Schwer zu sagen, was nach
den Brüsseler Anschlägen am Dienstag an der ins Pflaster
eingelassenen Windrose in der Fußgängerzone einer deutschen
Großstadt zuerst da war: die Blumen für die Opfer von Brüssel oder
– in der entgegengesetzten Richtung, kaum zwei Meter davon entfernt
– die Blumen für die Opfer von Damaskus. Und während die
bemerkenswert gefühlskalte Frauke Petry denjenigen, die sich
öffentlich mit den Opfern solidarisieren, Heuchelei vorwirft, hat
die Bildzeitung endlich, nach zwei Tagen Suche eine tragische
Geschichte von deutschen Opfern für ihre Titelseite gefunden, als
wäre es nur dann möglich, Mitgefühl zu empfinden, wenn auch
Deutsche unter den Opfern sind. Es ist augenfällig, dass es unserer
Gesellschaft bislang nicht gelungen ist, einen geeigneten
öffentlichen Raum zu schaffen, in dem wir dem ganzen Spektrum
unserer Gefühle und Gedanken zwischen Ratlosigkeit, Panik und Trauer
angemessen Ausdruck verleihen könnten, ohne dafür beurteilt oder
sogar persönlich angegriffen zu werden.
"Windrose"/Foto: Bernd Schwabe |
Gibt es eine „richtige
Art“ zu trauern? Allein die Formulierung einer solchen Frage
offenbart nicht nur eine tiefe Verunsicherung, sondern auch ein
zunehmendes Unvermögen des Individuums, seinen eigenen Standpunkt
frei zu bestimmen. Dass angesichts von scheinbar wahllos
zuschlagendem Terror der Wunsch nach Ordnung im eigenen
Gefühlshaushalt groß ist, scheint verständlich. Zur Zeit muss man
allerdings den Eindruck gewinnen, dass in Teilen unserer Gesellschaft
eine viel umfassendere und viel tiefer sitzende Verunsicherung
vorhanden zu sein scheint als wir uns einzugestehen bereit sind.
Viele Menschen wünschen sich klare Worte und entschiedenes Handeln.
Gewissenlose Populisten wie Frau Petry wissen und spüren das – sie
nützen es aus, denn es ist ihre Chance, ihren eigenen inneren
Führerstaat in der realen Welt zu verwirklichen. Müssen wir
angesichts der wachsenden Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten der EU und
den flächendeckenden Erfolgen rechtspopulistischer Parteien wirklich
eine Renaissance des Nationalstaats befürchten?
Der Wunsch nach Abgrenzung
oder besser: Abspaltung beruht auf einer umfassenden kulturellen
Verdrängung. Faschismus und Kommunismus haben uns im Verlauf des
Zwanzigsten Jahrhunderts eine stark vereinfachte Weltsicht
vermittelt, die den Einzelnen nicht nur von einem großen Teil seiner
natürlichen Verantwortung und vielen Rechten und Pflichten befreit
hat, sondern auch von seiner persönlichen Freiheit als menschliches
Individuum. Im Gegenzug hat der Einzelne neben zahlreichen
Sozialleistungen und sonstigen staatlichen Vergünstigungen, die ihn
von manchen alltäglichen Sorgen befreiten, auch eine fadenscheinige
Sicherheit bekommen: die trügerische Gewissheit, was nach Meinung
der Partei richtig und falsch, gut und böse ist. Trügerisch war
diese Sicherheit nicht nur deshalb, weil sie den Menschen bei vollem
Bewusstsein in einen unreifen, kindischen Zustand zurückversetzte,
sondern auch, weil sie von der Partei stets nach eigenem Belieben
willkürlich verändert werden konnte.
Grenzzaun zwischen Ungarn und Serbien/Foto: Bör Benedek |
Wenn wir heute über
multiethnische und multikulturelle historische Staatsgebilde wie das
Römische oder das Osmanische oder auch das Reich der Habsburger
reden, übernehmen wir erstaunlich oft weitgehend unkritisch die
Sicht des Nationalstaats des Neunzehnten oder Zwanzigsten
Jahrhunderts, der natürlich vor allem die angebliche Unterdrückung
der kulturellen Identitäten der unterschiedlichen Volksgruppen
innerhalb dieser Staaten brandmarkte. Die Überwindung der Gleichheit
vor dem Gesetz der verschiedenen Volks- oder Religionsgruppen
zugunsten einer einzelnen dominanten wurde als höchstes Ziel
ausgegeben. Dabei hatten die genannten Staaten jeweils über mehrere
Jahrhunderte Bestand, Römer und Osmanen hatten den von ihnen
unterworfenen Völkern sogar umfangreiche Freiheiten und Instrumente
der Selbstverwaltung gewährt. Die Schaffung der „modernen“
Türkei aus dem anatolischen Rumpfgebiet des Osmanischen Reiches ist
möglicherweise ein besonders gutes Beispiel dafür, welche neuen
Probleme die künstliche Schaffung einer Nation aus den
interkulturell vielfach miteinander verstrickten Volksgruppen
(Türken, Armenier, Griechen, Kurden) verursachen kann.
Doch auch in Osteuropa
haben Polen, Ukrainer, Deutsche, Ungarn, Slowaken, Rumänen und Juden
über viele Jahrhunderte in unterschiedlichsten Staaten friedlich
zusammengelebt, bevor der aufkommende Nationalismus und seine beiden
schlimmsten kriegerischen Entgleisungen ihre zum Teil äußerst
fruchtbare Koexistenz endgültig beendete. Die Koexistenz vieler
unterschiedlicher Volksgruppen innerhalb eines funktionierenden
Staates ist aber eine vollkommen natürliche und organische, kaum
vermeidbare Entwicklung. Der freie, selbstbestimmte Mensch möchte in
Frieden leben, aber er möchte auch in einem Staat leben, in dem er
etwas bewirken kann, dementsprechend wird er sich seinen
Aufenthaltsort aussuchen. Ein wesentlicher Konflikt ergibt sich nun
offensichtlich aus der unausgesprochenen Vorbedingung derjenigen, die
erwarten, dass etwas für sie bewirkt wird, ohne dass sie selbst
handeln müssen. Diese Prämisse aber entspricht der unreifen
Weltsicht des Bürgers einer faschistischen oder kommunistischen
Diktatur.
Sondermarke (1994) |
Der Nationalstaat, den die
AfD und andere rechte Kräfte scheinbar reaktivieren möchten, ist
weder eine erstrebenswerte Option noch entspricht er in den
parlamentarischen Demokratien Westeuropas den realen demographischen
Gegebenheiten. Er ist die reflexhafte Flucht in die unrichtige
Wunschvorstellung, dass Separation und Isolation Probleme lösen. Das
Gegenteil ist richtig: es scheint schon jetzt erwiesen, dass die
Attentäter von Brüssel und Paris gerade dort ein Zeichen setzen
wollten, wo sie sich ausgegrenzt, unverstanden und isoliert fühlten.
Lösen lassen sich Probleme, indem man aufeinander zugeht und
miteinander spricht. Die Philosophie der Trennung verleitet uns zu
der falschen Vorstellung, dass der Bürgerkrieg in Syrien und die von
dort ausgehende Flüchtlingsbewegung nichts mit uns zu tun haben. Wir
müssen aber begreifen, dass die Opfer von Damaskus genauso viel oder
genauso wenig mit uns zu tun haben wie die Opfer in Brüssel. Nur ein
handlungsfähiger, integrer und integrativer Staat, der für die
unterschiedlichen kulturellen Strömungen innerhalb seiner
Bevölkerung gleichermaßen attraktiv ist, kann dem Terror etwas
entgegensetzen.
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