Jerusalem

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Sonntag, 27. Dezember 2015

Das Rätsel Trojas und die Buchstabensuppe der akademischen Lehre

Warum wir im Wüstensand nach Tonscherben graben


Angeregt von einem langen Gespräch mit Michael Köhlmeier über die Odyssee als möglicherweise ersten modernen Romanentwurf, habe ich mich im Verlauf des vergangenen Jahres in die Thematik des Trojanischen Krieges, die umstrittene Autorschaft Homers und den akademischen Streit um die geographische Lage Trojas sowie die wirtschaftliche und militärische Bedeutung der antiken Stadt eingelesen. Die unvermeidliche Begegnung mit dem akademischen Betrieb in Deutschland, den ich mit dem Verlassen der Universität endgültig hinter mir gelassen zu haben glaubte, hat mir schmerzlich vor Augen geführt, dass viele seiner Protagonisten auch in Zeiten fortgeschrittener Vernetzung immer noch die bequeme Isolation althergebrachter Methodik und jahrhundertealter wissenschaftlicher Tradition bevorzugen, anstatt die unbegrenzten Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit zu erkunden, die der technische Fortschritt und die Spezialisierung vieler Forschungsbereiche möglich gemacht haben: ein wachsamer Blick über den Tellerrand der akademischen Buchstabensuppe scheint vielen Altphilologen und klassischen Archäologen immer noch undenkbar.

Homer

Besonders deutlich wird das im unversöhnlich geführten Streit zwischen dem langjährigen Grabungsleiter in Troja, Manfred Korfmann (1942-2005), und dem Geoarchäologen Eberhard Zangger (geboren 1958), der Anfang der 1990er mit einer sensationellen Theorie an die Öffentlichkeit trat, die international weitgehend begrüßt und mit großem Interesse diskutiert wurde, in Deutschland aber bis heute vom akademischen Establishment fast einhellig abgelehnt wird. Zangger hatte nicht nur die Hypothese aufgestellt, dass der allgemeine Zusammenbruch der antiken Hochkulturen in Mesopotamien, Ägypten und im östlichen Mittelmeergebiet um das Jahr 1200 v. Chr. in direktem Zusammenhang mit der Vernichtung Trojas gesehen werden müsse, er vertrat auch die Auffassung, dass Troja die führende Macht innerhalb einer Militärkoalition der in ägyptischen Texten mehrfach erwähnten sogenannten „Seevölker“ gewesen sein müsse. Und er setzte noch eine weitere umstrittene Hypothese hinzu: die beiden mystischen Städte Troja und Atlantis seien in Wirklichkeit ein und dieselbe – Plato habe in seinem Bericht über Atlantis unwissentlich eine ägyptische Beschreibung des Untergangs von Troja verzerrt wiedergegeben. Zangger zog sich Ende der 1990er Jahre aus der Forschung zurück, während Korfmann bei seinen weiteren Ausgrabungen nach und nach immer mehr Hinweise fand, die die unbequemen Theorien seines langjährigen Gegners zu unterstützen schienen und nun den geläuterten Chefausgräber selbst zum Ziel bösartiger Angriffe seiner eigenen Zunft machten.

Die Ilias, der große Gesang über den Kampf um Troja, wurde nach Meinung der Forschung um das Jahr 800 v. Chr. schriftlich fixiert, ob basierend auf der genuinen Autorschaft eines Homer, scheint dabei weniger interessant als die Frage, ob es sich hier wesentlich um Dichtung im modernen Sinne handelt, Fiktion also, oder ob der Sänger reale Personen, Orte und Begebenheiten schildert. Alles, was innerhalb der letzten 150 Jahre zur Auffindung Trojas beigetragen hat (über dessen Lokalität bei Hisarlık an der anatolischen Mittelmeerküste heute kaum noch wissenschaftlicher Dissenz besteht) scheint dabei die revolutionäre Auffassung Heinrich Schliemanns (1822-1890) und seiner Informanten zu stützen, dass es sich wesentlich um reale Ereignisse handelt. Die Erfindung der Schrift und ihre Instrumentalisierung zu politischen und religiösen sowie später zu allgemeinen kulturellen Zwecken war zweifellos ein einschneidendes Ereignis, das unsere Auffassung von der Weitergabe von Wissen fundamental verändert hat. Bis heute ist es vorherrschende Meinung innerhalb der vermeintlich überlegenen westlichen Kultur geblieben, dass Wissen im Grunde nur schriftlich übermittelt werden kann, da mündliche Weitergabe zu unzuverlässig sei.

"Trojanisches Pferd", nach einer Vorlage von Henri-Paul Motte (1846-1922)

Hier lohnt es jedoch, einen Blick auf die sehr viel längere Kontinuität der östlichen Kulturen und ihre bewährte Tradition des klassischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses zu werfen, das auch heute noch wie vor tausenden von Jahren nahezu unverändert existiert und das etwa in der klassischen Musik Persiens, Zentralasiens oder Indiens ganze Tonleitern, Melodiefolgen und Kompositionen absolut werkgetreu über Jahrhunderte weitergegeben hat. Innerhalb dieses geschlossenen Systems existiert auch Improvisation, in die der Vortragende seine eigenen Auffassungen und Interpretationen einbringen kann, aber das eigentliche Gerüst der jeweiligen Kunstform steht absolut fest, und es gibt auch keinerlei Disput über diese Form: auch mündliche Überlieferung ist – solange diese Tradition gepflegt wird – eine sichere Form der Wissensübermittlung. Es spricht sehr viel dafür – und das ist anders als in Deutschland heute international weitgehend unbestritten –, dass es sich mit der Überlieferung der Ilias ähnlich verhalten haben dürfte, bis um das Jahr 800 v. Chr. ein begabter Autor und Improvisator diese in schriftlicher Form fixiert hat. Man kann die Odyssee mit ihren zahlreichen märchenhaften Handlungszügen im Kontrast zur Ilias deshalb leicht als Dokument einer Zeitenwende betrachten, insofern sie viel deutlicher das Kunstprodukt eines Schriftstellers im heutigen Sinne ist, der ein Werk vollkommen eigenmächtig aus sich selbst heraus erschaffen und vollkommen frei ausgestaltet hat.

Burgmauer von Troja, Hisarlık, Türkei

Aus dieser Perspektive ist es gerade mit unserem umfangreichen Wissen über literarische Fiktion absolut naheliegend, die Ilias als historische Quelle ernst zu nehmen und gleichzeitig den Realitätsgehalt von Platons „literarischem“ Atlantisbericht, der 400 Jahre später entstanden ist – zu einem Zeitpunkt also, von dem wir schon eine herablassende Einstellung des Schriftkundigen gegenüber der mündlichen Überlieferung annehmen dürfen – zu bezweifeln: gerade weil jener in seinen beiden Dialogen Timaios und Kritias immer wieder betont, dass die von ihm im Rahmen seiner dialektischen Abhandlungen skizzierten Ereignisse absolut der Wahrheit entsprechen. Tatsächlich aber dienen sie vor allem seiner Beweisführung. Es gibt außerdem eine Argumentation in seinem Werk, die nicht besonders schlüssig scheint: zum einen behauptet er, dass die griechische Kultur sehr viel älter (und höher entwickelt sei) als die ägyptische, andererseits will er von Atlantis aber ausgerechnet aus schriftlichen Zeugnissen der ägyptischen Kultur erfahren haben, deren Schriftzeichen er gar nicht mächtig gewesen ist. Man darf den Wahrheitsgehalt der Atlantis-Erzählung also getrost als ebenso gering einschätzen wie den der von ihr inspirierten Bildungsutopien der mitteleuropäischen Renaissance sowie ihrer zahlreichen Parodien. Vermutlich deshalb hat Plato den mystischen Kontinent auch jenseits der Straße von Gibraltar angesiedelt, an einem gleichfalls mystischen Ort also, den zu erreichen zu seiner Zeit wohl niemand ernsthaft hoffen durfte. 

Ob hilfreich oder nicht: es ist ein unkonventioneller, aber faszinierender Gedanke, die mit militärischen Gewalt vernichtete Stadt Troja mit der durch Naturkatastrophen untergegangenen Stadt Atlantis gleichzusetzen. Da die klassische Archäologie dazu tendiert, ihr jeweiliges Forschungsobjekt entweder isoliert zu betrachten oder zu überhöhen, war es in höchstem Maße überfällig, Troja auch mit seiner Umgebung in Beziehung zu setzen, anstatt lediglich mit den gegen die Stadt anrennenden Griechen, die die Erinnerung daran auf eine Art bewahrt haben, die uns bis heute elektrisiert. Niemand würde in einem aktuellen politischen Konflikt ernsthaft in Betracht ziehen, einen Staat unabhängig von möglichen Verbündeten oder Konkurrenten in seiner unmittelbaren geographischen Umgebung zu betrachten, besonders dann nicht, wenn es sich um einen Staat im Binnenland handelt. Der Versuch Zanggers, Troja als identisch mit der in hethitischen Texten mehrfach erwähnten Stadt Wilusa und als wichtige Führungsmacht der Seevölker-Koalition anzusehen, ist zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Diese Sichtweise besäße sogar die Universalität, Kernaussagen einer anderen umstrittene Troja-Hypothese der letzten Jahre in sich zu integrieren, in der der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott (geboren 1964) behauptet, in der hethitischen Ruinenstätte Karatepe in der Südwesttürkei Homers wahren Wirkungsort und gleichzeitig ein ergänzendes Vorbild für seine Troja-Beschreibung erkannt zu haben: dann wäre Homer nicht nur derjenige, der eine bis dahin lediglich mündlich überlieferte Geschichte aufschreibt, sondern sie auch an seiner Wirkungsstätte, die logischerweise nicht mit einem existenten Troja übereinstimmt, mit weiteren Details ausschmückt, die auf die Topographie dieses Ortes zutreffen.

Tonscherbe aus Troja, Hisarlık, Türke

Warum aber streben wir überhaupt danach, eine so weit zurückliegende Vergangenheit bis ins kleinste Detail verstehen zu wollen? Warum verteidigen wir unsere eigenen Theorien bis aufs Blut und wollen sie als einzig gültige Wahrheit allgemein anerkannt und fest im Gedächtnis unserer Kultur verankert sehen? Die Vergangenheit ist die einzige Zeitspanne, über die wir fälschlicherweise bestimmen zu können glauben, weil sie bereits unwiderruflich abgeschlossen ist. Durch Theorien und Hypothesen glauben wir sie sogar, noch endgültiger gestalten zu können, obwohl wir gerade bei einer so weit zurückliegenden Vergangenheit wie jener der mythischen Stadt Troja eigentlich anerkennen müssten, dass die Fähigkeiten des menschlichen Geistes zu beschränkt sind, sie endgültig zu durchdringen und wahrheitsgemäß wiederzugeben. Selbst unsere eigene Vergangenheit, unsere ganz persönlichen Leidenschaften und Bindungen vermögen wir nicht angemessen wiederzugeben, weder mündlich noch schriftlich – vielleicht sogar am wenigsten in schriftlicher Form. Mit diesem Dilemma müssen wir leben. Es ist der Grund, warum wir in der Erde nach Scherben graben: weil wir glauben, dort den funkelnden Schatz einer allgemeingültige Wahrheit zu finden, die wir im Alltag nicht zu suchen wagen.


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