Jerusalem

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Mittwoch, 6. April 2016

„Die einsamen Liebenden“ von Eshkol Nevo

Dass die Qualität erzählender Literatur nicht abhängig von ihrem Sujet ist, beweist der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo mit jedem seiner Romane einfallsreich aufs Neue. Man sollte sich deshalb nicht von einer scheinbar objektiven Inhaltsangabe seiner Werke davon abschrecken lassen, diesen großen empathischen Poeten unter den erfolgreichen israelischen Romanciers für sich zu entdecken. Sein hoch ambitioniertes, vielstimmiges Debüt „Vier Häuser und eine Sehnsucht“ steht heute als eines nur weniger Werke zeitgenössischer Autoren auf dem Lehrplan israelischer Schulen, das auch der vernachlässigten Sicht israelischer Palästinenser eine deutlich artikulierte Stimme verleiht. In seiner ernüchternden literarischen Recherche „Neuland“ hat er einen ebenso originellen wie kompetenten, möglicherweise definitiven Abgesang auf den schon zur Zeit seiner Entstehung anachronistischen politischen Zionismus geschaffen. Sein äußerlich unspektakulär scheinender Roman „Wir haben noch das ganze Leben“ erzählt die zwiespältige, konfliktreiche Freundschaft von vier Männern, die sich seit ihrer gemeinsam verbrachten Kindheit in vielfacher Hinsicht „aus den Augen verloren“ haben, sich aber immer noch alle vier Jahre vor dem Fernseher treffen, um gemeinsam das Finale der jeweiligen Fußball-WM anzuschauen.




Auch Eshkol Nevos erst kürzlich in deutscher Übersetzung erschienener neuer Roman „Die einsamen Liebenden“ schafft es wie alle seine bisherigen Bücher scheinbar ganz mühelos, gleichzeitig unterhaltsam und tiefgründig zu sein. Dabei beginnt das Buch wie eine gelungene Hommage an den israelischen Satiriker Ephraim Kishon: Anfang der 1990er Jahre bringt eine massive Einwanderungswelle aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion mehr als 600.000 Neueinwanderer nach Israel, die nicht nur zum überwiegenden Teil gar nicht jüdisch-religiös sozialisiert sind, sondern teilweise auch keinerlei nennenswertes Interesse an jüdischem Glauben oder zionistisch-israelischen Traditionen mitbringen. Der Bürgermeister der abgelegenen, überwiegend von religiösen Juden bewohnten Kleinstadt Zfat in den galiläischen Bergen, die vor allem von ihrer pittoresken 500jährigen Vergangenheit als religiöses und kabbalistisches Zentrum lebt, bemüht sich unermüdlich darum, dass der Staat auch seiner vernachlässigten Gemeinde eine gewisse Anzahl von Neueinwanderern zuteilt, damit diese in das neu geschaffene moderne Wohngebiet „Ehrenquell“ einziehen können, das von den Bürgern aufgrund einer obskuren Prophezeiung bisher konsequent gemieden wird.

Als Ältester einer Familie mit acht Kindern neigte Danino dazu, für alles die Verantwortung zu übernehmen – eine Neigung, die perfekt mit der Neigung seiner Frau harmonierte, ihm an allem die Schuld zu geben. Doch diesmal funktionierte es nicht. Diese Schuld nahm er nicht auf sich. […] Also hörte Danino auf, jeden Tag eine Seite Talmud zu studieren, er hörte auf zu beten und in die Synagoge zu gehen und stürzte sich stattdessen in weitverzweigte öffentliche Aktivitäten: Er gründete wohltätige Vereine, rief verschiedene Ausschüsse ins Leben und begann, Koalutionen zu bilden. Zwei Jahre später hatte er sich an der Spitze einer unabhängigen Liste zur Bürgermeisterwahl aufstellen lassen. Auf seinen Wahlplakaten stand über einer Nahaufnahme seiner traurigen Augen: „Avraham Danino, ein Politiker auf Augenhöhe.“ – Er erhielt die absolute Mehrheit und zog ins Rathaus ein, was ihm ermöglichte, immer länger von zu Hause fernzubleiben und die Distanz zu seiner Frau vollends festzuschreiben. Scheiden ließ er sich nicht, warum auch. Das wäre bei seinen Wählern nicht gut angekommen. Doch er vergaß nicht, was sie ihm vorgeworfen hatte und in welcher Situation.

Der Bürgermeister erhofft sich von einer offiziellen behördlichen Zuteilung von Neueinwanderern aber nicht nur großzügige staatliche Zuschüsse und dringend benötigtes politisches Ansehen sondern (ganz im Geheimen) auch eine knackige, ledige, vollbusige russische Blondine, die seiner wachsenden Einsamkeit in Zukunft entgegenwirken könnte. Als seine Bemühungen nach jahrelangen unermüdlichen Eingaben an das zuständige Ministerium endlich von Erfolg gekrönt sind, muss er jedoch eine bittere Enttäuschung hinnehmen: der lang erwartete Reisebus mit russischen Neueinwanderern, der „Ehrenquell“ schließlich erreicht, ist voller phlegmatischer Rentner, die kaum Hebräisch sprechen und wenig Interesse an anderen Themen als Schach zeigen. Da bietet sich für den ehrgeizigen Politiker ganz unverhofft eine neue Chance, als ein langatmiger Brief eines reichen amerikanischen Juden eintrifft, der an seinem Lebensabend ausgerechnet der „Stadt der Gerechten“ eine repräsentative Mikwe stiften möchte, ein rituelles jüdisches Badehaus, das der vorgeschriebenen sittlichen Reinigung dient. Da die Mikwendichte im religiös geprägten Zfat allerdings um einiges höher ist als erwartet, bleibt als einziger möglicher Standort nur noch das argwöhnisch betrachtete Viertel „Ehrenquell“, das im Volksmund mittlerweile „Sibirien“ genannt wird.

Zfat/Foto: Beny Shlevich

Dieser Standort erweist sich aber nicht nur aufgrund der vollkommen areligiösen Bevölkerung als problematisch. Die Arbeiten an dem kurzerhand bei dem versierten palästinensischen Spezialisten Naim in Auftrag gegebenen Rohbau, einem erklärten Pazifisten und passionierten Hobby-Ornithologen, müssen schon bald unversehens abgebrochen werden, weil die Baustelle in unmittelbarer Sichtweite eines geheimen Militärlagers liegt und der während seiner Pausen stets mit seinem Fernglas nach Vögeln Ausschau haltende Bauleiter vom Militärgeheimdienst unter Spionageverdacht verhaftet und interniert wird. Die Einstellung neuer Handwerker scheitert stets am Einspruch des Militärs, bis sich endlich notgedrungen der persönliche Referent des Bürgermeisters der Sache annimmt, ein ehemaliger Geheimdienstoffizier, der sich in seinem Leben als neu bekehrter streng Orthodoxer genauso fremd fühlt wie in seinem früheren Leben als Kibbuznik. Nun aber nicht genug damit, dass die russischen Einwanderer den sich der Fertigstellung zuneigenden Mikwebau für einen Schachclub halten und keine andere Verwendung des Gebäudes hinzunehmen bereit sind.

Wie kommen die denn plötzlich auf Schach? Danino dreht beide Daumen, die über seinen Hosengürtel hängen, schockiert zur Seite.
Ich weiß auch nicht, entschuldigt sich Ben Zuk. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen sind.
Aber das ist doch... das Gebäude eignet sich doch gar nicht dazu. Wo legen sie denn die Schachbretter hin? Wo sitzen sie? Im Mikwebecken?
Als ich das zweite Mal hinkam, hatten sie schon Holzbalken über das Tauchbecken gelegt und den Umkleideraum mit Tischen und Stühlen vollgestellt. Und eine Tee-Ecke haben sie sich auch eingerichtet.
Was heißt das, „sie haben den Umkleideraum mit Tischen und Stühlen vollgestellt“? Es handelt sich hier immerhin um öffentliches Eigentum!
Da gibt es wohl jemanden mit geschickten Händen; ich muss sagen, dass sie sehr gut...
Das ist eine Katastrophe, Ben Zuk, eine Katastrophe! Weißt du, was passiert, wenn Mandelsturm kommt und sieht, dass da statt seiner Mikwe ein Schachclub steht?

Als Einlassfrau für die Mikwe wird nun ausgerechnet Moshes heimliche Jugendliebe aus dem Kibbuz verpflichtet: Ayelet, die ihn nach einer jahrelangen ebenso wahrhaftigen wie leidenschaftlichen Beziehung vor sieben Jahren nach einem traumatischen Schwangerschaftsabbruch verlassen hatte und seither ebenfalls eine neue Heimat im orthodoxen Judentum gefunden hat. Ihr gleichermaßen streng religiöser Mann ist nur deshalb vorübergehend mit ihr vom heimatlichen New York nach Zfat gezogen, weil das kinderlose Paar sich von der fruchtbaren spirituellen Atmosphäre der Stadt mit seinen zahlreichen Synagogen und Heiligengräbern eine sehr leibliche Empfängnis erhofft. Währenddessen kämpft das alternde russische Paar Katja und Anton mit dem ungewohnten Klima sowie seinen Depressionen und seiner Impotenz. Katjas zwölfjähriger Enkel hingegen fragt sich, wie er die Aufmerksamkeit und Liebe seiner Klassenkameradin gewinnen kann, und der unglückliche Naim sucht nach einem Weg, um seinen unerbittlichen Kerkermeister von seiner offensichtlichen Unschuld zu überzeugen. Glücklicherweise hat der Palästinenser kurz vor seiner Verhaftung unwillentlich etwas anderes beobachtet, das in gänzlich anderem Wortsinn etwas mit Vögeln zu tun hat. Was nun aber scheinen mag wie der komplette Handlungsabriss des Buches, ist allerdings nur die Vorbedingung für Eshkol Nevos Roman, die bereits auf den ersten fünfzig Seiten auserzählt ist.

Zfat, Tschernobyl-Synagoge/Foto: Emmanuel Dyan

Jetzt erst beginnt das eigentliche literarische Wunder: der Autor (und der Leser mit ihm) gewinnt im Erzählfluss so viel ehrliche Sympathie und Mitgefühl für seine Protagonisten, dass er scheinbar ungewollt und wie beiläufig das Genre der reinen Satire verlässt und uns einen tiefen, erkenntnisreichen Einblick in die unterschiedlichen Lebensentwürfe, Hoffnungen und Träume seiner handelnden Personen gewährt, der es uns auf sehr humorvolle und liebenswürdige Art und Weise erlaubt, Anteil zu nehmen, ohne zu werten und uns im scheinbar Fremden ebenso treffend widergespiegelt erkennen wie wir uns im scheinbar Alltäglichen oftmals fremd fühlen. Dies aber mit literarischen Mitteln sichtbar und auch gefühlsmäßig nachvollziehbar zu machen ist unverkennbar eines der Hauptanliegen des Autors, das wir schon aus seinen früheren Romanen kennen und schätzen gelernt haben. Wirkliche Empathie aber wäre allein mit satirischen Mitteln nicht zu erreichen, deshalb ist auch die Frage vollkommen obsolet, ob die schleichende Abkehr von diesem Genre gewollt oder ungewollt ist – sie entspricht im vollen Umfang der künstlerischen Intention Eshkol Nevos, was seine Literatur für den unvoreingenommenen Leser so wertvoll macht. Aus diesem Grund ist auch die hierzulande so gebräuchliche Trennung von E- und U-Literatur auf Eshkol Nevos Werke nicht anwendbar, denn er will vereinen, nicht trennen.

Der gewöhnliche Mönchfink kommt drei Wochen vor seiner Partnerin im Land an. Sie hält sich noch ein bisschen im Osten auf, bevor sie losfliegt, ihm nach. Der Mänchsfink ist sehr beschäftigt, er sammelt mit dem Schnabel Körner, ab und zu fliegt er auf, um zu weiteren Körnern zu gelangen. Der gewöhnliche Mönchsfink zählt nicht die Tage, bis seine Partnerin zu ihm zurückkehrt, er hebt auch nicht den Blick zum Himmel, um zu sehen, ob sie naht. Ganz anders dagegen der ungewöhnliche Mönchsfink... […]
Der ungewöhnliche Mönchsfink hebt nämlich den Blick durchaus zum Himmel. Etwa alle dreißig Sekunden. Dem ungewöhnlichen Mönchsfink schmecken die Samenkörner nicht ohne sie. Der ungewöhnliche Mönchsfink ist sogar in der Lage, seinen Schwarm zu verlassen und wieder zurückzufliegen, entgegen der Zugrichtung, gen Osten, in der Hoffnung sie unterwegs zu finden, auch wenn er dabei Gefahr läuft, sich zu verfliegen und irgendwann vor lauter Erschöpfung ins Wasser zu stürzen. Der ungewöhnliche Mönchsfink ist, noch während er untergeht, in der Lage zu denken: Dieser Versuch hat sich gelohnt.

Als Symbol für die Sehnsucht nach Zugehörigkeit im unbekannten, bisher unerprobten „individuell Richtigen“ hat Nevo für seinen neuen Roman das fiktive ornithologische Phänomen der „Lost Solos“ erfunden: einzelne Vertreter beliebiger Vogelgattungen, die sich als Einzelgänger aus eigenem Entschluss weit entfernt von ihrem üblichen Lebensraum und ihren Artgenossen aufhalten. So ergeht es auch den meisten seiner menschlichen Protagonisten in „Die einsamen Liebenden“. Die Auflösung ihrer Fremdheit gelingt den meisten von ihnen zwar nur vorübergehend. Doch die aus dieser positiv überwältigenden Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse verändern ihre Weltwahrnehmung tiefgreifend, sowohl gefühlsmäßig als auch auf ihre Ratio bezogen und lassen sie schließlich ruhiger, dankbarer und glücklicher (weiter)leben. In diesem unaufdringlichen, vom Autor behutsam angestoßenen Lernprozess vermag auch der mitfühlende Leser Hermann Hesses berühmtes Gedicht „Stufen“ spontan und eigenmächtig umzuformulieren, durchaus im Sinne des Dichters: „Und jedem Scheitern wohnt ein Zauber inne“ – es ist nur eine Frage der Perspektive.

Eshkol Nevo/Foto: Susanne Schleyer

Wenn man Nevos vielschichtig-unterhaltsamen Romane in eine chronologische Abfolge setzen wollte (was sich rückblickend als äußerst naheliegend herausstellt), müsste man „Die einsamen Liebenden“ an den Beginn stellen: es spielt vor der Ermordung Yitzhak Rabins durch einen jüdischen Nationalisten im Jahr 1995, die im Bewusstsein der meisten Israelis das traumatische Ende der Illusion eines greifbaren Friedens zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten sowie insbesondere mit den Palästinensern markierte, das voraussehbare Ende einer Optimismus-Epidemie. Insofern ist der satirische Grundton und die humorvolle Leichtigkeit des Buches vollkommen berechtigt. Am bisherigen Ende dieser Chronologie müsste allerdings der in der unmittelbaren Gegenwart spielende desillusionierende Roman „Neuland“ stehen, in dem in Südamerika ein jüdischer Neuanfang gewagt wird – mit den ursprünglichen Idealen der israelischen Staatsgründer, aber befreit von dem unlösbaren Konflikt gut gemeinter spät-imperialistischer Dominanz. Nicht nur hier erweist sich Eshkol Nevo als einer der visionärsten und menschlichsten unter den zeitgenössischen israelischen Schriftstellern, da er um keinen Preis bereit scheint, einem neuen Denken all jenes unterzuordnen, was er über die Unzulänglichkeit der menschlichen Seele weiß.

„Die einsamen Liebenden“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, erschienen bei dtv, 304 Seiten, € 16,90

PS: Es ist leicht, Eshkol Nevo zu unterschätzen. Aber noch leichter ist es, Amos Oz oder David Grossman zu überschätzen.

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