Es gibt derzeit
international kaum einen originelleren Krimiautoren als den Japaner
Keigo Higashino, dem es mit jedem einzelnen seiner Romane immer
wieder aufs Neue gelingt, den eng gesetzten Grenzen des klassischen
Kriminalromans scheinbar mühelos ganz neue Seiten und überraschende
Perspektiven hinzuzufügen, weil er sich anders als viele seiner
erfolgreichen Kollegen offensichtlich nicht damit zufrieden gibt,
lediglich die immer wieder gleiche Geschichte unter leicht
veränderten Vorzeichen, mit neuem Personal oder anderen Mitteln neu
zu erzählen, sondern den bemerkenswerten Ehrgeiz besitzt, den Rahmen
des erzählerisch Möglichen für sich ständig spielerisch zu
erweitern. Zu Rühmen sind besonders sein beeindruckendes
psychologisches Gespür für die „ganz normalen“ Abgründe der
fragilen menschlichen Seele, die er in seinen außergewöhnlichen
Plots stets mit außergewöhnlicher Empathie virtuos auslotet. Die
beiden bisher erschienenen weithin gelobten Bände um den
genialistischen Physik-Professor Yukawa, der mit seinem
außergewöhnlichen Sinn für Logik im Auftrag seines ratlosen
Freundes Kusanagi von der Tokioter Kriminalpolizei in
Sherlock-Holmes-Manier die kompliziertesten Fälle löst, gehören
zum absolut besten, was das Genre aktuell zu bieten hat. Besonders
reizvoll dabei ist der ebenso kluge wie schöne Kunstgriff des
Autors, den Leser dabei ganz gezielt auch emotional für den
jeweiligen Mörder und seine im Grunde edlen Motive einzunehmen und
ihn auf diese Weise bis zum überraschenden Schluss von ganzem Herzen
mitleiden und hoffen zu lassen, dass der „unschuldig“ schuldig
Gewordene vom sanften Geistesriesen Yukawa nicht enttarnt wird. Und
letzterem geht es mitunter genau so.
Mit dem in etwas
bescheidenerer Ausstattung lediglich als Softback erschienenen Band
„Böse Absichten“ startet der Klett-Cotta-Verlag nun eine zweite
auch international erfolgreiche Krimireihe des japanischen
Bestsellerautors um den wortkargen Polizeikommissar und ehemaligen
Gymnasiallehrer Kyochiro Kaga, die kaum weniger vielversprechend
beginnt als die viel gelobten Yukawa-Bände, und die folgerichtig
schon im nächsten Frühjahr mit dem bereits angekündigten Titel
„Ich habe ihn getötet“ fortgesetzt werden soll. Dabei fällt es
ausgesprochen schwer, viel schwerer als bei allen anderen bisher auf
Deutsch erschienenen Romanen von Keiga Higashino, den Inhalt seines
Buches einigermaßen vollständig zusammenzufassen, ohne dem Leser
dabei schon vorab die Spannung an der geistreich-kurzweiligen Lektüre
zu nehmen. Im Auftaktkapitel des Buches beschreibt der mäßig
erfolgreiche Kinderbuchautor Osamu Nonoguchi im Stile einer
persönlichen Chronik, wie er selbst gemeinsam mit der jungen Ehefrau
seines ehemaligen Schulkameraden und langjährigen Freundes Kunihiko
Nidaka am Vorabend des lange geplanten Aufbruchs des gefeierten
Literaten und Bestsellerautors zu einem mehrmonatigen
Auslandsaufenthalt nach Kanada dessen Leichnam in der bis auf das
Arbeitszimmer bereits leergeräumten gemeinsamen Wohnung des Ehepaars
aufgefunden hat. Der Erfolgsschriftsteller ist offensichtlich mit
einem stumpfen Gegenstand von einem möglicherweise durch das offene
Fenster eingedrungenen Unbekannten erschlagen worden.
Es geschah am 16.
April, es war ein Dienstag.
Um halb vier Uhr
nachmittags verließ ich das Haus und machte mich auf den Weg zu
Kunihiko Hidaka, der nur eine Haltestelle mit der Bahn entfernt
wohnte. Von dort muss man zwar noch kurz mit dem Bus fahren, dennoch
braucht man, wenn man den Fußweg hinzuzählt, alles in allem nur
etwa zwanzig Minuten.
Für gewöhnlich
besuchte ich Hidaka auch häufig ohne besonderen Grund, aber an
diesem Tag hatte ich einen. Es war die letzte Gelegenheit, ihn zu
sehen, bevor dies für längere Zeit nicht mehr möglich sein würde.
Nonoguchis vollständige,
überzeugend klingende Beschreibung der tragischen Ereignisse legt
ganz nebenbei nahe, dass sein erfolgsverwöhnter Freund
möglicherweise ein der Öffentlichkeit unbekanntes dunkles,
gewalttätiges Geheimnis aus Schultagen besessen habe. Es habe
seinerzeit nicht nur den beklagenswerten Fall eines gleichaltrigen
Jungen in ihrer gemeinsamen Klasse gegeben, der von einer
Schülerclique über Monate hinweg aufs grausamste gequält und
misshandelt wurde, sondern auch einen nie ganz aufgeklärten Vorfall
von Beihilfe zur Vergewaltigung einer Mitschülerin. Von diesen
beiden Ereignisse handele aus erstaunlich gut unterrichteter
Perspektive auch einer von Nidakas frühen Bestsellern. Außerdem
habe ihm der Schriftsteller zu seinem nicht geringen Erschrecken am
Tag vor seinem Tode mit unverhohlenem Amüsement gestanden, den
aufdringlichen kleinen Hund seiner resoluten Nachbarin vergiftet zu
haben. Weitere charakterliche Mängel seines Freundes werden von
Nonoguchi in durchaus augenfälliger Regelmäßigkeit immer wieder
wie beiläufig erwähnt, so dass sich im Leser unwillkürlich ein
Bild des Ermordeten als das eines skrupellosen erfolgssüchtigen
Egomanen verfestigt, um den es möglicherweise – so der
unausgesprochene Subtext – nicht weiter schade sei. Umso
überraschter müssen wir am Ende des ersten Buchteils einen
radikalen Bruch in der Erzählung des Kinderbuchautors hinnehmen, als
dieser von seiner auch für ihn selbst überraschenden Verhaftung als
Haupttatverdächtiger berichtet, womit seine Aufzeichnungen
abbrechen.
Im zweiten Buchteil
berichtet Kommissar Kaga persönlich vom aktuellen Stand seiner
polizeilichen Ermittlungen, und nach Prüfung der von ihm ausführlich
dargelegten objektiven Fakten müssen wir nun irritiert konstatieren,
dass die Festnahme Nonoguchis absolut unvermeidlich war. In dem ein
paar Jahre zurückliegenden, offensichtlich fingierten tödlichen
Unfall von Nidakas Ex-Frau, die im Geheimen mit dem Verdächtigen
liiert war, und einer möglicherweise mehr als zehn Jahre andauernden
Ausnutzung von dessen schriftstellerischer Kreativität durch den
Ermordeten (so existieren zahlreiche Originalmanuskripte von Nidakas
Werken in Nonoguchis Handschrift) liegen gleich zwei überzeugende
mögliche Tatmotive vor. Da Kommissar Kaga und Nonoguchi vor vielen
Jahren für kurze Zeit an derselben Schule unterrichtet haben, bevor
sie sich für andere Berufe entschieden, macht sich der akribische
arbeitende Polizist die Ermittlungen jedoch alles andere als leicht,
zumal er seinerzeit stets eine gewisse Sympathie für den
zurückhaltenden und bescheidenen Kollegen empfunden hatte. Schon
bald tauchen jedoch ohne großen Ermittlungsaufwand wie durch Zufall
mehrere scheinbar unwiderlegbare Beweise auf, die Nonoguchis Schuld
eindeutig zu manifestieren scheinen, zu eindeutig, wie Kommissar Kaga
meint. Dass sein Ex-Kollege die Tat begangen hat, steht für ihn
außer Frage, mit den von ihm angebotenen Motiven will er sich jedoch
nicht zufrieden geben, denn alles, was vertrauenswürdige Zeugen über
den ermordeten Kusanagi aussagen, dessen guter künstlerischer Ruf
durch die von der Presse genüsslich verbreiteten Plagiatsvorwürfe
inzwischen vollkommen zerstört ist, lässt viele der bisherigen
Ermittlungsergebnisse zweifelhaft erscheinen.
„Warten Sie einen
Moment“, sagte ich. „Müssen wir das unbedingt in dieser Form
machen?“
„Wie meinen Sie das?“
„Es wird eine längere
Geschichte. Ich würde gern Einiges davon zuvor in meinem Kopf
ordnen. Es wäre mir unangenehm, wenn ich beim Erzählen nicht den
richtigen Ton treffe.“
„Sie bekommen das
Protokoll noch einmal zu lesen.“
„Ich weiß, aber es
liegt mir sehr viel daran. Wenn ich schon gestehe, dann möchte ich
es mit meinen eigenen Worten tun.“
Kommissar Kaga schwieg
einen Moment.
„Das heißt, Sie
wollen Ihr Geständnis selbst schreiben?“, fragte er dann.
„Wenn Sie erlauben.“
„Einverstanden. Wie
lange werden Sie brauchen?“
„Einen Tag, vermute
ich.“
Kommissar Kaga war
einen Blick auf seine Uhr. „Gut, dann komme ich morgen Abend
wieder“, sagte er und stand auf.
Im weiteren Verlauf des
Buches schickt uns der kluge Autor durch ein Wechselbad des Zweifels
– auch an uns selbst und unsere Erwartungen an einen Kriminalroman,
denn es gelingt Keigo Higashino scheinbar ganz mühelos, mit jedem
neuen Kapitel eine weitere überraschende Wendung herbeizuführen und
den Leser so ganz nebenbei zu einer umso aufmerksameren,
hochkonzentrierten Lektüre zu erziehen, wie er sie lange nicht
erlebt haben dürfte. Können wir unserer Wahrnehmung trauen? Wie
leicht lassen wir uns nicht nur als Leser, sondern vielleicht auch in
unserem privaten Alltag von so unterschiedlichen (und scheinbar
gegensätzlichen Motiven) wie Empathie oder rationalen Argumenten
täuschen? Durch ein weiteres schriftliches Geständnis über den
angeblichen Tathergang wirft der unheilbar an Krebs erkrankte
Nonoguchi aus der Untersuchungshaft heraus nur noch mehr Fragen auf,
so dass sich der besonnene Kommissar gezwungen sieht, auch gegen den
Willen seines Vorgesetzten noch tiefer in die Vergangenheit der
beiden Schriftsteller einzudringen. Kann am Ende auch ein scheinbar
belangloser, aus unbeteiligter Perspektive vollkommen irrational
scheinender Grund das überzeugendste Tatmotiv sein? Keigo Higashino
zeigt sich in seinem ersten Kommissar-Kaga-Roman auch formal noch
experimentierfreudiger als wir es aus seinen bisher auf deutsch
erschienenen Büchern gewohnt sind. Ganz nebenbei erfahren wir
dadurch noch unmittelbarer, was polizeiliche Ermittlungsarbeit
bedeutet, denn bevor uns der ermittelnde Kommissar am Ende seine
überraschende Schlussfolgerung präsentiert, dürfen wir eine ganze
Reihe wichtiger Zeugenaussagen ganz ungefiltert gleichsam wie aus der
Ermittlungsakte heraus studieren.
Keigo Higashino |
Anders als in den zu Recht
gelobten und auch im deutschen Sprachraum kommerziell erfolgreichen
Professor-Yukawa-Bänden, in denen unsere ganze Sympathie letztlich
den „unschuldigen“ Mördern gehört (sowie den Personen, die sie
durch ihre Tat schützen), dürfte in diesem ersten auf Deutsch
erschienenen Kaga-Roman wohl niemand ernsthaft Mitleid mit dem
kaltblütig und geradezu antisozial agierenden Täter empfinden. In
einem formal bestechenden, unkonventionell erzählten und stets
unterhaltsamen Psychokrimi um künstlerische Eitelkeit,
unversöhnlichen Neid und blinde Zerstörungswut setzt Keigo
Higashino seine sensibel-fundierte literarische Erkundungsreise in
die Psychopathologie von Mördern auf bestechende Art und Weise fort.
Die im Buch geschilderten Charaktere und sozialen Milieus sind vom
Autor gerade auch in ihrer Unterschiedlichkeit mit bemerkenswertem
psychologischen Einfühlungsvermögen und sicherem Blick für das
individuelle Detail überzeugend ausgestaltet. Durch sein virtuoses
literarisches Spiel mit unseren Vorurteilen, emotionalen Reflexen und
Erwartungen an das Genre löst Higashino eine latente Verunsicherung
im Leser aus, die weit über die Lektüre des Romans hinausreicht und
insgesamt ein realistisches Bild unserer umfassenden Machtlosigkeit
zeichnet, die wir angesichts von spontaner und systematischer Gewalt
in unserem Alltag empfinden müssen. Auf den nächsten, für Ende
April 2016 angekündigten Band der Reihe, in dem Kommissar Kaga mit
nicht weniger als drei geständigen Tatverdächtigen konfrontiert
wird, darf man sich jetzt schon freuen!
„Böse Absichten“, aus
dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 255
Seiten, € 14,95
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