Jerusalem

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Montag, 21. März 2016

Umkehrung eines Gebotes

In seinem Film „Dekalog, Eins“ (1989) über das erste biblische Gebot „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ erzählt der polnische Regisseur Krzysztof Kieslowski vom tragischen Irrtum eines alleinerziehenden Informatikers, der seinem elfjährigen Sohn gerade erst die langersehnten Schlittschuhe geschenkt hat. Da dieser es kaum erwarten kann, sein neues Geschenk auf dem frisch zugefrorenen, nahe gelegenen See auszuprobieren, vermisst der Wissenschaftler mit großer Sorgfalt die Dicke des Eises und rechnet anschließend die Wahrscheinlichkeit von dessen Tragfähigkeit aus. Da er zu einem positiven Ergebnis kommt, erlaubt er seinem Sohn das Schlittschuhlaufen, doch das große Unglück geschieht – der Junge bricht ein und ertrinkt. Es wäre allerdings selbst angesichts des ausgeprägten polnischen Katholizismus zu kurzsichtig, den Film auf eine eindimensionale Kritik an einem Götzen namens wissenschaftlicher Rationalität zu reduzieren. Die entscheidende Frage, die der Regisseur mit seinem klugen Film aufwirft, müsste eher wie folgt formuliert werden: „Kann es für unser Handeln inmitten aller sonstiger möglicher relevanter Beweggründe eine wichtigere Instanz geben als Leben und Wohl eines Kindes?“

J. Tissot: "Moses und die zehn Gebote" (ca. 1896)

Eine kulturell hochentwickelte, wirtschaftlich prosperierende Gesellschaft muss sich notwendigerweise immer zwischen verschiedenen, zum Teil sogar antagonistischen Triebfedern ihres Handelns und ihrer Fortentwicklung bewegen, die man metaphorisch mit einigem Recht durchaus als miteinander konkurrierende Götter bezeichnen kann. Es ist wichtig, sich dieser Tatsache bewusst zu sein: wir finden sie in unterschiedlicher Ausprägung in der klassischen griechischen Mythologie ebenso verkörpert wie im untergeordneten Pantheon der christlichen Schutzheiligen oder alltäglichen Äußerungsformen der Moderne ohne jeden religiösen Bezug. Alle diese Platzhalter konkreter äußerer Erscheinungen verlangen mit ihren spezifischen Eigenarten Aufmerksamkeit und Beachtung vom Einzelnen, wobei jeder Mensch nach seinen eigenen Maßstäben und Neigungen oder auch nur situationsbedingt den einen gegenüber dem anderen bevorzugen wird. Diese abstrakten oder weltlichen Verkörperungen helfen uns, in bestimmten Situationen und Lebensphasen verschiedene Aspekte einer einzelnen Erscheinungsform oder einer bestimmten Aufgabe aktiv zu vergegenwärtigen und sind somit ein geeignetes Mittel zu einer differenzierten, pluralistischen Weltsicht.

Problematisch wird es erst, wenn ein einzelner Gott bzw. seine weltliche Erscheinungsform zum alleinigen Maßstab menschlichen Handelns erhoben wird, denn diese dogmatische Überhöhung mit Anspruch auf absolute Universalität kann nur auf Kosten des menschlichen Bewusstseins gehen. Das Dogma des Monotheismus zerstört unser ausdifferenziertes sinnliches Bewusstsein für die unterschiedlichen belebten und gedanklichen Erscheinungsformen unserer Umwelt – sowohl im übertragenen wie auch im unmittelbaren und konkreten Sinne. Wenn es außerdem noch zu einer Staatsreligion erhoben wird, beeinträchtigt es unsere soziale, wirtschaftliche und kulturelle Handlungsfähigkeit erheblich. Frankreich hat deshalb als unmittelbare Konsequenz aus der Dreyfus-Affäre seit 1905 zunächst die strenge Trennung von Staat und Kirche forciert und 1946 als erster europäischer Staat das gute und nützliche Prinzip der Laizität fest in seiner Verfassung verankert. Bis heute bekennen sich weltweit erst sechzehn Staaten per Verfassung zu diesem Prinzip, in Europa sind es neben Frankreich lediglich Albanien, Portugal und Tschechien. In dem 1923 aus dem Kernland des Osmanischen Reichs künstlich geschaffenen neuen Nationalstaat Türkei (mit seiner multikulturellen, multiethnischen und multireligiösen Zusammensetzung) besteht es heute nur noch de iure.

Es ist aber sehr viel weniger interessant, über konkrete monotheistische und polytheistische religiöse Anschauungen sowie ihre jeweiligen Vor- oder Nachteile zu reden als über die Prinzipien, die unser individuelles oder kollektives Handeln heute bestimmen. Das dominierende „göttliche“ Regulativ der Neuzeit ist ohne Zweifel die Zeitmessung als Grundlage unseres ökonomischen Handelns – sowohl im wirtschaftlichen als auch im privaten Sinne. Es besteht, ohne dass wir uns dieser irritierenden Tatsache bewusst werden, neben unserem individuellen Glauben oder sonstigen persönlichen weltanschaulichen Prinzipien. Dieses Regulativ ist so dominant, dass es wohl keiner ernsthaft als entbehrlich bezeichnen würde, obwohl viele Menschen deutlich sichtbar unter dem von der Zeitmessung verursachten Druck leiden. Uhren finden wir als „Götterbilder“ der Moderne seit Jahrhunderten auf vielen öffentlichen Plätzen ebenso wie an unseren Handgelenken. Aus neutraler, unabhängiger Perspektive betrachtet, müssen sie kaum weniger rührend oder befremdlich wirken als Rosenkränze oder Halsketten mit Magen David, Halbmond oder Kreuz. Gleichzeitig widerspricht es den Grundprinzipien einer funktionierenden Gesellschaft, humanistische Grundsätze einem Prinzip wie Zeitmessung, unbedingter wissenschaftlicher Rationalität oder dem Glauben an einen bestimmten Gott unterzuordnen.

Margret Hofheinz-Döring: "Tanz ums goldene Kalb" (1962)

Die differenzierte Sicht auf unterschiedliche Götter, Religionen oder weltliche Handlungsprinzipien aller Art als gleichberechtigte Grundlagen für unsere auf bestimmte einzelne Situationen bezogenen Entscheidungen verhilft uns zu einem klareren Bewusstsein, das uns handlungsfähiger und selbstbestimmter macht. Die kategorische Forderung: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ kann deshalb nur rückwirkend aus der Sicht dessen geltend gemacht werden, der seine jeweilige situative Herausforderung mit Hilfe seines jeweiligen Leitprinzips erfolgreich bestanden hat oder eben daran gescheitert ist. Bezogen auf Kieslowskis Beispiel heißt das: Der trauernde Informatiker muss erkennen, dass er das Prinzip der Sicherheit seines Sohnes niemals dem Prinzip der wissenschaftlichen Rationalität hätte unterordnen dürfen. Für einen selbstbestimmten und aufgeklärten Menschen muss das erste Gebot deshalb heißen „Ich bin ein Gott von vielen, du darfst so viele von uns haben, wie du willst, aber bitte schenke uns Aufmerksamkeit und entscheide weise, wie wir dir dienen können.“ – Dass wir am Ende trotz aller in unseren individuellen Entscheidungsprozess eingebrachten Bewusstheit und Voraussicht unter Umständen scheitern können, gehört zur universellen menschlichen Erfahrung, vor der uns der unbedingte Glaube an einen einzelnen eifersüchtigen Gott am allerwenigsten zu bewahren vermag.

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