Jerusalem

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Donnerstag, 26. November 2015

„Akzeptanz“ von Jeff VanderMeer

Es ist absolut kein Zufall, dass im furchtbesetzten finalen Showdown des dritten Bandes von Jeff VanderMeers fulminanter Southern-Reach-Trilogie ausgerechnet jener überrational-penible FBI-Stratege und unnahbare kommissarische Direktor der kafkaesken Southern-Reach-Geheimbehörde, der sich von seinen untergeordneten Mitarbeitern in blinder Hybris durchaus folgerichtig und dennoch in kaum zu übertreffender Fehleinschätzung „Control“ nennen lässt, den für den Leser wie für ihn selbst bis zuletzt ganz und gar undenkbaren, grenzüberschreitenden Sprung ins ungewisse Leuchten der mysteriösen außerirdischen Lebensform wagt, die sich im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre im militärischen Sperrgebiet „Area X“ ausgebreitet hat und offensichtlich die schöpferische, möglicherweise „göttliche“ Fähigkeit besitzt, das unterlegene irdische Leben nach Belieben zu reproduzieren und zu transformieren.



Der erste düster-spannende Band „Auslöschung“ hatte aus Sicht einer autistisch veranlagten Biologin, Teilnehmerin der angeblich zwölften Expedition nach Southern Reach, eine erste und scheinbar endgültig entmutigende Begegnung mit dem usurpatorischen Phänomen von Area X geschildert. Eine geheimnisvolle außerirdische Lebensform hatte in einem abgelegenen, zum Sperrgebiet erklärten Küstenabschnitt eine vollkommen neue invasive, zum Teil sogar monströse Fauna und Flora hervorgebracht, die sich allen menschlichen Versuchen, diese auch nur ansatzweise zu begreifen oder gar erfolgreich zu bekämpfen zu entziehen vermochte. In seiner kongenialen Beschreibung der mit außerirdischem Leben kontaminierten Area X und den erfolglosen menschlichen Versuchen, in eine seinen begrenzten Fähigkeiten entsprechende Beziehung dazu zu treten, sind Jeff VanderMeer in ihrer stringenten Prägnanz und Schönheit bisher selten erreichte Bilder von der dunkel-bedrohlichen Welt des Unbewussten gelungen, die ganz besonders den ersten, ausgesprochen dicht und spannend konstruierten Auftaktband „Auslöschung“ zu einem der größten literarischen Highlights der letzten Jahre machen, der in seiner unmittelbaren Relevanz und Themenfülle weit über die Grenzen der eng miteinander verwandten Genres Science-Fiction und Fantasy hinausweist.

Es hat wohl nie ein Ambiente gegeben, das in seiner Existenz so wenig auf die Seelen angewiesen ist, die sich gerade in ihr aufhalten.“ Ein Satz aus einem Text am College, an den Ghostbird sich erinnerte, und an den die Biologin hatte denken müssen, als sie auf dem unbebauten Grundstück stand und ein Kurzkopfgleitbeutler lautlos von einem Telefonmast zum nächsten geflogen war. Der Text hatte sich auf Stadtlandschaften bezogen, aber die Biologin hatte ihn auf die Natur übertragen, oder zumindest auf das, was man als Wildnis interpretieren konnte, obwohl die Menschen die Welt so umgestaltet hatten, dass nicht einmal Area X dazu in der Lage war, deren Zeichen und Symbole gänzlich auszulöschen. Invasive Arten von Büschen und Bäumen waren nur ein Aspekt davon; der andere war, wie allein die Andeutung eines von Menschen angelegten Pfades die Topografie eines Ortes veränderte. „Die einzige Lösung für die Umwelt ist das Vergessen, und Voraussetzung dafür ist unser Untergang.“ Diesen Satz hatte die Biologin aus ihrer Abschlussarbeit gestrichen, aber er hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt, und entfaltete auch jetzt noch in Ghostbird eine gewisse Kraft, obwohl sie ihn wie alle übernommenen Erinnerungen kritisch auf Distanz hielt. Angesichts der Erinnerung an tausend Augen, die sie anstarrten.

Der insgesamt komplexere zweite Teil der Reihe, „Autorität“, schilderte aus der nüchtern-wissenschaftlichen Sicht der streng geheimen militärischen Kontrollbehörde, insbesondere ihres überforderten kommissarischen Leiters, die zahlreichen erfolglosen bürokratischen Versuche der Regierungsorganisation, das bedrohliche Phänomen von Außen her zu begreifen und mit Hilfe der unterschiedlichsten wissenschaftlichen und philosophischen Denkmodelle mögliche Gegenmaßnahmen zu erarbeiten. Wir erfahren auch, dass es im Lauf der Jahre nicht nur zwölf Expeditionen gab, sondern nicht weniger als 38. Am Ende des zweiten Bandes beginnt sich das außerirdische Phänomen ohne jede Vorwarnung unkontrolliert bis über die bis dahin geltenden „natürlichen“ Grenzen seines Habitats und die zahlreichen vom Militär geschaffenen Schutzbarrieren auszubreiten, um sich zu einer umfassenden, möglicherweise globalen biologischen Bedrohung auszuwachsen. Im surreal-apokalyptischen Finale gelangt Control schließlich gemeinsam mit einer von der außerirdischen Lebensform geschaffenen „geklonten“ Version der Biologin zurück ins unmittelbare Kerngebiet der Area X – ein kaum auszuhaltender erzählerischer Cliffhanger, der gleich zu Beginn des Abschlussbandes „Akzeptanz“ direkt wieder aufgenommen wird.

Kõrvemaa Nature Park, Estland/Foto: Ireena

Die schriftstellerische Mammutaufgabe, die vielen verschiedenen Handlungsstränge, die ganze Fülle der handelnden Personen sowie die zahlreichen unterschiedlichen Themenstellungen im Rahmen einer ebenso fesselnden wie plausiblen und in sich stets stimmig bleibenden Handlung zusammenzuführen, löst der Autor mit bewundernswertem Geschick, indem er das Buch noch stärker als zuvor im ständigen Wechsel aus den unterschiedlichen Perspektiven seiner wesentlichen Protagonisten (wie dem Leuchtturmwärter, der Direktorin, ihrer Stellvertreterin,  der Biologin und ihrem Klon sowie Control) erzählen lässt, die zum Teil in unterschiedlichen, sich zum Teil jedoch berührenden oder gegenseitig überlagernden Zeitebenen agieren. So erfahren wir aus der jeweiligen Innensicht der verschiedenen Ich-Erzähler, wie sich die außerirdische Lebensform in Area X ursprünglich nur allmählich in der Landschaft anreicherte, durch eine Unachtsamkeit einer skurrilen parapsychologischen Sondereinheit des Geheimdienstes leichtfertig freigesetzt wurde und sich dann zunehmend unkontrollierbar ausbreitete.

Die Sonne war eine flüsternde Scheibe in seinem Rücken. Es war wärmer geworden, aber es ging eine leichte Brise, die die Wedel der kleinen Palmen rasseln ließ. Irgendwo hinter ihm war das Mädchen und sang ein albernes Lied; es war schneller von dem Felsen heruntergekommen, als er erwartet hatte. In diesem Augenblick existierte für ihn nichts anderes als die Pflanze und diess Glitzern, das er nicht genauer bestimmen konnte. Er trug immer noch die Handschuhe und streckte die Hand nach dem Glitzerding aus, strich über die Blätter. War das eine kleine Lichtspirale, die sich bewegte? Es erinnerte ihn an den Blick in ein Kaleidoskop, mal abgesehen von diesem intensiven Weiß. Aber was auch immer da waberte und glitzerte, es wich seinem Zugriff aus, und er schien kurz davor, ohnmächtig zu werden. Erschrocken zuckte er zurück. Aber es war zu spät. Er spürte, wie eine Art Splitter in seinen Daumen eindrang. Es tat nicht weh, nur ein kurzer Druck und dann Taubheit, aber trotzdem sprang er überrascht auf, jaulte und wedelte mit der Hand hin und her. Fieberhaft riss er sich den Handschuh herunter und untersuchte seinen Daumen. Wohl wissend, dass Gloria ihn beobachtete, unsicher, was sie davon halten sollte. Jetzt glitzerte nichts mehr auf dem Boden vor ihm. Kein Licht am Fuß der Pflanze. Kein schmerzender Daumen.

Wir erfahren auch, dass die Zeit innerhalb des kontaminierten Sperrgebiets viel schneller fortschreitet: während nur weniger Tage in der Außenwelt sind in Area X bereits mehr als zwei Jahre vergangen. Und trotz des unbegreiflichen Schreckens der Transformation der realen Biologin in ein gargantueskes vieläugiges Meereswesen, der uns Jeff VanderMeer innerhalb des Verlaufs der Handlung aussetzt, beginnen wir allmählich eine mehr als weitläufige Ahnung zu entwickeln, dass die außerirdische Lebensform möglicherweise weniger bösartig ist als wir bisher gemeinsam mit den unmittelbar betroffenen Protagonisten angenommen haben oder dass sie zumindest kein Bewusstsein für die Natur ihres Handelns im Sinne menschlicher moralischer Maßstäbe zu besitzen scheint: eine der rührendsten Szenen des Buches ist die geradezu symbiotische Beziehung zwischen der Ur-Biologin (vor ihrer Verwandlung) und jenem Wesen, das sie aus gutem Grund für die abgeschlossene Mutation ihres als Teilnehmer einer früheren Expedition verschollenen Mannes hält, einem ungewöhnlich zutraulichen Uhu, der fürsorglich für sie Kaninchen jagt und dem auch sie selber, als er allmählich älter wird, immer wieder die eine oder andere Maus hinlegt.

"Seeungeheuer"/Foto: Jerzy Strzelecki

Die konkrete physische Form indessen, die die Biologin nach Abschluss ihres Verwandlungsprozesses angenommen hat, ist ihrer ursprünglichen Wesensart durchaus nicht unähnlich, und es gelingt dem Autor durch seine mitfühlende, fast liebevolle bildmächtige Beschreibung fast mühelos, ihren durchaus monströsen Zustand als keineswegs willkürlich darzustellen, sondern als möglicherweise folgerichtige (Rück-)Besinnung auf ihren innersten individuellen Kern: sie ist nur noch eine gewaltige, wachsame, vieläugige Präsenz. Sie scheint im absoluten Einklang mit ihrem Lebensraum zu existieren, und es gibt keinerlei moralische oder ästhetische Wertung ihres Zustandes. Ähnlich wie der geklonten Ripley in „Alien – Die Wiedergeburt“ gelingt es ihrer übermenschlich perfektionierten Doppelgängerin schließlich, durch eine von ihr selbst aktiv herbeigeführte Begegnung mit der furchterregenden „Crawler“ genannten Schlüssel-Kreatur aus dem ersten Band die schöpferische Kraft von Area X zu bannen. Doch erst durch Controls spontanen Sprung ins ungewisse gleißende Licht des Fremden, die einer fundamentalen Selbstaufgabe gleichkommt, zieht sich die fremde Lebensform gänzlich ins namenlose, von uns weder verstandesmäßig noch mit unseren Sinnen fassbare Unsichtbare, möglicherweise nur in uns selbst schlummernde Nichts und Alles zurück.

Vielleicht war die letzte Antwort der Biologin die einzige Antwort, die zählte, und ihr ganzer Brief eine Beruhigungspille für Erwartungen, für Reaktionen, die fest in den Menschen verankert waren. Ein letzter Aufschub, bevor sie selbst so weit war, der richtigen Antwort eine konkrete Form zu geben? Vielleicht hatten sich so viele Tagebücher oben im Leuchtturm angesammelt, weil mit der Zeit den meisten Verfassern die Nutzlosigkeit von Sprache aufging. Nicht nur in Area X, sondern im Angesicht der Wahrhaftigkeit des gelebten Augenblicks, des Moments einer Berührung, einer Vereinigung, die mit Worten zu beschreiben eine so schmerzhafte Enttäuschung war, so unzulänglich, sowohl das Endliche als auch das Unendliche auszudrücken. Auch wenn sogar der Crawler seine schreckliche Botschaft in Worte kleidete.

Es wäre sicherlich zu einfach zu behaupten, dass VanderMeers faszinierende Trilogie von den unermesslich großen und gleichzeitig unwägbaren Möglichkeiten handelt, die sich für das menschliche Individuum durch ein unmittelbar und mit allen Sinnen bewusst gelebtes Leben ergeben können. Der Begriff aktiver Akzeptanz ist jedoch nicht zufällig das übergeordnete Thema des Buches, das uns VanderMeer als möglichen Ausweg aus den verschiedenartigen Fragestellungen der gesamten Trilogie anbietet: Nur die bewusste Annahme dessen, was ist, kann uns mit den kaum antizipierbaren Herausforderungen unseres Lebens und seinen zahlreichen zum Teil grausamen Widersprüchen versöhnen. Jeff VanderMeers Protagonisten lernen erst unter schmerzhafter Überwindung ihrer größten individuellen und kollektiven Ängste, dass Autorität (letztlich ein selbstgewählter Irrweg in den Totalitarismus) kein adäquates Heilmittel gegen unsere tief verwurzelte Furcht sein kann. Akzeptanz des schwer Akzeptierbaren muss nicht zwangsläufig Auslöschung bedeuten, sondern kann als persönliche Grenzüberschreitung ein ebenso sinnvoller wie praktikabler Weg zu kollektiver Heilung und Selbstheilung sein. So muss auch das furchtbesetzte Unbewusste nicht mehr ausgeklammert werden.


Jeff VanderMeer

Unablässig unsere eigenen Vorurteile und festgefügten Denkansätze zu überwinden ist womöglich die größte und wichtigste kulturelle Aufgabe, der wir uns tagtäglich im Beruf wie im Privaten, in der Natur wie in der Kunst immer wieder aufs Neue stellen müssen. Der Dadaist, Psychoanalytiker und Schriftsteller Richard Huelsenbeck (1892-1974) erkannte in einem späten, sehr pointierten Text eine sinnfällige Analogie der Löcher in Schuhen wie in menschlichen Ideen. Diese wie jene seien bei ständigem unbewussten Gebrauch gleichermaßen anfällig dafür, früher oder später Löcher zu bekommen und somit unbrauchbar zu werden. Der konventionelle Mensch lasse es einfach darauf ankommen und benutze sie, bis sie auseinanderfallen und er sie nur noch wegwerfen könne. Der revolutionäre Mensch indessen sehe sich rechtzeitig nach neuen Schuhen respektive neuen tragfähigen Ideen um. Jeff VanderMeer bietet uns nun noch eine dritte Alternative: sich nämlich gänzlich ohne Schuhe oder Ideen auf das Leben einzulassen – mit all seinen positiven Chancen und auch allen unerträglichen Schicksalsfällen zum Trotz. Die Southern-Reach-Trilogie ist somit eine geradezu bewusstseinserweiternde Grenzüberschreitung, in der sich Science Fiction nicht nur als eines der dankbarsten und anspruchsvollsten aktuellen Genres erweist, sondern auch als das ideale Medium, um relevante Themen und Fragestellungen unserer Zeit so zusammenzuführen, dass sie auch für ein breites Publikum annehmbar und nachvollziehbar scheinen. Die schriftstellerische Leistung Jeff VanderMeers kann man kaum hoch genug bewerten.

„Southern Reach Trilogie, Band III: Akzeptanz“, aus dem Amerikanischen von Michael Kellner, erschienen bei Antje Kunstmann, 336 Seiten, € 18,95

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