Jerusalem

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Dienstag, 17. November 2015

„Die späte Reue des Jack Wiseman“ von Ayelet Waldman

Kaum eine der zahlreichen verstandesmäßig kaum zu fassenden und dennoch nur allzu realen Monstrositäten des Nationalsozialismus scheint unwahrscheinlich genug, als dass man den angeblichen Fund eines in einem unterirdischen Schacht verborgenen gepanzerten Zuges bei Breslau nicht für prinzipiell möglich halten könnte, wie es die internationale Presse letzten Sommer nicht wenig reißerisch suggerierte. Denn maßlos sind bis heute nicht nur alle öffentlichen Erwartungen an die bereits bekannten, sondern auch an die möglicherweise erst noch zu entdeckenden Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus.


Die amerikanische Top-Anwältin und Schriftstellerin Ayelet Waldman („Das Buch der bösen Mütter“) hat in ihrem erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienenen historischen Roman „Die späte Reue des Jack Wiseman“ den erstaunlichen Ereignissen und vielfältigen Hintergründen um einen authentischen „Goldzug“ ein literarisches Denkmal gesetzt, der von amerikanischen Truppen in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs bei Salzburg aufgebracht wurde. Streng bewacht von ungarischem Militär, befanden sich in den versiegelten Waggons zahllose, scheinbar wahllos zusammengehortete Kunst- und Gebrauchsgegenstände von zum Teil beträchtlichem Wert, die ungarische Juden vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager bei den staatlichen Behörden hatten abgeben müssen. Die amerikanische Armee verbrachte die wertvollen Fundstücke in Lagerhallen, wo sie zunächst penibel geordnet, dokumentiert und katalogisiert wurden. Manche Stücke jedoch wurden zu angeblichen Repräsentationszwecken unverzüglich der Militärverwaltung einverleibt.

Zur Strafe übergab Rigsdale Jack einen M-35-Lastwagen und übertrug ihm das Kommando, den Zug zu entladen. 25 ungarische Kriegsgefangene, ein halbes Dutzend Gis als Wache zum Schutz gegen Plünderer und Schwarzmarkthändler und ein Lastwagen, um 1500 Kisten mit Uhren, Schmuck und Silberwaren abzuladen, 5250 Teppiche, Tausende Mäntel, Stolen und Muffe aus Nerz, Fuchspelz und Hermelin, Kisten mit Mikroskopen und Kameras, Porzellan und Glaswaren, Möbeln, Büchern, Manuskripten und Gobelins, Goldmünzen und -barren, die paar verbleibenden Edelsteine, die liturgischen Gegenstände, die Briefmarkensammlungen und silbernen Haarbürsten, alle wertvollen oder weniger wertvollen Gegenstände, die den Besitz der ungarischen Juden ausgemacht hatten, von denen beinahe auf den Tag genau ein Jahr zuvor im Verlauf von nur 56 Tagen 437.402 Personen nach Auschwitz deportiert worden waren.

Am Anfang von Ayelet Waldmans klug konstruiertem Roman folgen wir zunächst der frisch von ihrem untreuen Ehemann getrennten Protagonistin Natalie ins winterliche Maine unserer Gegenwart, wo sich die Junior-Partnerin eines New Yorker Anwaltsbüros in aller Stille von ihrem im Sterben liegenden geliebten Großvater, dem Titelhelden Jack Wiseman, verabschieden möchte. Wenige Stunden vor seinem Tod bittet sie dieser um einen allerletzten persönlichen Gefallen: den rechtmäßigen Besitzer eines kostbaren goldenen Medaillons ausfindig zu machen, das sie selbst immer für ein Schmuckstück aus dem Besitz ihrer verstorbenen Großmutter gehalten hatte. Tatsächlich aber hatte Jack das kunstvoll gearbeitete Medaillon als verantwortlicher Offizier aus den Beständen des Goldzugs entnommen, weil es ihn an seine unvergessene, unglückliche Liebe zu der ungarischen Jüdin Ilona erinnerte, einer Überlebenden der Konzentrationslager. Jene hatte damals seinen Heiratsantrag ausgeschlagen und stattdessen als Mitglied einer illegalen zionistischen Gruppe den risikoreichen Weg nach Palästina gewählt.

Bewachter Güterzug im Zweiten Weltkrieg

Ein nun unmittelbar einsetzender, von der Autorin konzentriert und fantasievoll ausgearbeiteter erster historischer Erzählstrang beschreibt die authentischen Ereignisse um den ungarischen Goldzug im Salzburg der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dieser Romanteil bildet mit seiner uneitlen, empathischen Erzählweise und seinem individuellen Detailreichtum einen sehr positiven Kontrast zu der in der Gegenwart angesiedelten fortlaufenden Haupterzählebene, in dem die Autorin einen in seiner Manieriertheit zum Teil schwer zu ertragenden amerikanischen Erzählstil im Geiste eines vor allem technisch motivierten „Creative Writing“ pflegt, der zeitweise wie eine ungewollte Parodie seiner selbst wirkt. Insbesondere das genussvoll zelebrierte libidinöse Selbstporträt der Autorin in der Gestalt ihrer Protagonistin im zweiten Teil des Buches gehört zu den peinlichsten Fehlgriffen innerhalb ihres unterhaltsamen Romanes.

Es tut mir leid“, sagte Jack.
Schon wieder diese Entschuldigungen. Was glaubst du denn, Jack? Dass du Hitler bist? Horthy Miklós? Ist es deine Schuld, was mit uns geschehen ist?“
Ihr barscher Ton schockierte ihn. Er konnte bloß sagen: „Wer ist Horthy Miklós?“
Horthy, unser Reichsverweser. Er sollte uns eigentlich beschützen. Er hat uns ermordet, nicht ihr. Ihr habt uns befreit. Es ist nicht deine Schuld, dass meine Familie tot ist. Deine Schuld ist es, dass ich am Leben bin.“

Natalie hat mittlerweile ihren hoch dotierten Job gekündigt und ist allein nach Budapest gereist, um sich dort mit dem israelisch-amerikanischen Kunsthändler Amitai Shasho zu treffen, der sich auf eine besonders lukrative, wenn auch moralisch durchaus diskussionswürdige Art der Wiederbeschaffung von Nazi-Beutekunst spezialisiert hat. Eine kleine Fotografie im Inneren des aufklappbaren Medaillons zeigt eine attraktive zwergwüchsige Frau mit ihrer Freundin vor dem eindeutig identifizierbaren Bildhintergrund des internationalen Frauenstimmrechtskongresses, der im Vorkriegsjahr 1913 in der ungarischen Hauptstadt stattgefunden hatte. Amitai erkennt in einer der beiden Frauen auf dem Foto sofort das auch namentlich bekannte weibliche Modell auf einem verschollenen Gemälde aus den 1920er Jahren, nach dem er bereits seit vielen Jahren fahndet. Nicht uneigennützig beschließt er deshalb, Natalie bei ihrem hoffnungslos scheinenden Vorhaben mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen.


Budapest 1912/Historische Postkarte


Die gemeinsamen Recherchen der beiden, die sich im weiteren Verlauf der Handlung auch persönlich immer näher kommen, bilden das reizvolle thematische Bindeglied zur ebenso aufschlussreichen wie pittoresken zweiten historischen Parallelhandlung, innerhalb der uns Ayelet Waldman – nun scheinbar befreit von ihren hohen literarischen Ambitionen – das wunderbare Panorama einer außergewöhnlichen Freundschaft zwischen zwei selbstbewussten und talentierten jungen Frauen vor uns ausbreitet, die vor dem Hintergrund der in Auflösung begriffenen alten habsburgischen Gesellschaftsordnung vergeblich nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung streben. Vor allem lernen wir Nina kennen, die kaum volljährige, in ihrem kindlichen Eigensinn unwiderstehliche Tochter eines gutsituierten jüdischen Bankiers, die um keinen Preis den Heiratsbestrebungen ihrer Eltern nachgeben will und deshalb „zur Heilung ihrer Hysterie“ von ihrem Vater in eine Psychoanalyse bei dem gutmütigen Ferenczi-Schüler Doktor Zobel gedrängt wird.

Am Ende war der wahre Reichtum der ungarischen Juden nicht in Kisten und Schachteln verpackt und auf diesen Zug verladen worden. Wie viel wert sind zwei Halter für Sabbatkerzen, die einer Tochter von ihrer Mutter und Großmutter überkommen sind, Generation für Generation, hundert, ja tausend Jahre lang? Unbezahlbar, unermesslich. Und wie viel wert sind zehntausend Garnituren ähnlicher Kerzenhalter, wenn all die Großmütter, Mütter, Töchter tot sind? Nicht mehr als das Gewicht des eingeschmolzenen Silbers. Der Reichtum der Juden Ungarns, der Juden Europas, war nicht in den vollbeladenen Güterwaggons des Goldzuges zu finden, sondern in den Großmüttern, Müttern und Töchtern, in den Ärzten und Anwälten, den Getreidehändlern und Psychiatern, den Schriftstellern und Künstlern, die eine Kultur der Verfeinerung geschaffen hatten, der intellektuellen und künstlerischen Leistungen. Und dieser Reichtum, alles von wirklichem Wert, war so gut wie ausgelöscht.

In den Kaffeehäusern der Metropole, in denen nicht nur das gesamte Who's Who der Literatur- und Kunstszene der Metropole verkehrt, sondern auch die unterschiedlichsten politischen Kräfte tagtäglich ein- und ausgehen, trifft Nina eines Nachmittags auf die enigmatische zwergwüchsige Gizella, Privatsekretärin der berühmten ungarischen Feministin Rózsa Schwimmer, und freundet sich leidenschaftlich mit ihr an. Eine aus dem Ruder laufende anarchistisch motivierte Aktion im ehrwürdigen Opernhaus führt schließlich zu einem handfesten politischen Skandal, in dessen Folge die beiden mutigen Frauen vor der Polizei fliehen und untertauchen müssen. Die Geschichte der beiden ungleichen, auf dem Foto in der Innenseite des Medaillons verewigten Freundinnen, deren Spur sich später in der Schoah verliert, führt Natalie und Amitai schließlich auf unerwartete Art und Weise zum größten Abenteuer ihres Lebens.


Ayelet Waldman/Foto: Reenie Raschke


Trotz ihres zum Teil übertriebenen schriftstellerischen Ehrgeizes ist der Autorin ein ebenso erfrischender wie kenntnisreicher erzählerischer Bogen geflückt, der scheinbar mühelos ein ganzes Jahrhundert jüdischen Lebens in Europa und Amerika zu überbrücken vermag und dabei zahlreiche hoch interessante und dankbare historische Themenstellungen in der Vorstellung des Lesers zum Klingen bringt, die der breiteren Öffentlichkeit heute kaum noch bekannt oder bewusst sein dürften. Aus dieser Perspektive ist „Die späte Reue des Jack Wiseman“ eine äußerst unterhaltsame, gut recherchierte und ausgesprochen nützliche literarische Einführung in einige der interessantesten Nebenschauplätze innerhalb der erschütternden Umwälzungen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die die willkommene Tatsache umso wunderbarer erscheinen lassen, dass eine detektivische Odyssee durch Osteuropa, wie sie die Autorin so kenntnisreich beschreibt, im heutigen Europa nach vielen bitteren Jahrzehnten der Trennung endlich wieder möglich ist.

„Die späte Reue des Jack Wiseman“, aus dem Amerikanischen von Brigitte Hilzensauer, erschienen bei Zsolnay, 478 Seiten, € 22,90

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