Jerusalem

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Dienstag, 1. September 2015

„Der Golem“ von Gustav Meyrink

Es gibt kaum ein anderes Buch, das so untrennbar mit der historischen Topografie einer europäischen Metropole verbunden ist wie Gustav Meyrinks meisterhafter Schauerroman „Der Golem“ mit der tschechischen Hauptstadt Prag und ihrem legendären jüdischen Ghetto in der sogenannten Josefstadt. Dieser zentral gelegene Altstadt-Bezirk hat im Verlauf seiner beeindruckenden, über sechshundertjährigen Geschichte neben zahlreichen unglaublich klingenden Mythen und Legenden auch so illustre reale Persönlichkeiten wie Franz Kafka oder den kaiserlichen Hofbankier Mordechai Meisel hervorgebracht, vor allem aber natürlich den sagenumwobenen Talmudisten und Philosophen Rabbi Jehuda Löw – sowie dessen angeblich mit Hilfe geheimer kabbalistischer Formeln aus Ton hergestellten, frankensteinhaften künstlichen Gemeindediener, eben jenen geheimnisvollen titelgebenden Golem.


Was der Tourist dort heute als immer noch beeindruckend homogenes Jüdisches Viertel zu sehen bekommt, mit seinen zahlreichen historischen Synagogen, dem lauschigen Friedhof (mit dem Grab von Rabbi Löw) oder dem mittelalterlichen Jüdischen Rathaus, hat jedoch nur noch wenig zu tun mit der sogenannten Judenstadt, die sich seit dem 13. Jahrhundert auf diesem begrenzten Areal zunehmend unkontrolliert ausgebreitet hatte und aufgrund der beengten Verhältnisse im Lauf der Jahrhunderte zu einem untragbaren sozialen Brennpunkt geworden war – wenn auch zu einem äußerst pittoresken und stimmungsvollen: wie neben Meyrinks Roman auch die beiden kongenialen Serien von unabhängig voneinander dazu entstandenen zeitgenössischen Illustrationen Hugo Steiner-Prags (1880-1945) und Alfred Kubins (1877-1959) eindrucksvoll unterstreichen.

Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem"

Ab 1885 begannen die Behörden das Viertel wegen der katastrophalen hygienischen Bedingungen bis auf wenige historisch unbestreitbar wertvolle Baudenkmäler niederzureißen und anschließend mit teils veränderter Straßenführung im metropolitanen habsburgischen Stil neu wieder aufzubauen. So verschwanden innerhalb nur eines Jahrzehnts die zahlreichen windschief ineinander verbauten, merkwürdig aneinander gedrückten und aufeinander gestapelten Wohnquartiere endgültig aus dem Prager Stadtbild, denen Meyrink nachträglich in seinem dem deutschen literarischen Expressionismus nahestehenden, geradezu kafkaesken Roman ein so eindrucksvolles und plastisches Denkmal gesetzt hat.

Golem?“ – Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen Sie etwas über den Golem, Zwakh?“
Wer kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse?“, antwortete Zwakh und zuckte die Achseln. „Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so übertrieben und aufgebauscht, daß sie schließlich an der eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde gehen. Der Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurück, sagt man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da einen künstlichen Menschen – den sogenannten Golem – verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge läuten, und allerhand grobe Arbeit tue.
Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein dumpfes, halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt, auch das nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter den Zähnen stak und die freien siderischen Kräfte des Weltalls herabzog.
Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem Munde des Golems zu nehmen versäumt, da wäre dieser in Tobsucht verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hätte zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen.
Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von ihm übrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in der Altneusynagoge gezeigt wird.“

Es ist eine äußerst seltsame Ironie der Geschichte, dass die zahlreichen Zeugnisse jüdischen Lebens in der Josefstadt ausgerechnet deshalb erhalten geblieben sind, weil die Nazis an diesem Ort für die Zeit nach dem „Endsieg“ eine Art zynisches Museum einer „untergegangenen Kultur“ zu errichten planten und zu diesem Zweck auch zahlreiche geraubte Kunstgegenstände hier deponierten. Meyrinks Buch, in dem der historischen Judenstadt eine geradezu belebt scheinende nicht unwesentliche Nebenrolle zukommt, führt uns indes direkt ins Ghetto früherer Tage: sein namenloser Icherzähler ist über der anstrengenden Lektüre eines nicht näher bezeichneten Buches mit herausforderndem philosophischen Inhalt eingeschlafen und findet sich, diesem noch im Traum ruhelos nachgrübelnd, schließlich im düsteren Hof eines heruntergekommenen Mietshauses im Ghetto wieder, in dem er als Gemmenschneider Athanasius Pernath eine kleine, ärmliche Kammer bewohnt. In einem Torbogen vor seinem Haus stehend, beobachtet er den jüdischen Trödler Aaron Wassertrum vor dessen mit nutzlosen Dingen vollgestopftem Antiquitätenladen und sinniert über die ganz und gar lieblose, quälende Eintönigkeit seines Lebens.

Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem"

Doch schon bald – als habe er sich dieses Gedankens nur bewusst werden müssen – wird er unweigerlich in den unwiderstehlichen Sog einer Reihe von unheimlichen und aufwühlenden Geschehnissen hineingezogen: durch eine verborgene, ihm selbst bislang unbekannte Falltür im Fußboden seines Zimmers kommt noch am selben Abend plötzlich eine hübsche junge Frau in offensichtlicher Todesangst in sein Zimmer hereingestürmt, die ihn offenbar bestens kennt und um Schutz und Hilfe vor Aaron Wassertrum bittet, der sie und ihren heimlichen Geliebten, einen jungen Augenarzt, zu ermorden trachte. Die unverhoffte Aufgabe erfüllt Pernath mit neuer Hoffnung und Lebensmut, und er verspricht der Unbekannten, alles in seiner Macht stehende zu tun, um ihr zu helfen.

Wenn ich mich nicht getäuscht habe in der Empfindung, daß jemand in einem gewissen gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt, in der Absicht, mich zu besuchen, so muß er jetzt ungefähr auf dem letzten Stiegenabsatz stehen.
Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muß er, mühsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Türschild lesen.
Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum Eingang.
Da öffnete sich die Türe und er trat ein.

Am folgenden Tag, als er über seiner filigranen Arbeit als Gemmenschneider einzuschlafen droht, betritt ein seltsam gesichts- und alterslos scheinender Mann mit asiatischen Gesichtszügen seine Kammer und übergibt ihm ein kunstvoll gestaltetes Buch in hebräischer Sprache mit der stumm artikulierten Bitte, dieses für ihn zu restaurieren. Ist die Begegnung Traum oder Realität? Warum kann Pernath plötzlich die prächtig verzierten hebräischen Buchstaben lesen, obwohl er doch niemals Hebräisch gelernt hat? Nachdem der Mann gegangen ist, hat Pernath eine seltsame Vision von einer in höchstem Maße bedeutsamen, von ihm selbst zu treffenden Entscheidung, die das Schicksal ganzer Generationen beeinflussen werde, deren Natur er aber beim besten Willen nicht zu ergründen vermag. Und während eines geselligen Abends, an dem auch die unheimliche Geschichte von Rabbi Löws Golem zum Besten gegeben wird, erfährt Pernath aus Andeutungen seiner Freunde, dass er selbst, der keinerlei Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit besitzt, in seiner Jugend offenbar einen massiven psychischen Zusammenbruch erlitten haben müsse und nach ohnmächtigen Jahren in einer psychiatrischen Anstalt nur durch einen von ärztlicher Seite gezielt hervorgerufenen Verdrängungsprozess wieder zu einem gewöhnlichen Leben habe ermächtigt werden können.

Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem"

Durch einen weitläufigen Bekannten, den von heiligem Hass auf den Trödler Wassertrum verzerrten schwindsüchtigen Studenten Charousek, wird er schließlich in einen undurchschaubar scheinenden und vom Autor glänzend konstruierten Kriminalfall um fehlgeleitete Liebe, Betrug und Mord hineingezogen, der ihn mehrmals in unmittelbare Todesgefahr bringt, ihn aber am Ende seines persönlichen Weges endlich wieder Zugang zu seinen lange verschütteten Erinnerungen an seine eigene Jugend finden lässt. Neben einer bemerkenswerten, an zahlreichen unvorhersehbaren Wendungen äußerst reichen, gebannt und atemlos zu lesenden äußeren Handlung sowie einer außerordentlich intensiven, kaum abzuschüttelnden Atmosphäre nachhaltigen und subtilen Grauens besitzt der Roman aber auch eine ebenso reiche innere Handlung, in der der esoterisch bewanderte und in seinen späteren Lebensjahren zum Mahajana-Buddhismus konvertierte Autor Carl Gustav Jungs psychologisches Konzept vom Weg der menschlichen Individuation in erstaunlicher, geradezu prophetischer Synchronizität vorwegnimmt.

Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich, wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel wies, und sagte:
Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die gespenstischen Dinge – die Kischuph – auf den Menschen; das Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt sind mild und erwärmend.“
Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern sollen. Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenüber und fuhr gelassen fort: „Auch ein silberner Spiegel, hätte er Empfindungen, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glänzend geworden, gibt er alle Dinge wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung.“
Wohl dem Menschen“, setzte er leise hinzu, „der von sich sagen kann: Ich bin geschliffen.“

Auf seinem komplizierten und furchtbesetzten inneren Weg steht Athanasius Pernath immer wieder der weise jüdische Gelehrte Schemajah Hillel hilfreich zur Seite, in dessen hübscher und tiefsinniger Tochter Miriam der Leser fasziniert auch Jungs Idee von der weiblichen Anima widergespiegelt sieht. Die lebensnahe Charakterzeichnung der zahlreichen ebenso originell wie vielschichtig gestalteten Protagonisten verrät außerdem den begabten Satiriker und langjährigen Mitarbeiter des legendären „Simplicissimus“, als der sich der Ex-Banker Meyrink nach dem spektakulären Scheitern seiner bürgerlichen Existenz eine zweite Lebensgrundlage als freier Schriftsteller aufgebaut hatte. In seinem auch von ihm selbst nie wieder erreichten singulären Welterfolg „Der Golem“, einem Lieblingsbuch übrigens auch des großen argentinischen Dichters und Schriftstellers Jorge Luis Borges, hat Gustav Meyrink eines der unvergänglichen Meisterwerke der fantastischen Literatur geschaffen, das dem Leser auch bei wiederholter Lektüre stets neue, bisher übersehene und unverstandene Details offenbart und das trotz seines hohen symbolischen Gehalts ohne weiteres auch einfach nur als spannender Unterhaltungs- und Schauerroman gelesen werden kann: schon im ersten Jahr seines Erscheinens (1915) verkaufte sich das Buch nicht weniger als 100.000mal – für heutige Vorstellungen ein Mega-Bestseller.

Gustav Meyrink

Die im Verlag Hoffmann & Campe erschienene prachtvolle Jubiläumsausgabe mit kunstvoll gestaltetem Ganzleinen-Umschlag, traditioneller Fadenbindung und einer den Buchblock vollständig umziehenden roten Schnittverzierung gibt Meyrinks Meisterwerk erstmals seit vielen Jahren wieder eine angemessene buchkünstlerische Ausstattung mit auf den Weg. Leider allerdings vermag die „innere“ Zusatzausstattung diese bemerkenswerte Qualität nicht zu halten: das Nachwort der Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Ulrike Ehmann bleibt auf dem oberflächlichen Niveau eines ambitionierten Abituraufsatzes stecken. Auch trägt die von ihr erstellte Zeittafel lediglich dem bemerkenswerten persönlichen Lebensweg des Autors Rechnung, während sie auf wichtige Eckdaten der Prager Stadtgeschichte, die in der Handlung des Buches eine entscheidende Rolle spielen, mit keinem Wort eingeht. Das bedauernswerteste Versäumnis der Neuausgabe ist jedoch der bewusste Verzicht auf jegliche Illustrationen. Selbst wenn die Rechte an den oben erwähnten zeitgenössischen Illustrationen in der Tat nicht verfügbar oder unerschwinglich gewesen sein sollten, hätte man den Text ebenso wirkungsvoll mit honorarfreien historischen Fotos anreichern können. Diese kleinen Schönheitsfehler werden aber letztlich von der Schönheit und dem unvergänglichen Gehalt des Textes letztlich so wirkungsvoll überstrahlt, dass am Ende die ehrliche Freude an einem der wenigen gelungenen Beispiele expressionistischer Weltliteratur in deutscher Sprache eindeutig überwiegen darf.

„Der Golem“, erschienen bei Hoffmann & Campe, 383 Seiten, € 35,-
  
Eine leicht veränderte Fassung dieses Artikels erschien in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau.

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