Jerusalem

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Freitag, 27. Mai 2016

Verweigerung der Teilnahme am Leben

Es ist wohl das zweifelhafte Verdienst des amtierenden russischen Präsidenten, eine längst überwunden geglaubte Politikkultur wiederbelebt und zur Nachahmung vorgelebt zu haben, die nicht auf gleichberechtigtem Dialog und ehrlicher Übereinkunft beruht, sondern allein auf Vortäuschung derselben mit dem durchschaubaren, aber niemals offen artikulierten Motiv der Zementierung eigener subjektiver politischer Zielsetzungen. Der politische Gegner mit seinen antagonistischen Zielen dient dabei nicht als Gradmesser für den eigenen Realitätsbezug oder die eigene Kompromiss- und Geschäftsfähigkeit, sondern als ultimative Bestätigung der Unvereinbarkeit eigener Positionen mit jedweden differierenden äußeren Einflüssen. Diese Art der Politik ist die gelebte Selbstisolation aus eigenem Antrieb, die unlauterer Weise jedoch zur gleichen Zeit frech behauptet, lediglich eine notwendige Reaktion auf die als extrem gebrandmarkten Ziele des politischen Gegners zu sein. Auf diese Weise wird der politische Gegner nicht nur öffentlich zum Feindbild erklärt, sondern dient gleichzeitig als allgemeine unmittelbare Rechtfertigung für das eigene Beharren auf extremen Positionen bzw. deren Implementierung gegenüber dem politischen Gegner.

Sir Wilfrid an the Extremists/Historische Karikatur, 1911

Zwei aktuelle Beispiele für diese Art der Politikführung sind das Verhältnis des Präsidenten der Türkei zur EU sowie die Einstellung der AfD zum Zentralrat der Muslime in Deutschland. Der türkische Präsident hat seit Beginn seiner politischen Karriere und schon während seines ersten bedeutenden Amtes als Bürgermeister von Istanbul nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er die Türkei (anders als viele maßgebliche türkische Politiker sowie ein nicht geringer Teil der Bevölkerung seines Landes) weder kulturell noch politisch als Teil von Europa begreift. Für ihn ist Europa ein dankbares Mittel zur Profilierung seiner Person sowie der Türkei als bedeutende regionale politische Macht. Dass sein Bestreben, in der Türkei ein auf seine Person zugeschnittenes Päsidialsystem zu schaffen, ihn und sein Land lang- und mittelfristig von Europa isolieren muss, ist dabei sein grundlegendes Kalkül: Europa wird den umstrittenen Flüchtlingsdeal ebenso aufkündigen müssen wie alle anderen Assoziierungsabkommen. Wenn Europa diesen Schritt aus diplomatischen Erwägungen nicht wagt, wird der Präsident ihn selber beschreiten. Dabei befindet er sich in der komfortablen Situation, in jedem Fall behaupten zu können, es läge am elitären Dünkel Europas, welches die Türkei nicht als gleichberechtigten Partner akzeptiere. Hier hat Europa möglicherweise eine kapitale Chance vertan, als die geeigneten Ansprechpartner auf türkischer Seite noch existierten.

Exakt dieselbe Strategie verfolgt die AfD – nicht nur im Verhältnis zum Zentralrat der Muslime in Deutschland, mit dem ein „Gesprächsversuch“ gestern erwartungsgemäß medienwirksam scheiterte. Die absurde Behauptung der AfD, mit Vertretern einer Religionsgemeinschaft, die sie selbst mit all ihren spezifischen Äußerungsformen per se ablehnt, zu einer gleichberechtigten Gesprächsgrundlage finden zu wollen, entsprach von Anfang an ihrem negativen politischen Kalkül der umfassenden kulturellen und politischen Selbstabgrenzung. Der Zentralrat hingegen nutzte die willkommene Gelegenheit ebenso medienwirksam, die AfD nicht zu Unrecht in die geistige Nähe der Nationalsozialisten und ihrer Politik der Ausgrenzung zu setzen. Mit diesem Vergleich wiederum fühlte sich die AfD nicht wohl und beklagte sich wenig überzeugend, dass der Gegner ihr „auf demokratischem Wege entstandenes“ Wahlprogramm ablehne, ohne gleichzeitig die entscheidende Frage zu beantworten, was an einem undemokratischen Programm einer der Verfassung grundsätzlich ablehnend gegenüber stehenden Partei demokratisch sein soll. Das Wahlprogramm der AfD besteht fast ausschließlich aus einer bösartigen Instrumentalisierung des ihrer Meinung nach Anderen im Hinblick auf eine negative Selbstabgrenzung zur Schaffung einer zweifelhaften „pseudodeutschen“ Identität, die realistischerweise nicht einmal mit den verbrecherischen Methoden der Nationalsozialisten erreichbar wäre.


Paul Manship: "Zyklus des Lebens"/Foto: Elizabeth Thomsen

Abgesehen davon, dass sich eine kollektive Selbstisolation meist als wesentlich verhängnisvoller erweist als eine rein private, ist vor allem eine Frage interessant: was führt einflussreiche politische Führer ebenso wie ganz normale, sich in ihrem Selbstbild ohnmächtig fühlende Durchschnittsbürger gleichermaßen dazu, ihr vermeintliches Heil ausgerechnet in der selbstgewählten Isolation zu suchen? Es ist zweifellos für jeden Menschen wichtig, seine eigenen Grenzen selbst zu bestimmen und im Alltag nicht kontinuierlich zum Überschreiten dieser Grenzen gezwungen zu sein. Er muss sich aber auch bewusst sein, dass er umso weniger fähig ist, in einer ihrem Charakter nach unvorhersehbaren oder gar chaotischen Realität zu leben, je enger er seine persönlichen Grenzen definiert. In der aktuellen Entwicklung scheinen nicht nur auf der abstrakten politischen sondern auch auf der unmittelbaren konkreten persönlichen Ebene für viele Menschen Rückzug und Isolation probate Auswege aus ihrem generellen kulturellen Unbehagen zu sein, obwohl ihnen bewusst sein muss, dass diese als typischer Merkmale der Regression letztlich zu nichts anderem als zu persönlicher und gesellschaftlicher Stagnation führen können. Die ursprüngliche kindliche Weltsicht äußert sich in einem vorurteilslosen, von Neugier getriebenen Streben nach Einheit mit allen Erscheinungsformen des Lebens, das lediglich vorübergehend durch etwaige entwicklungsbedingte Beschränkungen des Kindes begrenzt wird. Das oben beschriebene Phänomen der Selbstisolation hingegen ließe sich am einfachsten als kindische Weltsicht beschreiben, als selbstauferlegte Beschränkung aus Angst vor dem Unbekannten, Chaotischen und Neuen und als unzulängliche Flucht in die unerreichbare Behaglichkeit des Vergangenen: die Verweigerung, aktiv am Leben teilzunehmen. Was könnte es Traurigeres geben?

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