
als skurrile Randnotiz. Doch die damit verbundenen Vorstellungen
gärten im Untergrund weiter und verbreiteten sich schließlich im
gesamten deutschsprachigen Raum. Die Anhänger der sogenannten
Ariosophie glauben, dass es in der Vergangenheit mal ein goldenes
Zeitalter gab, in der die arische Rasse klar überlegen war. Die
Ahnen werden als Gottmenschen mit ungeahnten Kräften verklärt. Und
das Ziel ist nun, diesen ursprünglichen Zustand wieder
herzustellen.“
Besonders lobenswert ist
Harald Gilbers geglückter Versuch, dem interessierten Leser die auch
heute noch vielen Menschen weitgehend unbekannten Wurzeln der
nationalsozialistischen Ideologie sowie auch die direkte persönliche
Verstrickung wesentlicher Protagonisten des Nationalsozialismus in
pseudowissenschaftliche, esoterische und sektiererische
Weltanschauungen vor Augen zu führen, die seit dem Übergang vom
Neunzehnten zum Zwanzigsten Jahrhundert für eine zunehmende Anzahl
angesichts der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen
ihrer Zeit verunsicherter Menschen mögliche Auswege aus der
Unsicherheit ihrer Existenz anzubieten schienen. Die seinerzeit
ausgesprochen populäre, insbesondere auch von den
Nationalsozialisten geförderte, aus heutiger Sicht geradezu absurd
wirkende sogenannte Hörbigersche Welteislehre als in sich
geschlossenes alternatives kosmologisches System ist nur ein eher
harmloses Beispiel seinerzeit weit verbreiteter Denkansätze, die
unserem heutigen Verlangen nach esoterischer Lebenshilfe und Fantasy
in Film und Literatur nicht unähnlich sind.
Zerstörtes Propagandaministerium, März 1945/Bundesarchiv, Bild 183-J313336 |
Richard Oppenheimer gerät
gleich zu Beginn des Romans in eine heimtückische, selbst für den
routinierten Kriminalisten schwer durchschaubare Falle, die im
weiteren Verlauf der Handlung nicht nur ihn selbst in höchste
Lebensgefahr bringt, sondern auch seine resolute Gönnerin, die in
eigener Praxis niedergelassene Allgemeinmedizinerin Hildegard von
Strachwitz, eine Schlüsselfigur des Widerstandes, die ihn schon im
ersten Band der Reihe mehrfach vor der drohenden Verhaftung gerettet
hatte, unter Mordanklage und dem nicht weniger gefährlichen Vorwurf
der Wehrkraftzersetzung vor den berüchtigten Volksgerichtshof Johann
Freislers. Hildes bereits seit Jahren getrennt von ihr lebender
Ehemann hat als skrupelloser Lagerarzt von Auschwitz das Chaos
während der Liquidierung des Lagers genutzt und sich mit einer
Zugladung Morphium aus SS-Beständen nach Berlin abgesetzt. Mit Hilfe
seiner Frau möchte er die heiße Ware möglichst unverzüglich
gewinnbringend verkaufen, um sich mit dem zu erwartenden
beträchtlichen Erlös nach Kriegsende im Ausland eine neue,
unverfängliche Existenz aufzubauen.
Einsam und verlassen
lag das Büro im Zwielicht, an der Zimmerdecke tanzten schwache
Lichtreflexe. Auf dem Schreibtisch fand Oppenheimer zu Glück eine
Petroleumlampe und zündete den Docht an, während Schmude die
Vorhänge zuzog. Sie mussten vorsichtig sein. Obwohl es in der
Umgebung lichterloh brannte, war es nicht ausgeschlossen, dass
übereifrige Nachbarn die Polizei alarmierten, wenn jemand die
Verdunklungsvorschriften missachtete.
Als die Lampe das
Zimmer erhellte, mochte Oppenheimer seinen Augen nicht trauen.
Auf Peters' schäbigem
Schreibtisch lag eine Schachtel voller Judensterne.
„Was zum Teufel ist
denn das?“, fragte Schmude.
„Das siehst du ja“,
murmelte Oppenheimer. „Und hier in der anderen Schachtel sind
Entlassungsformulare. Alles blanko. Fürs Gefängnis, sogar fürs
Konzentrationslager.“
Unterdessen hatte
Schmude einen der Koffer geöffnet, die Peters in der Ecke
übereinandergestapelt hatte.
„Hier haben wir
Gefängniskleidung.“ Er breitete eine gestreifte Hose aus. „Mit
Gebrauchsspuren. Sieht ziemlich echt aus.“
Oppenheimer wurde
zornig. „Dieses Schwein“, knurrte er. „Weißt du, was das ist?
Das hier ist das perfekte Alibi.“
Die von Oppenheimer
vermittelte Übergabe des Stoffs an die Berliner Unterwelt misslingt
jedoch auf katastrophale Weise, und zwei Tage später wird von einer
Polizeistreife die enthauptete Leiche des flüchtigen KZ-Arztes in
dessen verwüsteter Wohnung aufgefunden. Erste und für die Behörden
einzige Tatverdächtige ist seine Frau Hilde, die ihn zuverlässigen
Zeugenaussagen zufolge noch wenige Stunden vor dem geschätzten
Todeszeitpunkt aufgesucht und laut mit ihm gestritten hatte. Die
offizielle Anklage vor dem bekanntermaßen im Sinne der
nationalsozialistischen Ideologie voreingenommenen Volksgerichtshof
lautet nicht nur auf Mord, sondern auch auf Wehrkraftzersetzung,
beide Vorwürfe für sich allein sichere Todesurteile.
Nazis unter sich/ |
Natürlich nimmt Oppermann
unverzüglich private Ermittlungen auf, wohl wissend, dass ihn dies
in unmittelbare Gefahr bringt, weil auch er selbst zum fraglichen
Zeitpunkt am Tatort war. Doch der verzweifelte Versuch, seine
Wohltäterin rechtzeitig vor dem kurzfristig anberaumten
Prozessbeginn zu entlasten, ist bei weitem nicht seine einzige Sorge:
er erhält auch eine Einberufung zum „letzten Aufgebot“ des
sogenannten Volkssturms, was ihn erneut in erhebliche persönliche
Gefahr bringt, als Jude enttarnt und in den Tod geschickt zu werden.
„Um es klarzumachen:
Wenn ich den Schießbefehl gebe, dann tut ihr nur so und sagt
'Peng!'. Das reicht. Wir sind nicht hier, um Patronen zu verplempern.
Später wird jeder von euch fünf Kugeln bekommen, um das Vaterland
zu verteidigen. Es ist eure Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder
abgegebene Schuss ein Treffer ist. Jede einzelne Patrone zählt! Und
Sie...“ Niklisch zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Oppenheimer
und starrte ihn hasserfüllt an. „Ich werde persönlich dafür
sorgen, dass Sie nur vier Patronen bekommen! Das haben Sie dann
davon. Und kommen Sie ja nicht heulend angerannt, wenn Sie einer
Horde Russen gegenüberstehen! Ab in die Reihe!“ Zerknirscht trat
Oppenheimer in die Reihe zurück. Diese Veranstaltung war noch
absurder, als er es ohnehin erwartet hatte. Er wusste nicht, ob er
lachen oder weinen sollte.
Auch in seinem zweiten
Oppenheimer-Roman gelingt dem Autor eine erschreckend unmittelbare
literarische Vergegenwärtigung der bedrückenden Atmosphäre eines
Lebens im kontinuierlichen Ausnahmezustand. Im
nationalsozialistischen Berlin des Winters 1945 kann nicht nur jeder
falsche Schritt und jeder unbedachte Aufenthalt am falschen Ort,
sondern sogar jedes unüberlegte Wort das sichere Todesurteil
bedeuten. Noch häufiger als im ersten Band wird Oppenheimer dabei im
Lauf seiner verzweifelten Ermittlungsbemühungen von den aufs
Äußerste intensivierten, schon längst nicht mehr nur auf nachts
beschränkten Bombenangriffen der Alliierten behindert. Es ist ein
großartiger, metaphorisch kaum zu übertreffender Einfall, wie sich
der Protagonist ebenso wie die von ihm beschatteten Verdächtigen
immer wieder unvermittelt einen sicheren Unterschlupf in einem
Kellerraum oder einem öffentlichen Gemeinschaftsbunker suchen
müssen, um das Bombeninferno wohlbehalten zu überstehen. Die
Spannung des Romans wird dadurch noch deutlich gesteigert – von
genialer Absurdität ist die finale Verfolgungsszene, in der
Ermittler und Zielperson einträchtig im Bunker sitzen und auf das
Entwarnungssignal warten.
Harald Gilbers/Foto: Ronald Hansch |
Als schwer greifbarer
Strippenzieher im Hintergrund erweist sich schließlich der
skrupellos-verblendete Guru einer durch und durch von rassistischen
Überlegenheits- und mystizistischen Erlösungsgedanken
durchdrungenen völkischen Sekte, deren ebenso weltfremde wie
lebensfeindliche Ideologie sich der Autor gar nicht erst ausdenken
musste, sondern sich aus authentischen Vorbildern, wie sie auch
Elisabeth Hamann in ihrem Buch „Hitlers Wien“ ausführlich
beschreibt, frei zusammenstellen konnte, ohne sie im Sinne einer
stärkeren Wirkung noch weiter ausschmücken zu müssen. Den
unvoreingenommenen Blick des nachhaltig irritierten Lesers gezielt
auf den inneren Zusammenhang zwischen sektiererischen
Erlösungsgedanken und dem verhängnisvollen Weg in einen
totalitaristischen Staat zu richten, ist gerade auch angesichts der
Herausforderungen unserer Zeit vielleicht der größte Verdienst des
spannenden Kriminalromans. Denn im Gegensatz zu den unmittelbar
betroffenen Protagonisten des Buches befinden wir uns als
„unbeteiligte“ Leser in der bequemen Lage, die beschriebenen
Ereignisse aus einer Perspektive zu betrachten, die wir uns
vielleicht generell zu eigen machen sollten, da sie allein uns
wirksam befähigt, Erlebtes und Beobachtetes rational und
unvoreingenommen, gleichsam „neutral“ zu beurteilen. In diesem
Fall werden unser Schrecken und unsere Erschütterung dadurch
letztlich nur noch gesteigert. Einen derart nützlichen inneren
Prozess umfassenden Begreifens im Leser auszulösen, ist ohne Zweifel
eine große schriftstellerische Leistung. Das mit seinem
literarischen Debüt gegebene Versprechen vermag Harald Gilbers auf
diese Weise ohne Abstriche einzulösen.
„Odins Söhne“,
erschienen bei Knaur, 528 Seiten, € 9,99
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