Die internationale
Literaturlandschaft hat bereits eine große Anzahl treffender und
aufwühlender Berichte über den Leidensweg einzelner Personen oder
Gruppen innerhalb der monströsen Tötungsmaschinerie des
Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkriegs hervorgebracht.
Diese schmerzvolle Vergegenwärtigung jener uns heute selbst noch in
kleinsten Details auf qualvolle Weise in größtem Detailreichtum
bekannten, jedoch kaum annähernd mit Worten wiederzugebenden
Verbrechen am europäischen Judentum ist vollkommen richtig und
absolut notwendig, denn anders als die sittlich und moralisch
verrohten Nationalsozialisten, in deren menschenverachtender,
emotional und geistig vollkommen unreifer Ideologie die Vorstellung
vom Individuum keinen Platz hatte und nur das Wohl der imaginäre
Elite ihrer auserwählten „Volksgenossen“ zählte, besteht selbst
ein kollektives Schicksal wie das der verfolgten Juden innerhalb der
Schoah aus unendlich vielen Einzelschicksalen, die sich trotz des für
sie von ihren schamlosen Verfolgern unerbittlich vorgezeichneten Wegs
in die fabrikmäßige Ermordung zum Teil erheblich voneinander
unterschieden.
Nicht weniger als sechs
Millionen jüdische Todesopfer haben wir als Folge des zügellosen
zwölfjährigen Wütens der Nationalsozialisten zu beklagen, dessen
gefühlter Schaden locker für die sprichwörtlich gewordenen
„tausend Jahre“ ausreicht, die Hitlers Deutschland nach eigenem
Bekunden bestehen bleiben wollte: Mehr sinnlos hingemordete
unschuldige Menschenleben als moderne Staaten wie Dänemark,
Jordanien oder Neuseeland heute an Einwohnern zählen. Allein wenn
man diese unermessliche, im Grunde staatstragende Zahl in Ziffern
wiedergibt: 6.000.000, bekommt man eine erste furchtbare Ahnung ihrer
Tragweite. Aber um wirklich zu begreifen, über was für ein
ungeheuerliches, monströses Verbrechen wir hier reden, sollte man
einmal ernsthaft versuchen, die absolute Opferzahl als Strichliste
wiederzugeben, besser noch jedoch als Namensliste. (Eine gute, aber
vermutlich aussichtslose potentielle Strafarbeit übrigens auch für
hartnäckige Holocaust-Leugner.)
Sechs Millionen nicht
fertig ausgelebte Leben haben wir zu beweinen. Sechs Millionen ganz
gewöhnliche Menschen mit Träumen, Plänen und mannigfaltigen
sozialen Bindungen, denen von ihren grausamen Verfolgern jedes Recht
abgesprochen wurde, ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben in
Freiheit weiterzuführen. Denn hierin besteht das wesentliche
Verbrechen der Nationalsozialisten: im millionenfachen grausamen,
blindwütigen Verhindern des natürlichen Rechts ihrer unschuldigen
Opfer auf ein freies, selbstbestimmtes Leben, so banal und friedlich
es sich unter Umständen auch zu sein träumt. Die Überlebenden mit
ihren unausprechlichen, jahrzehntelang fortwirkenden Leiden und den
sich daraus ergebenden vielfältigen, lebenslang anhaltenden Traumata
sind in dieser ungeheuerlichen Zahl noch nicht einmal erfasst. Um
aber diese unermessliche, kaum zu fassende Unzahl an Opfern –
Ermordeten wie Überlebenden – dennoch wenigstens annähernd nicht
nur verstandesmäßig, sondern auch emotional begreifen zu können,
ist es nicht nur nützlich, sondern geradezu absolut unverzichtbar,
sich mit den persönlichen Zeugnissen der Betroffenen zu
beschäftigen, denn in ihnen finden wir auch uns selbst in unseren
eigenen Plänen, Träumen und Wünschen am ehesten widergespiegelt.
Wie viele andere Jüdinnen
und Juden ihrer Generation muss auch Pici schon als kleines Mädchen
von einem Tag auf den anderen leidvoll erfahren, dass sich etwas ganz
Grundlegendes in der Beschaffenheit der Welt verändert zu haben
scheint. Obwohl sie selbst sich überhaupt nicht verändert hat,
allenfalls ein bisschen gewachsen ist vielleicht, oder ein Jahr älter
geworden, erfährt sie plötzlich völlig unvorbereitet
Diskriminierung in dem Verhalten von Nichtjuden, Amtsträgern und
Institutionen, blanken Hass sogar, unsanktionierte Feindseligkeit.
Und trotz der sorgenvollen, gedämpften Gespräche der Erwachsenen
über die politische Entwicklung in Deutschland begreift sie nicht,
was plötzlich anders sein soll: Eine Jüdin war sie schon immer,
seit ihrer Geburt, was immer das heißen mag, aber plötzlich darf
man ihr ungehindert und ungestraft mit grundlosem, offenem Hass und
handgreiflicher Feindseligkeit begegnen. Darf sie ohne jede
juristische Konsequenz beschimpfen, sogar schlagen. Und trotz bester
Leistungen in der Schule – die deutsche Schule darf sie nicht mehr
besuchen – wird ihr immer wieder die verdiente Anerkennung
verwehrt. Von staatlicher Stelle sogar, der doch normalerweise eine
neutrale, unabhängige Position zu eigen sein sollte. Was für eine
niederschmetternde Erfahrung für ein junges Mädchen: dass es keine
Objektivität erwarten darf, dass es keine Verlässlichkeit gibt. Man
hört sogar von Juden, die aus dem Zug geworfen, geschlagen oder am
Bart durch die Straßen geschleift werden. Warum das alles – wer
kann es begreifen? Nicht einmal die Erwachsenen können das.
Ankunft ungarischer Juden in Auschwitz/Foto: Bundesarchiv |
Die Pathologie der
nationalsozialistischen Weltanschauung ist voller massiver
psychologischer Widersprüche. Ohne den jeder objektiven Grundlage
entbehrenden, durch und durch irrationalen und paranoid
übersteigerten Hass auf alles Jüdische – auch das nur
angenommene, klischeehafte oder vorurteilsbehaftete – wäre
die destruktive Ideologie der Nazis sogar vollkommen undenkbar. Warum
aber hat der Nationalsozialismus all seine gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen ausschließlich auf
das krankhafte und in jeder Hinsicht (auch für ihn selbst) ruinöse
Ziel verschwendet, das in seinen zahlreichen verschiedenen
Erscheinungsformen überaus vitale und kulturell reiche europäische
Judentum auzulöschen und sich die ganze zivilisierte Welt zum Feind
zu machen?
Wenn ein erwachsener,
reifer Mensch (oder eine Gruppe) sich aus welchen Gründen auch immer
von einem anderen Menschen (oder einer anderen Gruppe) gestört oder
in seinem natürlichen Streben nach Selbstverwirklichung behindert
fühlt, reagiert er innerhalb einer zivilisierten, kulturell und
moralisch halbwegs normal entwickelten Gesellschaft gewöhnlich,
indem er den jeweiligen Gegner ignoriert und ihm aus dem Weg geht, um
sich auf seine eigenen Anliegen zu konzentrieren oder ihn mit
sachlichen Argumenten zu bekämpfen. Die Nationalsozialisten jedoch
waren von ihrem fanatischen Antisemitismus so besessen, dass sie alle
ihre Ressourcen dem einen schändlichen Ziel unterordneten, das sie
in ihrem obskuren Weltbild und labilen Selbstverständnis Störende
zu vernichten. Sie benötigten ihre krankhaft verzerrte Vorstellung
vom Judentum dringend um die eigene Leere und tief verinnerlichte
Minderwertigkeit zu kompensieren. Durch die Vernichtung des Objekts
ihres Hasses hofften sie, endlich jene Bedeutung und Anerkennung zu
erlangen, die jedem Menschen gebührt.
Die seriöse
Geschichtswissenschaft liefert uns in eine ganze Anzahl plausibel
klingender Erklärungen für das Undenkbare: autoritäre
Erziehungsmodelle, der Erste Weltkrieg, Versailles, eine
internationale Welle irrationaler Phänomene und der Esoterik,
Weimar, Weltwirtschaftskrise, Verschwörungstheorien,
Untertanengeist, blinder Gehorsam und der deutsche Hang zur
unbedingten Pflichterfüllung – die Liste ließe sich mit
Leichtigkeit endlos fortsetzen. Ohne Zweifel: das alles sind seriöse
Erklärungsversuche, die in irgendeiner Art und Weise zur Katastrophe
beigetragen haben mögen, doch für sich allein betrachtet ist keine
einzige davon weder befriedigend noch akzeptabel. Es bleibt uns vor
dem Panorama der Zerstörung keine andere Zuflucht als verzweifelt zu
konstatieren: die monströsen Ereignisse, von denen wir hier
sprechen, sind ohne jede Parallele in der menschlichen Geschichte. Es
gibt zum Glück Überlebende dieser von Menschen geschaffenen
irdischen Hölle. Aber eines Tages wird es sie aus natürlichen
Gründen nicht mehr geben. Deshalb müssen ihre Berichte und
Selbstzeugnisse veröffentlicht, gehört und verstanden werden. Diese
Arbeit ist eine bedeutende kollektive Arbeit, der sich niemand zu
entziehen versuchen sollte, denn ein Erzähler ist zwar nichts ohne
Zuhörer, aber der gewöhnliche Nur-Zuhörer ist auch nichts ohne
einen qualifizierten, moralisch integren Erzähler.
Ravensbrück, Krematorium/Foto: Norbert Radtke |
Wer heute, nach allem, was
wir über die Verbrechen der Nationalsozialisten wissen, allen
Ernstes behauptet, es sei genug, man solle endlich einmal mit der
Vergangenheit abschließen, wie regelmäßige repräsentative
Erhebungen renommierter Forschungsprojekte unabhängiger Träger es
einer wachsenden Anzahl deutscher Bürger jeden Alters bescheinigen,
beweist mit seiner dummen Aussage nur, wie sehr und wie abgrundtief
ihn das Wissen um das Geschehene in Wirklichkeit selbst betrifft: so
sehr nämlich, dass es bis heute unverarbeitet wie ein rostiger Nagel
in seine eigene unbewusste Gegenwart hineinragt, so sehr, dass er es
nicht mehr hören zu können glaubt. Doch nur wer die
Fehlentwicklungen der Vergangenheit aufmerksam studiert und
Zusammenhänge zu begreifen lernt, kann angesichts der
Herausforderungen der Gegenwart handlungsfähig bleiben. Offene Augen
und wache Sinne sind wir Lebendigen von heute den Ermordeten
schuldig, denn das haben sie sich auch für sich selbst und ihre
Familien und Freunde vermutlich am meisten gewünscht.
Picis detaillierter, tief
erschütternder und dabei gleichzeitig leicht zugänglicher Bericht
aus der gut informierten, mitfühlenden Feder ihres eigenen Enkels
ist eine der prägnantesten und einfühlsamsten Beschreibungen ihrer
Art. Robert Scheer ist es gelungen, den historischen und
biografischen Gehalt von Picis Erfahrungen in eine den Leser
unmittelbar ansprechende Form eines offenen Zwiegesprächs zu
bringen, in dessen Verlauf es Großmutter und Enkel auf
eindrucksvolle Art gelingt, das Geschehene nicht nur angemessen zu
vergegenwärtigen und zu reflektieren, sondern es auf gewisse Weise
sogar „wiederzubeleben“, indem sie es in einen aktuellen Kontext
stellen: denn nicht nur der Enkel (als studierter Philosoph und
politisch denkender Mensch) beobachtet das aktuelle Zeitgeschehen
sehr genau – auch Pici zieht immer wieder ebenso überraschende wie
treffende Vergleiche zwischen gestern und heute, die nicht nur ihre
bittere Erfahrung der Verfolgung durch Nazi-Deutschland erkennen
lassen, sondern auch ihre geistig hellwache, dem Leben zugewandte
unverwechselbare Persönlichkeit, die bis zum Schluss fähig war zu
differenzieren und sich eine dezidierte Meinung zu allen
Erscheinungsformen eines aktiv gelebten Lebens zu bilden. Ihre
persönlichen, manchmal auch im Zwiegespräch mit ihrem Enkel
gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse sind nicht nur sehr präzise
Beschreibungen des realen schrecklichen Geschehens auf Picis
individuellem Leidensweg, sondern gleichzeitig auch intelligent
herausgearbeitete aussagekräftige Thesen und unerbittliche
Anklagepunkte gegenüber den nationalsozialistischen Verfolgern und
ihren Verbrechen. Seine mühelose und erstaunlich subtile
Vielschichtigkeit macht den Text zu einem absoluten literarischen und
dokumentarischen Glücksfall, da er den Leser zu keinem Zeitpunkt
überfordert, aber ihn dennoch umfassend informiert und ihn gleichsam
zwischen den Zeilen wie von selbst, allein durch den dezenten
literarischen Anstoß von unbewussten Assoziationsketten zu den
korrekten, folgerichtigen Schlussfolgerungen leitet.
Robert Scheer/Foto: privat |
Hier wird deutlich, dass
sich all jene, die die Verfolgung durch die Nationalsozialisten
erleiden mussten, ursprünglich direkt aus unserer Mitte kamen, wie
der österreichische Schriftsteller Erich Hackl vollkommen richtig
immer wieder betont: sie unterschieden sich in ihrem grundsätzlichen
Menschsein durch nichts von ihren Nachbarn, Arbeitskollegen oder
Mitbürgern, sondern wurden von einer totalitaristisch regierenden
Clique selbsternannter Herrenmenschen vollkommen willkürlich auf
grausamste und schamloseste Art und Weise bis zum Äußersten
ausgegrenzt, weil es den hemmungslosen Machthabern schlichtweg
nützte. Mechanismen der Ausgrenzung, negativen Standortbestimmung
und Überhöhung der eigenen Gruppe können wir auch heute noch
beobachten, in totalitaristischen Staaten, aber auch ohne dabei über
unseren eigenen Tellerrand schauen zu müssen: wir erleben diese
Erscheinungsformen fast täglich in der Wirtschaft, in der Politik,
mitunter sogar in unserem Privatleben. Wichtig ist es, angesichts
dieser vermutlich unabänderlichen menschlichen Eigenart nicht zu
resignieren und nicht eine Haltung des machtlosen Wegsehens
anzunehmen. Mitgefühl, Liebe und Menschlichkeit sind heute wie
gestern alternativlos.
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