Anfang der 1990er Jahre
hat der amerikanische Politologe Stanley Feldman für eine
repräsentative Befragung innerhalb der US-Bevölkerung vier
einfache, scheinbar unverfängliche Fragen entwickelt, mit deren
Hilfe sehr zuverlässige Aussagen darüber getroffen werden können,
wie stark innerhalb einer Gruppe von Befragten autoritäre und
hierarchische Einstellungen wirksam sind:
- Welche dieser beiden Eigenschaften sollte ein Kind Ihrer Meinung nach haben: Unabhängigkeit oder Respekt vor Älteren?
- Welche dieser beiden Eigenschaften sollte ein Kind haben: Folgsamkeit oder Selbstvertrauen?
- Wie sollte sich ein Kind Ihrer Meinung nach verhalten: aufmerksam oder artig?
- Welche dieser Eigenschaften sollte ein Kind haben: Neugier oder gutes Benehmen?
Die derzeitigen Erfolge
von Donald Trump in den USA, von der AfD in Deutschland oder anderen
rechtspopulistischen Bewegungen in ganz Europa zeigen, wie leicht
sich latent in der Bevölkerung vorhandene autoritäre und
hierarchische Einstellungen von gewissenlosen Politikern aktivieren
und bündeln lassen. Die indirekte, psychologisch durchdachte
Fragetechnik von Professor Feldman umgeht dabei ganz bewusst die
unverblümte, ohnehin kaum mit ja oder nein beantwortbare Frage:
„Mögen Sie Moslems?“ – Gleichzeitig setzt er auf kongeniale
Art und Weise an einem ganz entscheidenden Punkt an, der für die
spätere Weltsicht eines erwachsenen Menschen entscheidende
Grundlagen zu setzen vermag: die Erziehung unserer Kinder.
Raoul Hausmann: "Postkarte an Tristan Tzara" (1921) |
Man braucht gedanklich
nicht bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückzugehen, um zu
dem trostlosen Eindruck zu gelangen, dass auch heute in einem
großen Teil der deutschen Bevölkerung immer noch ein starker Wunsch
nach hierarchischen Strukturen und übergeordneten Autoritäten
vorhanden ist, der allein mit Autoritätshörigkeit oder -gläubigkeit
nur ungenügend beschrieben scheint. Schon im Kindergartenalter muss
ein Kind in vielen Familien lernen, dass es sich den Lebensäußerungen
seiner Eltern bedingungslos unterzuordnen hat. In der Schule lernt es
sich dem Lehrplan und einer standardisierten Beurteilung zu beugen
und im Berufsleben wird allzu oft eine bedingungslose Loyalität zum
Arbeitgeber verlangt. Natürlich erhält der willfährige Bürger
auch etwas dafür zurück, das ihn in seiner Passivität bestärkt:
Süßigkeiten, falsches Lob und Steuerfreibeträge.
Diese erkaufte
Unterwerfung muss von außen beständig gefüttert werden, um den
sonst überhand nehmenden Eindruck der Selbstverleugnung zu
verdrängen. Der passive, erwartungsvolle Bürger sieht den Staat,
den Arbeitgeber, den Anderen in ständiger Lieferpflicht. Aus dieser
verzerrten materialistischen Perspektive heraus betrachtet, ist die
bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen natürlich etwas
Ungeheuerliches: da kommen hunderttausende von Fremden ins Land, die
weder die vorherrschende jahrzehntelange Initiation der Unterwerfung
unter unser hierarchisches System absolviert noch etwas für die
hiesige Gesellschaft „geleistet“ haben und erhalten dennoch
Leistungen vom Staat, von denen sie unter bescheidenen Verhältnissen
für überschaubare Zeit ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Dieses unkonditionelle
Gebot mitmenschlicher Nothilfe muss aus den Augen des passiven
Bürgers wie eine Verhöhnung seiner antrainierten
materialistisch-ritualisierten Selbstverleugnung erscheinen: wenn ein
Anderer, Fremder bedingungslose Leistungen vom Staat bezieht, scheint
die angenommene Bedingung der eigenen Selbstverleugnung plötzlich
obsolet und er beginnt die bisherige Ordnung in Frage zu stellen.
Dass dies derzeit in so massivem, zum Teil sogar radikalem Umfang
geschieht, mag nicht unbedingt zu erwarten gewesen sein, vorhersehbar
war es auf jeden Fall. Der Vizekanzler und Vorsitzende der SPD hat
dieser neuen paradoxen Art von Sozialneid, dem Neid auf sozial
schlechter Gestellte, mit seiner absurden Forderung nach einem
„Solidaritätsprojekt für die deutsche Bevölkerung“als erster
Politiker der etablierten Parteien Rechnung getragen: eine solche
materielle Entschädigung ist genau das, was der passive Bürger vom
politischen Establishment jetzt erwartet.
Christian Rohlfs: "Der Bürger" (1922) |
Es scheint – und das ist
eine sehr bittere Diagnose – zum momentanen Zeitpunkt fast
unumgänglich, zumindest teilweise auf diese unbewusste Forderung
eines nicht geringen Teils der Bevölkerung einzugehen, wenn man
mittelfristig Schlimmeres verhüten will. Autoritäre Strukturen sind
aber kein wirksames Gegenmittel gegen substanzlosen Sozialneid und
ein diffuses kulturelles Unbehagen. Langfristig wirkungsvoller wäre
ein bewusster Paradigmenwechsel innerhalb der Gesellschaft, der schon
bei der liebevollen Kindererziehung ansetzt und eigenständige,
selbstverantwortliche, empathische und aktive menschlichen Individuen
zum Ziel hat, die in der Lage sind, sich den vielfältigen
Herausforderungen des Lebens mit wachen Sinnen, menschlichem
Mitgefühl und klarsichtigem Entscheidungsvermögen zu stellen. Um
eine solche Veränderung der vorherrschenden Mentalität zu
erreichen, braucht es vermutlich einige Generationen, deshalb sollten
wir jetzt damit beginnen, die Voraussetzungen dafür zu legen.
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