Es ist absolut kein
Zufall, dass im furchtbesetzten finalen Showdown des dritten Bandes
von Jeff VanderMeers fulminanter Southern-Reach-Trilogie ausgerechnet
jener überrational-penible FBI-Stratege und unnahbare kommissarische
Direktor der kafkaesken Southern-Reach-Geheimbehörde, der sich von
seinen untergeordneten Mitarbeitern in blinder Hybris durchaus
folgerichtig und dennoch in kaum zu übertreffender Fehleinschätzung
„Control“ nennen lässt, den für den Leser wie für ihn selbst
bis zuletzt ganz und gar undenkbaren, grenzüberschreitenden Sprung
ins ungewisse Leuchten der mysteriösen außerirdischen Lebensform
wagt, die sich im Verlauf der vergangenen zwanzig Jahre im
militärischen Sperrgebiet „Area X“ ausgebreitet hat und
offensichtlich die schöpferische, möglicherweise „göttliche“
Fähigkeit besitzt, das unterlegene irdische Leben nach Belieben zu
reproduzieren und zu transformieren.
Der erste düster-spannende
Band „Auslöschung“ hatte aus Sicht einer autistisch veranlagten
Biologin, Teilnehmerin der angeblich zwölften Expedition nach
Southern Reach, eine erste und scheinbar endgültig entmutigende
Begegnung mit dem usurpatorischen Phänomen von Area X geschildert.
Eine geheimnisvolle außerirdische Lebensform hatte in einem
abgelegenen, zum Sperrgebiet erklärten Küstenabschnitt eine
vollkommen neue invasive, zum Teil sogar monströse Fauna und Flora
hervorgebracht, die sich allen menschlichen Versuchen, diese auch nur
ansatzweise zu begreifen oder gar erfolgreich zu bekämpfen zu
entziehen vermochte. In seiner kongenialen Beschreibung der mit
außerirdischem Leben kontaminierten Area X und den erfolglosen
menschlichen Versuchen, in eine seinen begrenzten Fähigkeiten
entsprechende Beziehung dazu zu treten, sind Jeff VanderMeer in ihrer
stringenten Prägnanz und Schönheit bisher selten erreichte Bilder
von der dunkel-bedrohlichen Welt des Unbewussten gelungen, die ganz
besonders den ersten, ausgesprochen dicht und spannend konstruierten
Auftaktband „Auslöschung“ zu einem der größten literarischen
Highlights der letzten Jahre machen, der in seiner unmittelbaren
Relevanz und Themenfülle weit über die Grenzen der eng miteinander
verwandten Genres Science-Fiction und Fantasy hinausweist.
„Es
hat wohl nie ein Ambiente gegeben, das in seiner Existenz so wenig
auf die Seelen angewiesen ist, die sich gerade in ihr aufhalten.“
Ein Satz aus einem Text am College, an den Ghostbird sich erinnerte,
und an den die Biologin hatte denken müssen, als sie auf dem
unbebauten Grundstück stand und ein Kurzkopfgleitbeutler lautlos von
einem Telefonmast zum nächsten geflogen war. Der Text hatte sich auf
Stadtlandschaften bezogen, aber die Biologin hatte ihn auf die Natur
übertragen, oder zumindest auf das, was man als Wildnis
interpretieren konnte, obwohl die Menschen die Welt so umgestaltet
hatten, dass nicht einmal Area X dazu in der Lage war, deren Zeichen
und Symbole gänzlich auszulöschen. Invasive Arten von Büschen und
Bäumen waren nur ein Aspekt davon; der andere war, wie allein die
Andeutung eines von Menschen angelegten Pfades die Topografie eines
Ortes veränderte. „Die einzige Lösung für die Umwelt ist das
Vergessen, und Voraussetzung dafür ist unser Untergang.“ Diesen
Satz hatte die Biologin aus ihrer Abschlussarbeit gestrichen, aber er
hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt, und entfaltete auch jetzt
noch in Ghostbird eine gewisse Kraft, obwohl sie ihn wie alle
übernommenen Erinnerungen kritisch auf Distanz hielt. Angesichts der
Erinnerung an tausend Augen, die sie anstarrten.
Der insgesamt komplexere
zweite Teil der Reihe, „Autorität“, schilderte aus der
nüchtern-wissenschaftlichen Sicht der streng geheimen militärischen
Kontrollbehörde, insbesondere ihres überforderten kommissarischen
Leiters, die zahlreichen erfolglosen bürokratischen Versuche der
Regierungsorganisation, das bedrohliche Phänomen von Außen her zu
begreifen und mit Hilfe der unterschiedlichsten wissenschaftlichen
und philosophischen Denkmodelle mögliche Gegenmaßnahmen zu
erarbeiten. Wir erfahren auch, dass es im Lauf der Jahre nicht nur
zwölf Expeditionen gab, sondern nicht weniger als 38. Am Ende des
zweiten Bandes beginnt sich das außerirdische Phänomen ohne jede
Vorwarnung unkontrolliert bis über die bis dahin geltenden
„natürlichen“ Grenzen seines Habitats und die zahlreichen vom
Militär geschaffenen Schutzbarrieren auszubreiten, um sich zu einer
umfassenden, möglicherweise globalen biologischen Bedrohung
auszuwachsen. Im surreal-apokalyptischen Finale gelangt Control
schließlich gemeinsam mit einer von der außerirdischen Lebensform
geschaffenen „geklonten“ Version der Biologin zurück ins
unmittelbare Kerngebiet der Area X – ein kaum auszuhaltender
erzählerischer Cliffhanger, der gleich zu Beginn des Abschlussbandes
„Akzeptanz“ direkt wieder aufgenommen wird.
Kõrvemaa Nature Park, Estland/Foto: Ireena |
Die schriftstellerische
Mammutaufgabe, die vielen verschiedenen Handlungsstränge, die ganze
Fülle der handelnden Personen sowie die zahlreichen
unterschiedlichen Themenstellungen im Rahmen einer ebenso fesselnden
wie plausiblen und in sich stets stimmig bleibenden Handlung
zusammenzuführen, löst der Autor mit bewundernswertem Geschick,
indem er das Buch noch stärker als zuvor im ständigen Wechsel aus
den unterschiedlichen Perspektiven seiner wesentlichen Protagonisten
(wie dem Leuchtturmwärter, der Direktorin, ihrer Stellvertreterin,
der Biologin und ihrem Klon sowie Control) erzählen lässt, die zum
Teil in unterschiedlichen, sich zum Teil jedoch berührenden oder
gegenseitig überlagernden Zeitebenen agieren. So erfahren wir aus
der jeweiligen Innensicht der verschiedenen Ich-Erzähler, wie sich
die außerirdische Lebensform in Area X ursprünglich nur allmählich
in der Landschaft anreicherte, durch eine Unachtsamkeit einer
skurrilen parapsychologischen Sondereinheit des Geheimdienstes
leichtfertig freigesetzt wurde und sich dann zunehmend
unkontrollierbar ausbreitete.
Die Sonne war eine
flüsternde Scheibe in seinem Rücken. Es war wärmer geworden, aber
es ging eine leichte Brise, die die Wedel der kleinen Palmen rasseln
ließ. Irgendwo hinter ihm war das Mädchen und sang ein albernes
Lied; es war schneller von dem Felsen heruntergekommen, als er
erwartet hatte. In diesem Augenblick existierte für ihn nichts
anderes als die Pflanze und diess Glitzern, das er nicht genauer
bestimmen konnte. Er trug immer noch die Handschuhe und streckte die
Hand nach dem Glitzerding aus, strich über die Blätter. War das
eine kleine Lichtspirale, die sich bewegte? Es erinnerte ihn an den
Blick in ein Kaleidoskop, mal abgesehen von diesem intensiven Weiß.
Aber was auch immer da waberte und glitzerte, es wich seinem Zugriff
aus, und er schien kurz davor, ohnmächtig zu werden. Erschrocken
zuckte er zurück. Aber es war zu spät. Er spürte, wie eine Art
Splitter in seinen Daumen eindrang. Es tat nicht weh, nur ein kurzer
Druck und dann Taubheit, aber trotzdem sprang er überrascht auf,
jaulte und wedelte mit der Hand hin und her. Fieberhaft riss er sich
den Handschuh herunter und untersuchte seinen Daumen. Wohl wissend,
dass Gloria ihn beobachtete, unsicher, was sie davon halten sollte.
Jetzt glitzerte nichts mehr auf dem Boden vor ihm. Kein Licht am Fuß
der Pflanze. Kein schmerzender Daumen.
Wir erfahren auch, dass
die Zeit innerhalb des kontaminierten Sperrgebiets viel schneller
fortschreitet: während nur weniger Tage in der Außenwelt sind in
Area X bereits mehr als zwei Jahre vergangen. Und trotz des
unbegreiflichen Schreckens der Transformation der realen Biologin in
ein gargantueskes vieläugiges Meereswesen, der uns Jeff VanderMeer
innerhalb des Verlaufs der Handlung aussetzt, beginnen wir allmählich
eine mehr als weitläufige Ahnung zu entwickeln, dass die
außerirdische Lebensform möglicherweise weniger bösartig ist als
wir bisher gemeinsam mit den unmittelbar betroffenen Protagonisten
angenommen haben oder dass sie zumindest kein Bewusstsein für die
Natur ihres Handelns im Sinne menschlicher moralischer Maßstäbe zu
besitzen scheint: eine der rührendsten Szenen des Buches ist die
geradezu symbiotische Beziehung zwischen der Ur-Biologin (vor ihrer
Verwandlung) und jenem Wesen, das sie aus gutem Grund für die
abgeschlossene Mutation ihres als Teilnehmer einer früheren
Expedition verschollenen Mannes hält, einem ungewöhnlich
zutraulichen Uhu, der fürsorglich für sie Kaninchen jagt und dem
auch sie selber, als er allmählich älter wird, immer wieder die
eine oder andere Maus hinlegt.
"Seeungeheuer"/Foto: Jerzy Strzelecki |
Die konkrete physische
Form indessen, die die Biologin nach Abschluss ihres
Verwandlungsprozesses angenommen hat, ist ihrer ursprünglichen
Wesensart durchaus nicht unähnlich, und es gelingt dem Autor durch
seine mitfühlende, fast liebevolle bildmächtige Beschreibung fast
mühelos, ihren durchaus monströsen Zustand als keineswegs
willkürlich darzustellen, sondern als möglicherweise folgerichtige
(Rück-)Besinnung auf ihren innersten individuellen Kern: sie ist nur
noch eine gewaltige, wachsame, vieläugige Präsenz. Sie scheint im
absoluten Einklang mit ihrem Lebensraum zu existieren, und es gibt
keinerlei moralische oder ästhetische Wertung ihres Zustandes.
Ähnlich wie der geklonten Ripley in „Alien – Die Wiedergeburt“
gelingt es ihrer übermenschlich perfektionierten Doppelgängerin
schließlich, durch eine von ihr selbst aktiv herbeigeführte
Begegnung mit der furchterregenden „Crawler“ genannten
Schlüssel-Kreatur aus dem ersten Band die schöpferische Kraft von
Area X zu bannen. Doch erst durch Controls spontanen Sprung ins
ungewisse gleißende Licht des Fremden, die einer fundamentalen
Selbstaufgabe gleichkommt, zieht sich die fremde Lebensform gänzlich
ins namenlose, von uns weder verstandesmäßig noch mit unseren
Sinnen fassbare Unsichtbare, möglicherweise nur in uns selbst
schlummernde Nichts und Alles zurück.
Vielleicht war die
letzte Antwort der Biologin die einzige Antwort, die zählte, und ihr
ganzer Brief eine Beruhigungspille für Erwartungen, für Reaktionen,
die fest in den Menschen verankert waren. Ein letzter Aufschub, bevor
sie selbst so weit war, der richtigen Antwort eine konkrete Form zu
geben? Vielleicht hatten sich so viele Tagebücher oben im Leuchtturm
angesammelt, weil mit der Zeit den meisten Verfassern die
Nutzlosigkeit von Sprache aufging. Nicht nur in Area X, sondern im
Angesicht der Wahrhaftigkeit des gelebten Augenblicks, des Moments
einer Berührung, einer Vereinigung, die mit Worten zu beschreiben
eine so schmerzhafte Enttäuschung war, so unzulänglich, sowohl das
Endliche als auch das Unendliche auszudrücken. Auch wenn sogar der
Crawler seine schreckliche Botschaft in Worte kleidete.
Es wäre sicherlich zu
einfach zu behaupten, dass VanderMeers faszinierende Trilogie von den
unermesslich großen und gleichzeitig unwägbaren Möglichkeiten
handelt, die sich für das menschliche Individuum durch ein
unmittelbar und mit allen Sinnen bewusst gelebtes Leben ergeben
können. Der Begriff aktiver Akzeptanz ist jedoch nicht zufällig das
übergeordnete Thema des Buches, das uns VanderMeer als möglichen
Ausweg aus den verschiedenartigen Fragestellungen der gesamten
Trilogie anbietet: Nur die bewusste Annahme dessen, was ist, kann uns
mit den kaum antizipierbaren Herausforderungen unseres Lebens und
seinen zahlreichen zum Teil grausamen Widersprüchen versöhnen. Jeff
VanderMeers Protagonisten lernen erst unter schmerzhafter Überwindung
ihrer größten individuellen und kollektiven Ängste, dass Autorität
(letztlich ein selbstgewählter Irrweg in den Totalitarismus) kein
adäquates Heilmittel gegen unsere tief verwurzelte Furcht sein kann.
Akzeptanz des schwer Akzeptierbaren muss nicht zwangsläufig
Auslöschung bedeuten, sondern kann als persönliche
Grenzüberschreitung ein ebenso sinnvoller wie praktikabler Weg zu
kollektiver Heilung und Selbstheilung sein. So muss auch das
furchtbesetzte Unbewusste nicht mehr ausgeklammert werden.
Jeff VanderMeer |
Unablässig unsere eigenen
Vorurteile und festgefügten Denkansätze zu überwinden ist
womöglich die größte und wichtigste kulturelle Aufgabe, der wir
uns tagtäglich im Beruf wie im Privaten, in der Natur wie in der
Kunst immer wieder aufs Neue stellen müssen. Der Dadaist,
Psychoanalytiker und Schriftsteller Richard Huelsenbeck (1892-1974)
erkannte in einem späten, sehr pointierten Text eine sinnfällige
Analogie der Löcher in Schuhen wie in menschlichen Ideen. Diese wie
jene seien bei ständigem unbewussten Gebrauch gleichermaßen
anfällig dafür, früher oder später Löcher zu bekommen und somit
unbrauchbar zu werden. Der konventionelle Mensch lasse es einfach
darauf ankommen und benutze sie, bis sie auseinanderfallen und er sie
nur noch wegwerfen könne. Der revolutionäre Mensch indessen sehe
sich rechtzeitig nach neuen Schuhen respektive neuen tragfähigen
Ideen um. Jeff VanderMeer bietet uns nun noch eine dritte
Alternative: sich nämlich gänzlich ohne Schuhe oder Ideen auf das
Leben einzulassen – mit all seinen positiven Chancen und auch allen
unerträglichen Schicksalsfällen zum Trotz. Die
Southern-Reach-Trilogie ist somit eine geradezu
bewusstseinserweiternde Grenzüberschreitung, in der sich Science
Fiction nicht nur als eines der dankbarsten und anspruchsvollsten
aktuellen Genres erweist, sondern auch als das ideale Medium, um
relevante Themen und Fragestellungen unserer Zeit so
zusammenzuführen, dass sie auch für ein breites Publikum annehmbar
und nachvollziehbar scheinen. Die schriftstellerische Leistung Jeff
VanderMeers kann man kaum hoch genug bewerten.
„Southern Reach Trilogie, Band III: Akzeptanz“, aus dem Amerikanischen von Michael
Kellner, erschienen bei Antje Kunstmann, 336 Seiten, € 18,95
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