Im Herbst 2012 durfte ich
für den renommierten Hanser-Verlag im Rahmen der alljährlichen
Veranstaltungsreihe „Open Books“ anlässlich der Frankfurter Buchmesse das
literarische Debüt des Tübinger Schriftstellers Robert Scheer (geboren 1973)
vorstellen. In seinem hoch originellen ersten Buch „Der Duft des Sussita“ hatte
der im rumänischen Carei geborene und in Israel aufgewachsene studierte
Philosoph mit seinen satirischen Erzählungen unerwartete Erinnerungen an den
jungen „politischen“ Ephraim Kishon geweckt.
Seine ebenso humorvollen wie doppelbödigen und tiefgründigen Texte
überraschten dabei vor allem mit ihrem unverbrauchten, selbstbewussten Ton,
ihrem unverkrampften, aber dennoch
äußerst entschiedenen literarischen Anspruch und ihrem unabhängigen Blickwinkel
– drei wesentliche Eigenschaften, die sie nicht nur formal, sondern auch
inhaltlich weit über das herausheben, was Verlage uns sonst oft als
vielversprechende junge Literatur präsentieren. Robert Scheers Texte stecken
voller Überraschungen – selbst Lothar Matthäus hat bei ihm ausnahmsweise mal
alle Lacher auf seiner Seite.
Robert Scheer |
Ich bin Robert Scheer sehr dankbar für das Vertrauen, dass ich sein neues Buch „Pici“ bereits vor seinem offiziellen Veröffentlichungstermin lesen durfte. Auch sein neuer Text, eigentlich eine Übersetzung aus dem Ungarischen, stellt eine Überraschung dar, mit der man nicht unbedingt rechnen konnte. Es ist der autobiographische Bericht seiner Großmutter Elisabeth (genannt „Pici“) Meisels (1924-2015) über ihre Verfolgung durch Nazi-Deutschland, die der Autor als sehr persönliches Zwiegespräch zwischen seiner Großmutter und ihm selbst gestaltet hat .
Diese meines Wissens im Genre der Erinnerungsliteratur bisher nicht
dagewesene Konstellation hat mich in ihrer liebevollen familiären Unmittelbarkeit
regelrecht begeistert, weil es ihr auf erfrischende Art und Weise mühelos
gelingt, die Vergangenheit mit der Gegenwart in lebendige Beziehung zu setzen.
So eröffnen sich zwischen den Zeilen zahlreiche ganz neue Sichtweisen, die auch
viel über das Vehältnis zwischen den Generationen verraten und das Buch zu
einem besonders geglückten Beispiel bewusster Zeitzeugenschaft machen.
Anlässlich der Leipziger Buchmesse hatte ich Gelegenheit, mit Robert Scheer
über sein neues Buch zu sprechen.
FH: Deine
Großmutter Pici stand an der Schwelle zum Erwachsensein, als sie durch die
Nationalsozialisten aus einem sehr liebevollen Familienleben herausgerissen und
mit ihrer gesamten Familie nach Auschwitz deportiert wurde. Anstatt ein eigenes
selbstbestimmtes Leben in ihrer transsilvanischen Heimat beginnen zu können,
wurde sie gewaltsam von allem getrennt, was ihr etwas bedeutete, und musste auf
ihrem Weg durch die deutsche Vernichtungsmaschinerie schlimmste Traumata und
Verluste erleiden. Obwohl ihre ganze Familie von den Nazis ermordet wurde, fand
sie nach ihrer Befreiung die Kraft, eine Familie zu gründen und ein
lebensbejahendes Leben zu führen. Mit der Herausgabe ihrer Erinnerungen in
Buchform ist nun ein Herzensprojekt von Dir abgeschlossen, dem Du in den letzten
Jahren sehr viel Aufmerksamkeit, Kraft und Liebe gewidmet hast. Mit welchen
Gedanken und welchen Gefühlen blickst Du auf diese Zeit zurück?
RS: Ja, meine Großmutter hat ihre ganze Familie
im Holocaust verloren. Auf dem Weg nach Hause, im Zug, hat sie meinen Opa
kennengelernt. Seine Frau und sein kleiner Sohn waren ebenfalls von den Nazis
ermordet worden. Mein Opa war dreizehn Jahre älter als Pici. Er starb 2007, mit
96 Jahren. Es war eine interessante Erfahrung, an dem Buch zu arbeiten. Obwohl
Pici mir seit meiner Kindheit immer wieder über die Schoah und ihre Familie
erzählt hatte, war es eine vollkommen neue Erfahrung, ihre Familie auf diese
Weise kennen zu lernen. Sie, die Ermordeten, waren ja auch meine Familie, die
ich nie persönlich kennengelernt habe, aber unter anderen Umständen ohne
Zweifel kennengelernt hätte. Ich konnte sie mir aber mit Picis präzisen
Beschreibungen gut vorstellen. Ich konnte die damalige Zeit fast „riechen“. So
war meine „verlorene“ Familie plötzlich gar nicht mehr abstrakt, sondern ganz konkret,
geradezu plastisch. Die Gestalten wurden lebendig. Deshalb liest sich das Buch auch
fast wie ein Roman, obwohl es von nichts anderem als der Wirklichkeit erzählt.
Und die Wirklichkeit ist unglaublich! Zum Beispiel: Picis geliebter, zwei Jahre
jüngerer, Bruder, Béluska, starb am 25. Dezember 1944 im KZ Mauthausen. Mein
Vater, also Picis Sohn, Ivan, wurde genau an diesem Tag – am 25. Dezember –
zwei Jahre später geboren. Wenn ein Romancier sich so etwas ausdenken würde,
müsste man ihm eine unglaubwürdige Konstruktion vorwerfen. Aber so ist das Leben!
Das Leben ist manchmal viel „fiktiver” als jede Art von Fiktion. Die
Wirklichkeit kann unglaublich sein! Und noch etwas: Weihnachten 2015 ist mein
Manuskript vom Verlag Marta Press auf
Anhieb angenommen worden, ebenfalls am 25. Dezember! Erst wenige Tage zuvor
hatte ich mein Manuskript dort eingereicht. Es schien so, als hätte Pici ihre
unsichtbare Hände im Spiel gehabt. Auf jeden Fall bin ich sehr froh, dass alles
gut geklappt hat und das Wichtigste: Pici wäre damit glücklich gewesen.
Deswegen bin ich auch glücklich!
FH: Das klingt, als wäre Dir die Arbeit am
Manuskript nicht schwer gefallen…
RS: Nein, nein! Es fiel mir sogar äußerst schwer,
über Monate an diesem sehr persönlichen Text zu arbeiten. Niemals habe ich mehr
als eine Seite pro Tag geschafft. Aber nicht aus Arbeitsökonomie wie Thomas
Mann, sondern weil mein Seelenhaushalt es brauchte. Ich gebe zu: ab und zu wurden
meine Augen nass. Es war nicht immer einfach, das Buch fertig zu stellen. Ich
denke, die Arbeit daran war eine der schwierigsten Aufgaben, die ich in meinem
Leben bisher bewältigen musste. Auf jeden Fall war es der schwierigste Text,
den ich je geschrieben habe. Und dabei habe ich ihn nicht einmal selbst
geschrieben – vielleicht deswegen. Es dauerte viele Monate, bis ich mit der
Übersetzung aus dem Ungarischen fertig war, und weil ich kein Übersetzter bin,
klang alles ein wenig wie Herta Müller. (Lacht.) Es war Deutsch, aber es klang
ein wenig fremd. Mir war klar, dass noch viel Arbeit investiert werden müsste,
von mir, von einem zukünftigen Verlag, vom Lektorat. Das war mir bewusst. Aber
als Pici dann gestorben ist, beschloss ich zu handeln und das Manuskript
Verlagen anzubieten.
FH: Pici ist im vergangenen Jahr im Alter von
einundneunzig Jahren verstorben. Die Annahme des Manuskripts erfolgte also erst
nach ihrem Tod. Hast Du Deine Großmutter, die Du im wahren Leben gerade erst
verloren hattest, seither noch einmal auf andere Art und Weise kennengelernt
oder etwas Neues über sie oder über Dich selbst erfahren?
RS: Ich habe viele Details erfahren. Ich wusste,
dass sie in Auschwitz war, aber im Buch erzählt sie über viele andere Konzentrationslager,
von denen ich bis dahin noch nicht gehört hatte, und von Frauen, mit denen sie
dort eingesperrt war. Ihr Leben wird so anschaulicher, greifbarer. Dass sie
viele Grausamkeiten erleben musste, wusste ich, aber welche genau – das habe
ich erst mit dem Buch erfahren. Und auch über ihre erste Liebe. Pici redet im
Buch offen über alles, was sie damals und später bewegte. Man kann viel über
ihre Generation lernen, über ihre Moral, Sitten usw. Es waren andere Zeiten als
die heutigen, aber so fremd wirken diese Menschen nicht. Menschen sind eben
Menschen: es gab schon immer gute und schlechte Menschen, Dumme und Kluge.
Insbesondere gab es immer schon eine Mischung aus guten und schlechten, dummen
und klugen Menschen. Die Zeit des Nationalsozialismus ist natürlich ein
Extremfall, der uns tief in die verborgensten Abgründe des Menschseins blicken
lässt. Die Schoah war vielleicht der tiefste Abgrund der bisherigen menschlichen
Geschichte, aber Abgründe wie dieser können sich immer wieder auftun. Was Pici
erleben musste, war die Hölle auf Erden. Menschen, die nicht erlebt haben, was
sie erleben musste, können in ihrem Zeugnis das höchste Maß der
Unmenschlichkeit veraunschaulicht bekommen. Und diejenigen, die diese
Grausamkeiten begingen, waren Menschen. Der Mensch kann, wie das Buch zeigt,
ein äußerst gefährliches Tier sein oder, wenn man so will, ein Engel des Todes
und der Zerstörung. Dieses Buch zeigt beides: Menschlichkeit und
Unmenschlichkeit. Die Bezeichnung „der Mensch” ist vom Grundsatz her ja
vollkommen neutral, ein abstrakter Begriff. Erst mit seinen Handlungen zeigt der
Mensch sein wahres Gesicht. Und die Gesichter vieler Menschen, die Pici während
der Zeit ihrer Verfolgung kennenlernen musste, waren eben keine schönen
Gesichter. Die Nazis haben Pici nicht als Menschen betrachtet, und dies gehört
zur Tragödie des Menschen: wenn einer den anderen nicht als gleichwertig
betrachtet. So etwas kann nie gut enden.
FH: Gibt es eine bestimmte Szene in Picis Erinnerungen, die Dich besonders beeindruckt
hat? Mir hat besonders imponiert, wie sie und ihre Schwestern während ihres
Aufenthalts im Frankfurter Konzentrationslager Walldorf etwa die Waschtage zu
genießen vermochten oder die frische Luft im Wald auf dem Weg zur Zwangsarbeit.
Ingsgesamt hat mich beeindruckt, dass Pici ihre Erlebnisse aus der Perspektive
eines Menschen beschreibt, der überlebt und mit wachen Sinnen das ganze
Zwanzigste Jahrhundert erlebt und auch innerlich verarbeitet hat. Als ein
aufgeklärter, denkender Mensch des 21. Jahrhunderts, der in der Lage dazu ist,
auch Vergleiche zwischen gestern und heute zu ziehen.
RS: Eine weitere
erschütternde Szene, die man niemals hätte erfinden können, hat sich ebenfalls
in Walldorf zugetragen: fünfzig Häftlingsfrauen wurden auf der Ladefläche eines
LKW in den Wald gefahren. Plötzlich stoppt der Wagen mitten im dichten Wald,
und die Frauen müssen absteigen. Der SS-Fahrer und die Lageraufseherin
verschwinden im Gebüsch und haben Sex miteinander. Fünfzig „Stück” Frauen
müssen den beiden dabei zusehen – „Stück“, so haben sie sie wirklich genannt, wenn
sie sie „angefordert“ haben. Daran kann man erkennen, dass sie sie nicht als
Menschen betrachtet haben. Diese fünfzig unglückseligen, kahlköpfigen,
unterernährten Frauen standen da und beobachteten diese Frau und diesen Mann in
ihren intimen Momenten und schämten sich unendlich dabei. Zur Schau gestellte
Sexualität hatte damals ja in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Schon gar
nicht im „sauberen“ deutschen Reich. Für die beiden Deutschen waren diese armseligen,
bedauernswerten Kreaturen, die da standen und warteten, bis sie fertig waren,
weniger wert als Tiere. Das ist genau das, was Pici in diesem Moment
realisierte und ihren Schwestern mitteilte: „Sie betrachten uns nicht als
Menschen!”
Auschwitz/Foto: Pimke |
FH: Warum ist es wichtig, einen weiteren
Zeitzeugenbericht über die Zeit des Nationalsozialismus zu veröffentlichen?
RS: Die Generation meiner Großmutter stirbt
langsam, aber sicher aus. Es gibt nicht mehr viele Überlebende, die noch selbst
ihre Geschichte erzählen können. Aber die Geschichten der Opfer des
Nationalsozialismus sollten auf jeden Fall bewahrt werden – nicht nur die der
Überlebenden, sondern auch die der vielen Millionen von Toten, die von den
Nationalsozialisten zum Schweigen gebracht wurden. Wir müssen von ihnen
berichten. Denn ohne Vergangenheit gibt es ja keine Zukunft. Nur wenn wir von
der Vergangenheit lernen, können wir auf eine gute und sichere Zukunft hoffen.
Dies scheint mir heutzutage das Problem zu sein, nämlich dass wir aus den Fehlern
der Vergangenheit nur wenig gelernt zu haben scheinen. Viele Menschen denken
wie selbstverständlich, dass sie wesentliche Lehren aus dem Nationalsozialismus
verinnerlicht haben. Aber leider ist das meistens nicht der Fall. Die Menschen
erweisen sich in den meisten Fällen angesichts gegenwärtiger Herausforderungen
als äußerst unwissend, leider. Dieser Bericht ist ein Dokument gegen die allgemeine
Gleichgültigkeit und die Verdummung. Ich meine, ja, wir sollten von der
Vergangenheit lernen. Und ich freue mich insbesondere für die jungen Leute, die
Interesse an diesem Buch haben. Es hat mich wirklich überrascht, dass die
jüngere Generation so einen Wissendurst hat und das Buch unbedingt lesen
möchte. Aus dieser Beobachtung heraus habe ich mich auch auf andere Art und
Weise mit Picis Lebensweg auseinandergesetzt: ich habe ein langes Poem in sehr
einfacher und konzentrierter Sprache darüber geschrieben, um insbesondere
Lehrern und Schülern eine Gelegenheit anzubieten, sich mit diesem Thema in
unmittelbarerer Form auseinanderzusetzen, als es sonst gemeinhin möglich ist.
FH: Das klingt interessant! Gibt es schon einen
Verlag?
RS: Nein, leider hat sich bislang noch niemand
gefunden, der das Poem veröffentlichen möchte. Lyrik ist ein sehr kompliziertes
Thema auf dem deutschen Buchmarkt, es gehört viel Idealismus dazu, nicht nur
als Autor, sondern auch als Verlag. Das Poem über Pici ist also in vielfacher
Hinsicht idealistisch! Letztlich erzählt es dieselbe Geschichte wie dieses
Buch, nur in anderer, für den Unterricht möglicherweise geeigneterer und
prägnanterer Form. Um auf die vorherige Frage zurückzukommen: Man sollte trotz
allem, was die Menschen offenbar daran hindert, aus ihrer Vergangenheit zu
lernen, nicht allzu pessimistisch sein – dennoch muss man natürlich stets
darauf bedacht sein, Zeichen gegen die Dummheit zu setzten. Das Kaufen dieses
Buches ist zweifellos so ein Zeichen! Und die Lektüre natürlich…
FH: Beim Lesen von Picis Erinnerungen fällt auf,
dass sie erst im letzten Drittel des Buches von ihrem traumatischen Weg durch
die grausame Vernichtungsmaschinerie der Nazis berichtet. Wie wichtig war es
Dir bei der Textredaktion, zunächst eine ausführliche Vergegenwärtigung ihres
friedlichen, prägenden Lebens vor der Verfolgung zu schaffen, eines liebevollen,
behüteten Lebens in Freiheit „so wie es sein sollte“?
RS: Der Hintergrund für das, was später passieren
wird, ist ausgesprochen wichtig. Wie gesagt, das Buch liest sich wie ein Roman.
Dennoch ist das Buch auch sachlich. Man kann einiges über das Leben einer durchschnittlichen
jüdischen Familie im multikulturell geprägten Transsilvanien der 1930er und
40er Jahre lernen. Picis Vater ist Holzhändler. Das Land, in dem seine Familie
lebt, heißt seit Ende des Ersten Weltkriegs nicht mehr Österreich-Ungarn,
sondern Rumänien. Und nur wenig später wird es Ungarn heißen. Bildlich
gesprochen: Man hat das Haus und den eigenen Vorgarten nicht ein einziges Mal verlassen,
doch während man isst und trinkt, liebt und lebt, hat sich innerhalb kürzester
Zeit dreimal die nationale Zugehörigkeit geändert. Es ist ein typisch
europäisches Phänomen – aber nicht nur.
Man lernt zahlreiche unterschiedliche
Völkergruppen kennenlernen, zum Beispiel Rumänen und Ungarn, die sich
gegenseitig zutiefst verachten, obwohl sie zwischenzeitlich weitgehend
friedlich zusammengelebt oder wenigstens nebeneinander hergelebt haben. Bis heute
hat sich an ihrer gegenseitigen Verachtung nicht viel geändert. Die Mentalität eines
Menschen oder einer Gruppe ändert sich nicht von einem Tag auf den anderen,
nicht einmal von einer Generation zur nächsten. Das kann man besonders gut
beobachten, wenn man die Einstellung mancher Menschen zur aktuellen
Flüchtlingswelle betrachtet. Die größten Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen
beobachten wir zweifellos in den ehemals kommunistischen Ländern, aber nicht
nur dort. Auch hier fühlen sich viele Menschen vom „Anderen” bedroht. Und das
obwohl sie den Anderen oder das Andere nicht einmal kennen. Auch in Japan war
es mal so: sie haben Juden gehasst, obwohl es dort gar keine Juden gab. Das Allereinfachste
ist es nämlich, Menschen gegen andere, schwächere Menschen aufzuhetzten. Es ist
die klassische Instrumentalisierung des Fremden als Sündenbock, wenn man
Schwierigkeiten damit hat, beim Blick in den Spiegel die Probleme bei sich
selbst zu erkennen. Dafür braucht man nämlich Selbstbewusstsein und zwar
wirkliches, echtes. Und das kommt nicht von einem Tag auf den anderen, sondern
ist das Ergebnis eines ständigen, bewussten Lernprozesses. In der heutigen,
schnelllebigen Welt ist es aber viel einfacher nicht zu lernen, nicht
selbstbewusst zu sein. Die hochentwickelte Technologie und die mit ihrer
kommerziellen Nutzung einhergehende Reizüberflütung und Überinformation
überfordert viele Menschen. Man möchte einfache Antworten. Solche gibt es aber
meistens nicht, denn trotz unseres rapiden technischen Fortschritts ist die
menschliche Persönlichkeit kaum nennenswerter Veränderung unterworfen, das
heißt, die Vernunft ist nur ein winziger Teil des menschlichen Daseins. Wir
sind komplexe Wesen voller unauflösbarer Widersprüche. Und genau diese Tatsache
können viele Menschen nicht ertragen: sie wollen etwas vereinfachen, was nicht
einfach ist.
Robert Scheer: "Alles im Fluss" |
FH: In ihrem Nachwort sagt die Verlegerin Jana
Reich etwas sehr Wichtiges: dass ihr Pici im Verlauf der Arbeit am Text
regelrecht ans Herz gewachsen sei. Zunächst habe sie aber recherchiert, ob es
sich bei ihrem Bericht tatsächlich um authentische Erinnerungen einer realen
Zeitzeugin handele. Sind Empathie und ein kritischer Verstand die wichtigsten
Eigenschaften, um sich mit Picis Geschichte auseinanderzusetzen? Wie wichtig
sind diese Eigenschaften in der Gegenwart?
RS: Gefühl und Verstand miteinander im
Gleichgewicht zu haben und zu halten, ist nicht einfach. Es gibt Menschen mit
viel Gefühl, aber wenig Verstand und es gibt Menschen mit viel Verstand, aber
wenig Gefühl. Die Menschen mit überwiegend „objektiven Eigenschaften” verstehen
die Menschen mit überwiegend „subjektiven Eigenschaften” nur wenig, und
umgekehrt verhält es sich genauso. Das Problem wird aber noch größer, wenn man
entdeckt, dass es sich dabei nicht um irgendwelche fremde Menschen aus der
Außenwelt handelt, sondern um sich selbst. Hier kommen die Philosophien der
Subjektivität zum Tragen, die aber eigentlich uninteressant sind. Was ich
meine, ist, dass man sich einfach fragen sollte, was einem näher steht: das „Wie“
oder das „Was“. Das „Wie“ ist ein nicht voraussagbarer offener Prozess, in dem
man aber etwas anstoßen und bewegen kann. Das „Was“ bedeutet keinerlei Bewegung;
es heißt, dass die dingliche Welt die Menschen bestimmt. Diese zweite
Möglichkeit ist faktisch identisch mit der gefährlichen, aber ich gebe zu: nicht
uninteressanten Methode der maoistisch-kommunistischen und faschistischen
Philosophie. Platon, Heidegger und Sartre gehörten diesem Dogma der Ontologie
an, und Sloterdijk gehört ihm ebenfalls an, um auch einen zeitgenössischen
Philosophen zu nennen. Das „Wie“ der sogenannten Epistemologie ist ein offener Prozess,
und deswegen bleibt er für viele unattraktiv und subjektiv. Meinem Verständnis nach
sind Empathie und kritischer Verstand keine Gegensätze, sondern zwei Seiten
derselben Medaille.
FH: Was bedeutet das konkret?
RS: Mein
Buch ist ein Generationengespräch zwischen einer Großmutter und ihrem Enkelkind
– über Familie und Liebe, Hass und Wahnsinn und nicht zuletzt – über Hoffnung. Es
ist ein Plädoyer für Vielfalt und Offenheit. Viele Menschen wollen sich verschließen,
und die Viefalt wird von ihnen als bedrohlich betrachtet. Sie macht ihnen
Furcht, und sie empfinden sie als undenkbar. Hier will und muss ich klar Partei
für eine Atmosphäre von Offenheit und Vielfalt ergreifen, die ich ja schützen
und erhalten möchte. Denn es gibt keinen Weg, in dieser Frage neutral zu
bleiben. Enweder ist man für einen kleinen isolierten Teil oder für das Ganze.
Ich bin für das Ganze und möchte auch kein Geheimnis daraus machen. Ein
Künstler kann nur jemand sein, der nach einem höheren, besseren, möglicherweise
unerreichbaren Ziel strebt. Wer sich bedingungslos mit dem Bestehenden
arrangiert, ist kein Künstler, kann niemals ein wahrer Künstler sein.
Denn ein wahrer Künstler ist niemals Nationalist,
sondern Universalist und Weltbürger. Er ist außerdem Pazifist. Und er ist
agnostisch. Und außerdem ist er Humanist. Diese wesentlichen weltanschaulichen Eigenschaften
eines Künstlers hat der jüdische Philosoph Jeschajahu Leibowitz einmal
gleichsam von außen sehr scharfsinnig analysiert und benannt, aber mit anderen
sprachlichen Begrifflichkeiten. Ich sage bewusst „von außen“, weil er sich zu
keiner dieser Eigenschaften bekannt hat – denn er war kein Pazifist, sondern
glaubte an das Judentum. Leibowitz war Gnostiker, denn er glaubte an den
jüdischen Gott. Aus diesem Grund war er auch kein Humanist und auch kein
Anarchist. Der Unterschied zwischen Leibowitz und einem x-beliebigen ignoranten
Zeitgenossen ist, dass er sich als Philosoph dieser Tatsache bewusst war. Man
trifft im Leben zahlreiche Menschen, die anders denken als man selbst, aber ein
Dialog mit ihnen ist dennoch möglich. Man muss nicht der gleichen Meinung sein,
denn Werte sind subjektiv. Dies aber zu begreifen und umzusetzen, ist
allerdings eine sehr schwierige Sache...
Grenzwall zwischen Israel und Palästina/Foto: Aldo Ardetti |
FH: Wenn man aktuelle reaktionäre politische
Bewegungen in ganz Europa oder auch in den USA näher analysiert, fällt auf,
dass man den meisten ihrer Anhänger einen erheblichen Mangel an Empathie bei
gleichzeitigem Verharren auf zum Teil irrationalen Grundsätzen bescheinigen
muss. Die AfD möchte laut eigenem Parteiprogramm die „zwölf Unglücksjahre“ des
Nationalsozialismus, die mit ihren 80 Millionen Toten in Wirklichkeit Unglück für
mindestens 1000 Jahre bedeuten, im Schulunterricht weniger ausführlich
behandeln als bisher. Ist es nicht zum Verzweifeln, gleichzeitig mit der
Veröffentlichung von Picis Erinnerungen revisionistische Bewegungen auf der
ganzen Welt wachsen zu sehen?
RS: Es ist leider so. Dabei ist die derzeitige Situation in Deutschland noch
wesentlich besser als in vielen anderen Ländern. In Polen, in der Türkei, in Ungarn
oder in Israel regieren zur Zeit rechtspopulistische Parteien. Für sie geht es
nicht um Menschen und menschliche Werte im Allgemeinen, sondern um Polen,
Türken, Ungarn oder Israelis. Israelische Juden, besser gesagt, denn in Israel
genießen nur Juden die vollen Bürgerrechte. Diese Parteien und ihre Anhänger
sind keine Humanisten und ganz sicher keine Pazifisten. Sie glauben an
gefährliche Begriffe wie „Volk“, „Blut“ und „Vaterland“ – und das nach all dem,
was in der jüngeren Geschichte passiert ist, wovon auch mein Buch erzählt!
FH: Aber Israel ist doch als großer Schmelztiegel bekannt, der Juden aus
den verschiedensten Ländern aufgenommen und integriert hat. Viele Juden aus
aller Welt sind nach Israel ausgewandert, um dort in Frieden leben zu können.
RS: Israel ist ein besonders gutes Beispiel, weil die Realität dort
vollkommen anders aussieht als zionstische und linke Idealisten sie sich
ursprünglich vorgestellt haben. Man hört oft Wörter wie „Frieden“ oder
„Friedensprozess“ im Zusammenhang mit dem Jahrzehnte währenden Konflikt
zwischen Israel und den Palästinensern. Aber was heißt Frieden? Für die
Israelis hat das Wort „Frieden“ mindestens zwei unterschiedliche Bedeutungen: für
die sogenannten „Linken“ ist damit die von ihnen selbst vorgeschlagene
territoriale Aufspaltung in zwei unabhängige Nationalstaaten gemeint, für die
es aber in Israel keine politische Mehrheit gibt. Die herrschenden, rechten
Parteien bevorzugen eine Schritt-für-Schritt-Lösung. Das bedeutet aber konkret:
nur wenn die Palästinenser sich an Vereinbarungen halten, bekommen sie auch etwas
dafür. Wenn sie sich nicht daran halten, kriegen sie auch nichts. Diesen scheinheiligen
Schritt-für-Schritt-Frieden lehnen die Palästinenser natürlich ab. Sie lehnen aber
auch die Zwei-Staaten-Lösung ab, denn sie wollen einen Frieden, der von „Außen“
kommt. Das heißt, die Palästinenser möchten keinen direkten Frieden mit den
Israelis, sondern einen, der durch Einmischung anderer Nationen zustande kommt.
Die sogenannte binationale Lösung, in der Palästina und Israel einen gemeinsamen
Staat bilden würden, ist sogar noch fantastischer und unwahrscheinlicher als
die beiden anderen. Was ich damit sagen will: das eigentlich
unmissverständliche und sehr konkrete Wort „Frieden“ kann für unterschiedliche
Personen oder Gruppen durchaus unterschiedliche Bedeutungen haben. Für manche ist
es gleichbedeutend mit sofortiger territorialer Trennung und einer
Zwei-Staaten-Lösung. Für andere ist es nur eine kleine Etappe in einem
langwierigen Prozess minimaler Fortschritte. Für wieder andere bedeutet Frieden
eine Einmischung von Außen. Frieden ist also eine äußerst komplizierte Sache. Aus
neutraler, objektiver Perspektive könnte man dennoch behaupten: keiner möchte
Frieden. Oder besser: im Nahen Osten möchte jeder eine andere Art von Frieden.
FH: Ist das nicht vollkommen absurd? Ein unzulängliches Gleichgewicht
zwischen Nicht-Frieden und Nicht-Krieg, eine Art unbestimmter, unabänderlicher
Zwischenzustand?
RS: Solche Dinge passieren, wenn man nicht die Offenheit, sondern die nationale
Geschlossenheit sucht. So ist das mit den Populisten in Europa. Wir befinden
uns im 21. Jahrhundert. Wir haben das Wissen und auch die technischen
Möglichkeiten das Universum zu erforschen. Wir sind fähig, zum Mond und
vielleicht sogar bald zum Mars zu reisen, doch zur selben Zeit sind die meisten
Menschen auf der Erde mit ihrem irrationalen Hass auf andere Menschen beschäftigt.
Das ist ja sehr traurig, kaum zum Aushalten traurig sogar. Anstatt seinen Mitmenschen
auf gleicher Ebene zu begegnen, diskriminiert man sie als Christen oder Juden
oder Muslime. Oder in besonders rückwärtsgewandten Gesellschaften sogar als
Frauen. Anstatt Menschen als Menschen zu betrachten, bewertet man sie als
diesem oder einem anderen Land oder Volk zugehörig. Oder einer anderen Religion.
Ist es wirklich so schwer, über die scheinbaren unwesentlichen Unterschiede hinwegzuschauen
und den Menschen einfach nur als Menschen zu betrachten? Es wird vermutlich eine
lange Weile dauern, bis es endlich so weit sein wird, eine ganze lange Weile…
„Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück“, erschienen bei Marta Press, 228 Seiten, €
19,90
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.