In seinem Film „Dekalog,
Eins“ (1989) über das erste biblische Gebot „Du sollst keine
anderen Götter haben neben mir“ erzählt der polnische Regisseur
Krzysztof Kieslowski vom tragischen Irrtum eines alleinerziehenden
Informatikers, der seinem elfjährigen Sohn gerade erst die
langersehnten Schlittschuhe geschenkt hat. Da dieser es kaum erwarten
kann, sein neues Geschenk auf dem frisch zugefrorenen, nahe gelegenen
See auszuprobieren, vermisst der Wissenschaftler mit großer Sorgfalt
die Dicke des Eises und rechnet anschließend die Wahrscheinlichkeit
von dessen Tragfähigkeit aus. Da er zu einem positiven Ergebnis
kommt, erlaubt er seinem Sohn das Schlittschuhlaufen, doch das große
Unglück geschieht – der Junge bricht ein und ertrinkt. Es wäre
allerdings selbst angesichts des ausgeprägten polnischen
Katholizismus zu kurzsichtig, den Film auf eine eindimensionale
Kritik an einem Götzen namens wissenschaftlicher Rationalität zu
reduzieren. Die entscheidende Frage, die der Regisseur mit seinem
klugen Film aufwirft, müsste eher wie folgt formuliert werden: „Kann
es für unser Handeln inmitten aller sonstiger möglicher relevanter
Beweggründe eine wichtigere Instanz geben als Leben und Wohl eines
Kindes?“
J. Tissot: "Moses und die zehn Gebote" (ca. 1896) |
Eine kulturell
hochentwickelte, wirtschaftlich prosperierende Gesellschaft muss sich
notwendigerweise immer zwischen verschiedenen, zum Teil sogar
antagonistischen Triebfedern ihres Handelns und ihrer Fortentwicklung
bewegen, die man metaphorisch mit einigem Recht durchaus als
miteinander konkurrierende Götter bezeichnen kann. Es ist wichtig,
sich dieser Tatsache bewusst zu sein: wir finden sie in
unterschiedlicher Ausprägung in der klassischen griechischen
Mythologie ebenso verkörpert wie im untergeordneten Pantheon der
christlichen Schutzheiligen oder alltäglichen Äußerungsformen der
Moderne ohne jeden religiösen Bezug. Alle diese Platzhalter
konkreter äußerer Erscheinungen verlangen mit ihren spezifischen
Eigenarten Aufmerksamkeit und Beachtung vom Einzelnen, wobei jeder
Mensch nach seinen eigenen Maßstäben und Neigungen oder auch nur
situationsbedingt den einen gegenüber dem anderen bevorzugen wird.
Diese abstrakten oder weltlichen Verkörperungen helfen uns, in
bestimmten Situationen und Lebensphasen verschiedene Aspekte einer
einzelnen Erscheinungsform oder einer bestimmten Aufgabe aktiv zu
vergegenwärtigen und sind somit ein geeignetes Mittel zu einer
differenzierten, pluralistischen Weltsicht.
Problematisch wird es
erst, wenn ein einzelner Gott bzw. seine weltliche Erscheinungsform
zum alleinigen Maßstab menschlichen Handelns erhoben wird, denn
diese dogmatische Überhöhung mit Anspruch auf absolute
Universalität kann nur auf Kosten des menschlichen Bewusstseins
gehen. Das Dogma des Monotheismus zerstört unser ausdifferenziertes
sinnliches Bewusstsein für die unterschiedlichen belebten und
gedanklichen Erscheinungsformen unserer Umwelt – sowohl im
übertragenen wie auch im unmittelbaren und konkreten Sinne. Wenn es
außerdem noch zu einer Staatsreligion erhoben wird, beeinträchtigt
es unsere soziale, wirtschaftliche und kulturelle Handlungsfähigkeit
erheblich. Frankreich hat deshalb als unmittelbare Konsequenz aus der
Dreyfus-Affäre seit 1905 zunächst die strenge Trennung von Staat
und Kirche forciert und 1946 als erster europäischer Staat das gute
und nützliche Prinzip der Laizität fest in seiner Verfassung
verankert. Bis heute bekennen sich weltweit erst sechzehn Staaten per
Verfassung zu diesem Prinzip, in Europa sind es neben Frankreich
lediglich Albanien, Portugal und Tschechien. In dem 1923 aus dem
Kernland des Osmanischen Reichs künstlich geschaffenen neuen
Nationalstaat Türkei (mit seiner multikulturellen, multiethnischen
und multireligiösen Zusammensetzung) besteht es heute nur noch de
iure.
Es ist aber sehr viel
weniger interessant, über konkrete monotheistische und
polytheistische religiöse Anschauungen sowie ihre jeweiligen Vor-
oder Nachteile zu reden als über die Prinzipien, die unser
individuelles oder kollektives Handeln heute bestimmen. Das
dominierende „göttliche“ Regulativ der Neuzeit ist ohne Zweifel
die Zeitmessung als Grundlage unseres ökonomischen Handelns –
sowohl im wirtschaftlichen als auch im privaten Sinne. Es besteht,
ohne dass wir uns dieser irritierenden Tatsache bewusst werden, neben
unserem individuellen Glauben oder sonstigen persönlichen
weltanschaulichen Prinzipien. Dieses Regulativ ist so dominant, dass
es wohl keiner ernsthaft als entbehrlich bezeichnen würde, obwohl
viele Menschen deutlich sichtbar unter dem von der Zeitmessung
verursachten Druck leiden. Uhren finden wir als „Götterbilder“
der Moderne seit Jahrhunderten auf vielen öffentlichen Plätzen
ebenso wie an unseren Handgelenken. Aus neutraler, unabhängiger
Perspektive betrachtet, müssen sie kaum weniger rührend oder
befremdlich wirken als Rosenkränze oder Halsketten mit Magen David,
Halbmond oder Kreuz. Gleichzeitig widerspricht es den Grundprinzipien
einer funktionierenden Gesellschaft, humanistische Grundsätze einem
Prinzip wie Zeitmessung, unbedingter wissenschaftlicher Rationalität
oder dem Glauben an einen bestimmten Gott unterzuordnen.
Margret Hofheinz-Döring: "Tanz ums goldene Kalb" (1962) |
Die differenzierte Sicht
auf unterschiedliche Götter, Religionen oder weltliche
Handlungsprinzipien aller Art als gleichberechtigte Grundlagen für
unsere auf bestimmte einzelne Situationen bezogenen Entscheidungen
verhilft uns zu einem klareren Bewusstsein, das uns handlungsfähiger
und selbstbestimmter macht. Die kategorische Forderung: „Du sollst
keine anderen Götter haben neben mir“ kann deshalb nur rückwirkend
aus der Sicht dessen geltend gemacht werden, der seine jeweilige
situative Herausforderung mit Hilfe seines jeweiligen Leitprinzips
erfolgreich bestanden hat oder eben daran gescheitert ist. Bezogen
auf Kieslowskis Beispiel heißt das: Der trauernde Informatiker muss
erkennen, dass er das Prinzip der Sicherheit seines Sohnes niemals
dem Prinzip der wissenschaftlichen Rationalität hätte unterordnen
dürfen. Für einen selbstbestimmten und aufgeklärten Menschen muss
das erste Gebot deshalb heißen „Ich bin ein Gott von vielen, du
darfst so viele von uns haben, wie du willst, aber bitte schenke uns
Aufmerksamkeit und entscheide weise, wie wir dir dienen können.“ –
Dass wir am Ende trotz aller in unseren individuellen
Entscheidungsprozess eingebrachten Bewusstheit und Voraussicht unter
Umständen scheitern können, gehört zur universellen menschlichen
Erfahrung, vor der uns der unbedingte Glaube an einen einzelnen
eifersüchtigen Gott am allerwenigsten zu bewahren vermag.
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