Dass die Qualität
erzählender Literatur nicht abhängig von ihrem Sujet ist, beweist
der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo mit jedem seiner Romane
einfallsreich aufs Neue. Man sollte sich deshalb nicht von einer
scheinbar objektiven Inhaltsangabe seiner Werke davon abschrecken
lassen, diesen großen empathischen Poeten unter den erfolgreichen
israelischen Romanciers für sich zu entdecken. Sein hoch
ambitioniertes, vielstimmiges Debüt „Vier Häuser und eine
Sehnsucht“ steht heute als eines nur weniger Werke zeitgenössischer
Autoren auf dem Lehrplan israelischer Schulen, das auch der
vernachlässigten Sicht israelischer Palästinenser eine deutlich
artikulierte Stimme verleiht. In seiner ernüchternden literarischen
Recherche „Neuland“ hat er einen ebenso originellen wie
kompetenten, möglicherweise definitiven Abgesang auf den schon zur
Zeit seiner Entstehung anachronistischen politischen Zionismus
geschaffen. Sein äußerlich unspektakulär scheinender Roman „Wir haben noch das ganze Leben“ erzählt die zwiespältige,
konfliktreiche Freundschaft von vier Männern, die sich seit ihrer
gemeinsam verbrachten Kindheit in vielfacher Hinsicht „aus den
Augen verloren“ haben, sich aber immer noch alle vier Jahre vor dem
Fernseher treffen, um gemeinsam das Finale der jeweiligen Fußball-WM
anzuschauen.
Auch Eshkol Nevos erst
kürzlich in deutscher Übersetzung erschienener neuer Roman „Die
einsamen Liebenden“ schafft es wie alle seine bisherigen Bücher
scheinbar ganz mühelos, gleichzeitig unterhaltsam und tiefgründig
zu sein. Dabei beginnt das Buch wie eine gelungene Hommage an den
israelischen Satiriker Ephraim Kishon: Anfang der 1990er Jahre bringt
eine massive Einwanderungswelle aus den ehemaligen Staaten der
Sowjetunion mehr als 600.000 Neueinwanderer nach Israel, die nicht
nur zum überwiegenden Teil gar nicht jüdisch-religiös sozialisiert
sind, sondern teilweise auch keinerlei nennenswertes Interesse an
jüdischem Glauben oder zionistisch-israelischen Traditionen
mitbringen. Der Bürgermeister der abgelegenen, überwiegend von
religiösen Juden bewohnten Kleinstadt Zfat in den galiläischen
Bergen, die vor allem von ihrer pittoresken 500jährigen
Vergangenheit als religiöses und kabbalistisches Zentrum lebt,
bemüht sich unermüdlich darum, dass der Staat auch seiner
vernachlässigten Gemeinde eine gewisse Anzahl von Neueinwanderern
zuteilt, damit diese in das neu geschaffene moderne Wohngebiet
„Ehrenquell“ einziehen können, das von den Bürgern aufgrund
einer obskuren Prophezeiung bisher konsequent gemieden wird.
Als Ältester einer
Familie mit acht Kindern neigte Danino dazu, für alles die
Verantwortung zu übernehmen – eine Neigung, die perfekt mit der
Neigung seiner Frau harmonierte, ihm an allem die Schuld zu geben.
Doch diesmal funktionierte es nicht. Diese Schuld nahm er nicht auf
sich. […] Also hörte Danino auf, jeden Tag eine Seite Talmud zu
studieren, er hörte auf zu beten und in die Synagoge zu gehen und
stürzte sich stattdessen in weitverzweigte öffentliche Aktivitäten:
Er gründete wohltätige Vereine, rief verschiedene Ausschüsse ins
Leben und begann, Koalutionen zu bilden. Zwei Jahre später hatte er
sich an der Spitze einer unabhängigen Liste zur Bürgermeisterwahl
aufstellen lassen. Auf seinen Wahlplakaten stand über einer
Nahaufnahme seiner traurigen Augen: „Avraham Danino, ein Politiker
auf Augenhöhe.“ – Er erhielt die absolute Mehrheit und zog ins
Rathaus ein, was ihm ermöglichte, immer länger von zu Hause
fernzubleiben und die Distanz zu seiner Frau vollends
festzuschreiben. Scheiden ließ er sich nicht, warum auch. Das wäre
bei seinen Wählern nicht gut angekommen. Doch er vergaß nicht, was
sie ihm vorgeworfen hatte und in welcher Situation.
Der Bürgermeister erhofft
sich von einer offiziellen behördlichen Zuteilung von
Neueinwanderern aber nicht nur großzügige staatliche Zuschüsse und
dringend benötigtes politisches Ansehen sondern (ganz im Geheimen)
auch eine knackige, ledige, vollbusige russische Blondine, die seiner
wachsenden Einsamkeit in Zukunft entgegenwirken könnte. Als seine
Bemühungen nach jahrelangen unermüdlichen Eingaben an das
zuständige Ministerium endlich von Erfolg gekrönt sind, muss er
jedoch eine bittere Enttäuschung hinnehmen: der lang erwartete
Reisebus mit russischen Neueinwanderern, der „Ehrenquell“
schließlich erreicht, ist voller phlegmatischer Rentner, die kaum
Hebräisch sprechen und wenig Interesse an anderen Themen als Schach
zeigen. Da bietet sich für den ehrgeizigen Politiker ganz unverhofft
eine neue Chance, als ein langatmiger Brief eines reichen
amerikanischen Juden eintrifft, der an seinem Lebensabend
ausgerechnet der „Stadt der Gerechten“ eine repräsentative Mikwe
stiften möchte, ein rituelles jüdisches Badehaus, das der
vorgeschriebenen sittlichen Reinigung dient. Da die Mikwendichte im
religiös geprägten Zfat allerdings um einiges höher ist als
erwartet, bleibt als einziger möglicher Standort nur noch das
argwöhnisch betrachtete Viertel „Ehrenquell“, das im Volksmund
mittlerweile „Sibirien“ genannt wird.
Zfat/Foto: Beny Shlevich |
Dieser Standort erweist
sich aber nicht nur aufgrund der vollkommen areligiösen Bevölkerung
als problematisch. Die Arbeiten an dem kurzerhand bei dem versierten
palästinensischen Spezialisten Naim in Auftrag gegebenen Rohbau,
einem erklärten Pazifisten und passionierten Hobby-Ornithologen,
müssen schon bald unversehens abgebrochen werden, weil die Baustelle
in unmittelbarer Sichtweite eines geheimen Militärlagers liegt und
der während seiner Pausen stets mit seinem Fernglas nach Vögeln
Ausschau haltende Bauleiter vom Militärgeheimdienst unter
Spionageverdacht verhaftet und interniert wird. Die Einstellung neuer
Handwerker scheitert stets am Einspruch des Militärs, bis sich
endlich notgedrungen der persönliche Referent des Bürgermeisters
der Sache annimmt, ein ehemaliger Geheimdienstoffizier, der sich in
seinem Leben als neu bekehrter streng Orthodoxer genauso fremd fühlt
wie in seinem früheren Leben als Kibbuznik. Nun aber nicht genug
damit, dass die russischen Einwanderer den sich der Fertigstellung
zuneigenden Mikwebau für einen Schachclub halten und keine andere
Verwendung des Gebäudes hinzunehmen bereit sind.
Wie kommen die denn
plötzlich auf Schach? Danino dreht beide Daumen, die über seinen
Hosengürtel hängen, schockiert zur Seite.
Ich weiß auch nicht,
entschuldigt sich Ben Zuk. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen
sind.
Aber das ist doch...
das Gebäude eignet sich doch gar nicht dazu. Wo legen sie denn die
Schachbretter hin? Wo sitzen sie? Im Mikwebecken?
Als ich das zweite Mal
hinkam, hatten sie schon Holzbalken über das Tauchbecken gelegt und
den Umkleideraum mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Und eine
Tee-Ecke haben sie sich auch eingerichtet.
Was heißt das, „sie
haben den Umkleideraum mit Tischen und Stühlen vollgestellt“? Es
handelt sich hier immerhin um öffentliches Eigentum!
Da gibt es wohl
jemanden mit geschickten Händen; ich muss sagen, dass sie sehr
gut...
Das ist eine
Katastrophe, Ben Zuk, eine Katastrophe! Weißt du, was passiert, wenn
Mandelsturm kommt und sieht, dass da statt seiner Mikwe ein
Schachclub steht?
Als Einlassfrau für die
Mikwe wird nun ausgerechnet Moshes heimliche Jugendliebe aus dem
Kibbuz verpflichtet: Ayelet, die ihn nach einer jahrelangen ebenso
wahrhaftigen wie leidenschaftlichen Beziehung vor sieben Jahren nach
einem traumatischen Schwangerschaftsabbruch verlassen hatte und
seither ebenfalls eine neue Heimat im orthodoxen Judentum gefunden
hat. Ihr gleichermaßen streng religiöser Mann ist nur deshalb
vorübergehend mit ihr vom heimatlichen New York nach Zfat gezogen,
weil das kinderlose Paar sich von der fruchtbaren spirituellen
Atmosphäre der Stadt mit seinen zahlreichen Synagogen und
Heiligengräbern eine sehr leibliche Empfängnis erhofft.
Währenddessen kämpft das alternde russische Paar Katja und Anton
mit dem ungewohnten Klima sowie seinen Depressionen und seiner
Impotenz. Katjas zwölfjähriger Enkel hingegen fragt sich, wie er
die Aufmerksamkeit und Liebe seiner Klassenkameradin gewinnen kann,
und der unglückliche Naim sucht nach einem Weg, um seinen
unerbittlichen Kerkermeister von seiner offensichtlichen Unschuld zu
überzeugen. Glücklicherweise hat der Palästinenser kurz vor seiner
Verhaftung unwillentlich etwas anderes beobachtet, das in gänzlich
anderem Wortsinn etwas mit Vögeln zu tun hat. Was nun aber scheinen
mag wie der komplette Handlungsabriss des Buches, ist allerdings nur
die Vorbedingung für Eshkol Nevos Roman, die bereits auf den ersten
fünfzig Seiten auserzählt ist.
Zfat, Tschernobyl-Synagoge/Foto: Emmanuel Dyan |
Jetzt erst beginnt das
eigentliche literarische Wunder: der Autor (und der Leser mit ihm)
gewinnt im Erzählfluss so viel ehrliche Sympathie und Mitgefühl für
seine Protagonisten, dass er scheinbar ungewollt und wie beiläufig
das Genre der reinen Satire verlässt und uns einen tiefen,
erkenntnisreichen Einblick in die unterschiedlichen Lebensentwürfe,
Hoffnungen und Träume seiner handelnden Personen gewährt, der es
uns auf sehr humorvolle und liebenswürdige Art und Weise erlaubt,
Anteil zu nehmen, ohne zu werten und uns im scheinbar Fremden ebenso
treffend widergespiegelt erkennen wie wir uns im scheinbar
Alltäglichen oftmals fremd fühlen. Dies aber mit literarischen
Mitteln sichtbar und auch gefühlsmäßig nachvollziehbar zu machen
ist unverkennbar eines der Hauptanliegen des Autors, das wir schon
aus seinen früheren Romanen kennen und schätzen gelernt haben.
Wirkliche Empathie aber wäre allein mit satirischen Mitteln nicht zu
erreichen, deshalb ist auch die Frage vollkommen obsolet, ob die
schleichende Abkehr von diesem Genre gewollt oder ungewollt ist –
sie entspricht im vollen Umfang der künstlerischen Intention Eshkol
Nevos, was seine Literatur für den unvoreingenommenen Leser so
wertvoll macht. Aus diesem Grund ist auch die hierzulande so
gebräuchliche Trennung von E- und U-Literatur auf Eshkol Nevos Werke
nicht anwendbar, denn er will vereinen, nicht trennen.
Der gewöhnliche
Mönchfink kommt drei Wochen vor seiner Partnerin im Land an. Sie
hält sich noch ein bisschen im Osten auf, bevor sie losfliegt, ihm
nach. Der Mänchsfink ist sehr beschäftigt, er sammelt mit dem
Schnabel Körner, ab und zu fliegt er auf, um zu weiteren Körnern zu
gelangen. Der gewöhnliche Mönchsfink zählt nicht die Tage, bis
seine Partnerin zu ihm zurückkehrt, er hebt auch nicht den Blick zum
Himmel, um zu sehen, ob sie naht. Ganz anders dagegen der
ungewöhnliche Mönchsfink... […]
Der ungewöhnliche
Mönchsfink hebt nämlich den Blick durchaus zum Himmel. Etwa alle
dreißig Sekunden. Dem ungewöhnlichen Mönchsfink schmecken die
Samenkörner nicht ohne sie. Der ungewöhnliche Mönchsfink ist sogar
in der Lage, seinen Schwarm zu verlassen und wieder zurückzufliegen,
entgegen der Zugrichtung, gen Osten, in der Hoffnung sie unterwegs zu
finden, auch wenn er dabei Gefahr läuft, sich zu verfliegen und
irgendwann vor lauter Erschöpfung ins Wasser zu stürzen. Der
ungewöhnliche Mönchsfink ist, noch während er untergeht, in der
Lage zu denken: Dieser Versuch hat sich gelohnt.
Als Symbol für die
Sehnsucht nach Zugehörigkeit im unbekannten, bisher unerprobten
„individuell Richtigen“ hat Nevo für seinen neuen Roman das
fiktive ornithologische Phänomen der „Lost Solos“ erfunden:
einzelne Vertreter beliebiger Vogelgattungen, die sich als
Einzelgänger aus eigenem Entschluss weit entfernt von ihrem üblichen
Lebensraum und ihren Artgenossen aufhalten. So ergeht es auch den
meisten seiner menschlichen Protagonisten in „Die einsamen
Liebenden“. Die Auflösung ihrer Fremdheit gelingt den meisten von
ihnen zwar nur vorübergehend. Doch die aus dieser positiv
überwältigenden Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse verändern ihre
Weltwahrnehmung tiefgreifend, sowohl gefühlsmäßig als auch auf
ihre Ratio bezogen und lassen sie schließlich ruhiger, dankbarer und
glücklicher (weiter)leben. In diesem unaufdringlichen, vom Autor
behutsam angestoßenen Lernprozess vermag auch der mitfühlende Leser
Hermann Hesses berühmtes Gedicht „Stufen“ spontan und
eigenmächtig umzuformulieren, durchaus im Sinne des Dichters: „Und
jedem Scheitern wohnt ein Zauber inne“ – es ist nur eine Frage
der Perspektive.
Eshkol Nevo/Foto: Susanne Schleyer |
Wenn man Nevos
vielschichtig-unterhaltsamen Romane in eine chronologische Abfolge
setzen wollte (was sich rückblickend als äußerst naheliegend
herausstellt), müsste man „Die einsamen Liebenden“ an den Beginn
stellen: es spielt vor der Ermordung Yitzhak Rabins durch einen
jüdischen Nationalisten im Jahr 1995, die im Bewusstsein der meisten
Israelis das traumatische Ende der Illusion eines greifbaren Friedens
zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten sowie
insbesondere mit den Palästinensern markierte, das voraussehbare
Ende einer Optimismus-Epidemie. Insofern ist der satirische Grundton
und die humorvolle Leichtigkeit des Buches vollkommen berechtigt. Am
bisherigen Ende dieser Chronologie müsste allerdings der in der
unmittelbaren Gegenwart spielende desillusionierende Roman „Neuland“
stehen, in dem in Südamerika ein jüdischer Neuanfang gewagt wird –
mit den ursprünglichen Idealen der israelischen Staatsgründer, aber
befreit von dem unlösbaren Konflikt gut gemeinter
spät-imperialistischer Dominanz. Nicht nur hier erweist sich Eshkol
Nevo als einer der visionärsten und menschlichsten unter den
zeitgenössischen israelischen Schriftstellern, da er um keinen Preis
bereit scheint, einem neuen Denken all jenes unterzuordnen, was er
über die Unzulänglichkeit der menschlichen Seele weiß.
„Die einsamen Liebenden“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, erschienen
bei dtv, 304 Seiten, € 16,90
PS: Es ist leicht, Eshkol
Nevo zu unterschätzen. Aber noch leichter ist es, Amos Oz oder David
Grossman zu überschätzen.
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