Kaum eine der zahlreichen
verstandesmäßig kaum zu fassenden und dennoch nur allzu realen
Monstrositäten des Nationalsozialismus scheint unwahrscheinlich
genug, als dass man den angeblichen Fund eines in einem
unterirdischen Schacht verborgenen gepanzerten Zuges bei Breslau
nicht für prinzipiell möglich halten könnte, wie es die
internationale Presse letzten Sommer nicht wenig reißerisch
suggerierte. Denn maßlos sind bis heute nicht nur alle öffentlichen
Erwartungen an die bereits bekannten, sondern auch an die
möglicherweise erst noch zu entdeckenden Hinterlassenschaften des
Nationalsozialismus.
Die amerikanische
Top-Anwältin und Schriftstellerin Ayelet Waldman („Das Buch der
bösen Mütter“) hat in ihrem erst kürzlich in deutscher
Übersetzung erschienenen historischen Roman „Die späte Reue des
Jack Wiseman“ den erstaunlichen Ereignissen und vielfältigen
Hintergründen um einen authentischen „Goldzug“ ein literarisches
Denkmal gesetzt, der von amerikanischen Truppen in den letzten Tagen
des Zweiten Weltkriegs bei Salzburg aufgebracht wurde. Streng bewacht
von ungarischem Militär, befanden sich in den versiegelten Waggons
zahllose, scheinbar wahllos zusammengehortete Kunst- und
Gebrauchsgegenstände von zum Teil beträchtlichem Wert, die
ungarische Juden vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager bei
den staatlichen Behörden hatten abgeben müssen. Die amerikanische
Armee verbrachte die wertvollen Fundstücke in Lagerhallen, wo sie
zunächst penibel geordnet, dokumentiert und katalogisiert wurden.
Manche Stücke jedoch wurden zu angeblichen Repräsentationszwecken
unverzüglich der Militärverwaltung einverleibt.
Zur Strafe übergab
Rigsdale Jack einen M-35-Lastwagen und übertrug ihm das Kommando,
den Zug zu entladen. 25 ungarische Kriegsgefangene, ein halbes
Dutzend Gis als Wache zum Schutz gegen Plünderer und
Schwarzmarkthändler und ein Lastwagen, um 1500 Kisten mit Uhren,
Schmuck und Silberwaren abzuladen, 5250 Teppiche, Tausende Mäntel,
Stolen und Muffe aus Nerz, Fuchspelz und Hermelin, Kisten mit
Mikroskopen und Kameras, Porzellan und Glaswaren, Möbeln, Büchern,
Manuskripten und Gobelins, Goldmünzen und -barren, die paar
verbleibenden Edelsteine, die liturgischen Gegenstände, die
Briefmarkensammlungen und silbernen Haarbürsten, alle wertvollen
oder weniger wertvollen Gegenstände, die den Besitz der ungarischen
Juden ausgemacht hatten, von denen beinahe auf den Tag genau ein Jahr
zuvor im Verlauf von nur 56 Tagen 437.402 Personen nach Auschwitz
deportiert worden waren.
Am Anfang von Ayelet
Waldmans klug konstruiertem Roman folgen wir zunächst der frisch von
ihrem untreuen Ehemann getrennten Protagonistin Natalie ins
winterliche Maine unserer Gegenwart, wo sich die Junior-Partnerin
eines New Yorker Anwaltsbüros in aller Stille von ihrem im Sterben
liegenden geliebten Großvater, dem Titelhelden Jack Wiseman,
verabschieden möchte. Wenige Stunden vor seinem Tod bittet sie
dieser um einen allerletzten persönlichen Gefallen: den rechtmäßigen
Besitzer eines kostbaren goldenen Medaillons ausfindig zu machen, das
sie selbst immer für ein Schmuckstück aus dem Besitz ihrer
verstorbenen Großmutter gehalten hatte. Tatsächlich aber hatte Jack
das kunstvoll gearbeitete Medaillon als verantwortlicher Offizier aus
den Beständen des Goldzugs entnommen, weil es ihn an seine
unvergessene, unglückliche Liebe zu der ungarischen Jüdin Ilona
erinnerte, einer Überlebenden der Konzentrationslager. Jene hatte
damals seinen Heiratsantrag ausgeschlagen und stattdessen als
Mitglied einer illegalen zionistischen Gruppe den risikoreichen Weg
nach Palästina gewählt.
Bewachter Güterzug im Zweiten Weltkrieg |
Ein nun unmittelbar
einsetzender, von der Autorin konzentriert und fantasievoll
ausgearbeiteter erster historischer Erzählstrang beschreibt die
authentischen Ereignisse um den ungarischen Goldzug im Salzburg der
unmittelbaren Nachkriegszeit. Dieser Romanteil bildet mit seiner
uneitlen, empathischen Erzählweise und seinem individuellen
Detailreichtum einen sehr positiven Kontrast zu der in der Gegenwart
angesiedelten fortlaufenden Haupterzählebene, in dem die Autorin
einen in seiner Manieriertheit zum Teil schwer zu ertragenden
amerikanischen Erzählstil im Geiste eines vor allem technisch
motivierten „Creative Writing“ pflegt, der zeitweise wie eine
ungewollte Parodie seiner selbst wirkt. Insbesondere das genussvoll
zelebrierte libidinöse Selbstporträt der Autorin in der Gestalt
ihrer Protagonistin im zweiten Teil des Buches gehört zu den
peinlichsten Fehlgriffen innerhalb ihres unterhaltsamen Romanes.
„Es tut mir leid“,
sagte Jack.
„Schon wieder diese
Entschuldigungen. Was glaubst du denn, Jack? Dass du Hitler bist?
Horthy Miklós? Ist es deine Schuld, was mit uns geschehen ist?“
Ihr barscher Ton
schockierte ihn. Er konnte bloß sagen: „Wer ist Horthy Miklós?“
„Horthy, unser
Reichsverweser. Er sollte uns eigentlich beschützen. Er hat uns
ermordet, nicht ihr. Ihr habt uns befreit. Es ist nicht deine Schuld,
dass meine Familie tot ist. Deine Schuld ist es, dass ich am Leben
bin.“
Natalie hat mittlerweile
ihren hoch dotierten Job gekündigt und ist allein nach Budapest
gereist, um sich dort mit dem israelisch-amerikanischen Kunsthändler
Amitai Shasho zu treffen, der sich auf eine besonders lukrative, wenn
auch moralisch durchaus diskussionswürdige Art der Wiederbeschaffung
von Nazi-Beutekunst spezialisiert hat. Eine kleine Fotografie im
Inneren des aufklappbaren Medaillons zeigt eine attraktive
zwergwüchsige Frau mit ihrer Freundin vor dem eindeutig
identifizierbaren Bildhintergrund des internationalen
Frauenstimmrechtskongresses, der im Vorkriegsjahr 1913 in der
ungarischen Hauptstadt stattgefunden hatte. Amitai erkennt in einer
der beiden Frauen auf dem Foto sofort das auch namentlich bekannte
weibliche Modell auf einem verschollenen Gemälde aus den 1920er
Jahren, nach dem er bereits seit vielen Jahren fahndet. Nicht
uneigennützig beschließt er deshalb, Natalie bei ihrem hoffnungslos
scheinenden Vorhaben mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln
zu unterstützen.
Budapest 1912/Historische Postkarte |
Die gemeinsamen Recherchen
der beiden, die sich im weiteren Verlauf der Handlung auch persönlich
immer näher kommen, bilden das reizvolle thematische Bindeglied zur
ebenso aufschlussreichen wie pittoresken zweiten historischen
Parallelhandlung, innerhalb der uns Ayelet Waldman – nun scheinbar
befreit von ihren hohen literarischen Ambitionen – das wunderbare
Panorama einer außergewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei
selbstbewussten und talentierten jungen Frauen vor uns ausbreitet,
die vor dem Hintergrund der in Auflösung begriffenen alten
habsburgischen Gesellschaftsordnung vergeblich nach
Gleichberechtigung und Selbstbestimmung streben. Vor allem lernen wir
Nina kennen, die kaum volljährige, in ihrem kindlichen Eigensinn
unwiderstehliche Tochter eines gutsituierten jüdischen Bankiers, die
um keinen Preis den Heiratsbestrebungen ihrer Eltern nachgeben will
und deshalb „zur Heilung ihrer Hysterie“ von ihrem Vater in eine
Psychoanalyse bei dem gutmütigen Ferenczi-Schüler Doktor Zobel
gedrängt wird.
Am Ende war der wahre
Reichtum der ungarischen Juden nicht in Kisten und Schachteln
verpackt und auf diesen Zug verladen worden. Wie viel wert sind zwei
Halter für Sabbatkerzen, die einer Tochter von ihrer Mutter und
Großmutter überkommen sind, Generation für Generation, hundert, ja
tausend Jahre lang? Unbezahlbar, unermesslich. Und wie viel wert sind
zehntausend Garnituren ähnlicher Kerzenhalter, wenn all die
Großmütter, Mütter, Töchter tot sind? Nicht mehr als das Gewicht
des eingeschmolzenen Silbers. Der Reichtum der Juden Ungarns, der
Juden Europas, war nicht in den vollbeladenen Güterwaggons des
Goldzuges zu finden, sondern in den Großmüttern, Müttern und
Töchtern, in den Ärzten und Anwälten, den Getreidehändlern und
Psychiatern, den Schriftstellern und Künstlern, die eine Kultur der
Verfeinerung geschaffen hatten, der intellektuellen und
künstlerischen Leistungen. Und dieser Reichtum, alles von wirklichem
Wert, war so gut wie ausgelöscht.
In den Kaffeehäusern der
Metropole, in denen nicht nur das gesamte Who's Who der Literatur-
und Kunstszene der Metropole verkehrt, sondern auch die
unterschiedlichsten politischen Kräfte tagtäglich ein- und
ausgehen, trifft Nina eines Nachmittags auf die enigmatische
zwergwüchsige Gizella, Privatsekretärin der berühmten ungarischen
Feministin Rózsa Schwimmer, und freundet sich leidenschaftlich mit
ihr an. Eine aus dem Ruder laufende anarchistisch motivierte Aktion
im ehrwürdigen Opernhaus führt schließlich zu einem handfesten
politischen Skandal, in dessen Folge die beiden mutigen Frauen vor
der Polizei fliehen und untertauchen müssen. Die Geschichte der
beiden ungleichen, auf dem Foto in der Innenseite des Medaillons
verewigten Freundinnen, deren Spur sich später in der Schoah
verliert, führt Natalie und Amitai schließlich auf unerwartete Art
und Weise zum größten Abenteuer ihres Lebens.
Trotz ihres zum Teil
übertriebenen schriftstellerischen Ehrgeizes ist der Autorin ein
ebenso erfrischender wie kenntnisreicher erzählerischer Bogen
geflückt, der scheinbar mühelos ein ganzes Jahrhundert jüdischen
Lebens in Europa und Amerika zu überbrücken vermag und dabei
zahlreiche hoch interessante und dankbare historische
Themenstellungen in der Vorstellung des Lesers zum Klingen bringt,
die der breiteren Öffentlichkeit heute kaum noch bekannt oder
bewusst sein dürften. Aus dieser Perspektive ist „Die späte Reue
des Jack Wiseman“ eine äußerst unterhaltsame, gut recherchierte
und ausgesprochen nützliche literarische Einführung in einige der
interessantesten Nebenschauplätze innerhalb der erschütternden
Umwälzungen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die die willkommene
Tatsache umso wunderbarer erscheinen lassen, dass eine detektivische
Odyssee durch Osteuropa, wie sie die Autorin so kenntnisreich
beschreibt, im heutigen Europa nach vielen bitteren Jahrzehnten der
Trennung endlich wieder möglich ist.
„Die späte Reue des Jack Wiseman“, aus dem Amerikanischen von Brigitte Hilzensauer,
erschienen bei Zsolnay, 478 Seiten, € 22,90
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