Es
gibt kaum ein anderes Buch, das so untrennbar mit der historischen
Topografie einer europäischen Metropole verbunden ist wie Gustav
Meyrinks meisterhafter Schauerroman „Der Golem“ mit der
tschechischen Hauptstadt Prag und ihrem legendären jüdischen Ghetto
in der sogenannten Josefstadt. Dieser zentral gelegene
Altstadt-Bezirk hat im Verlauf seiner beeindruckenden, über
sechshundertjährigen Geschichte neben zahlreichen unglaublich
klingenden Mythen und Legenden auch so illustre reale
Persönlichkeiten wie Franz Kafka oder den kaiserlichen Hofbankier
Mordechai Meisel hervorgebracht, vor allem aber natürlich den
sagenumwobenen Talmudisten und Philosophen Rabbi Jehuda Löw –
sowie dessen angeblich mit Hilfe geheimer kabbalistischer Formeln aus
Ton hergestellten, frankensteinhaften künstlichen Gemeindediener,
eben jenen geheimnisvollen titelgebenden Golem.
Was
der Tourist dort heute als immer noch beeindruckend homogenes
Jüdisches Viertel zu sehen bekommt, mit seinen zahlreichen
historischen Synagogen, dem lauschigen Friedhof (mit dem Grab von
Rabbi Löw) oder dem mittelalterlichen Jüdischen Rathaus, hat jedoch
nur noch wenig zu tun mit der sogenannten Judenstadt, die sich seit
dem 13. Jahrhundert auf diesem begrenzten Areal zunehmend
unkontrolliert ausgebreitet hatte und aufgrund der beengten
Verhältnisse im Lauf der Jahrhunderte zu einem untragbaren sozialen
Brennpunkt geworden war – wenn auch zu einem äußerst pittoresken
und stimmungsvollen: wie neben Meyrinks Roman auch die beiden
kongenialen Serien von unabhängig voneinander dazu entstandenen
zeitgenössischen Illustrationen Hugo Steiner-Prags (1880-1945) und
Alfred Kubins (1877-1959) eindrucksvoll unterstreichen.
Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem" |
Ab
1885 begannen die Behörden das Viertel wegen der katastrophalen
hygienischen Bedingungen bis auf wenige historisch unbestreitbar
wertvolle Baudenkmäler niederzureißen und anschließend mit teils
veränderter Straßenführung im metropolitanen habsburgischen Stil
neu wieder aufzubauen. So verschwanden innerhalb nur eines Jahrzehnts
die zahlreichen windschief ineinander verbauten, merkwürdig
aneinander gedrückten und aufeinander gestapelten Wohnquartiere
endgültig aus dem Prager Stadtbild, denen Meyrink nachträglich in
seinem dem deutschen literarischen Expressionismus nahestehenden,
geradezu kafkaesken Roman ein so eindrucksvolles und plastisches
Denkmal gesetzt hat.
„Golem?“
– Ich habe schon so viel davon reden hören. Wissen Sie etwas über
den Golem, Zwakh?“
„Wer
kann sagen, daß er über den Golem etwas wisse?“, antwortete Zwakh
und zuckte die Achseln. „Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis
sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn
plötzlich wieder aufleben läßt. Und eine Zeitlang spricht dann
jeder von ihm, und die Gerüchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden
so übertrieben und aufgebauscht, daß sie schließlich an der
eigenen Unglaubwürdigkeit zugrunde gehen. Der Ursprung der
Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurück, sagt man.
Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da
einen künstlichen Menschen – den sogenannten Golem – verfertigt
haben, damit er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge
läuten, und allerhand grobe Arbeit tue.
Es
sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein
dumpfes, halbbewußtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heißt,
auch das nur tagsüber und kraft des Einflusses eines magischen
Zettels, der ihm hinter den Zähnen stak und die freien siderischen
Kräfte des Weltalls herabzog.
Und
als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem
Munde des Golems zu nehmen versäumt, da wäre dieser in Tobsucht
verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hätte
zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen.
Bis
der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
Und
da sei das Geschöpf leblos niedergestürzt. Nichts blieb von ihm
übrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drüben in der
Altneusynagoge gezeigt wird.“
Es ist
eine äußerst seltsame Ironie der Geschichte, dass die zahlreichen
Zeugnisse jüdischen Lebens in der Josefstadt ausgerechnet deshalb
erhalten geblieben sind, weil die Nazis an diesem Ort für die Zeit
nach dem „Endsieg“ eine Art zynisches Museum einer
„untergegangenen Kultur“ zu errichten planten und zu diesem Zweck
auch zahlreiche geraubte Kunstgegenstände hier deponierten. Meyrinks
Buch, in dem der historischen Judenstadt eine geradezu belebt
scheinende nicht unwesentliche Nebenrolle zukommt, führt uns indes
direkt ins Ghetto früherer Tage: sein namenloser Icherzähler ist
über der anstrengenden Lektüre eines nicht näher bezeichneten
Buches mit herausforderndem philosophischen Inhalt eingeschlafen und
findet sich, diesem noch im Traum ruhelos nachgrübelnd, schließlich
im düsteren Hof eines heruntergekommenen Mietshauses im Ghetto
wieder, in dem er als Gemmenschneider Athanasius Pernath eine kleine,
ärmliche Kammer bewohnt. In einem Torbogen vor seinem Haus stehend,
beobachtet er den jüdischen Trödler Aaron Wassertrum vor dessen mit
nutzlosen Dingen vollgestopftem Antiquitätenladen und sinniert über
die ganz und gar lieblose, quälende Eintönigkeit seines Lebens.
Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem" |
Doch
schon bald – als habe er sich dieses Gedankens nur bewusst werden
müssen – wird er unweigerlich in den unwiderstehlichen Sog einer
Reihe von unheimlichen und aufwühlenden Geschehnissen hineingezogen:
durch eine verborgene, ihm selbst bislang unbekannte Falltür im
Fußboden seines Zimmers kommt noch am selben Abend plötzlich eine
hübsche junge Frau in offensichtlicher Todesangst in sein Zimmer
hereingestürmt, die ihn offenbar bestens kennt und um Schutz und
Hilfe vor Aaron Wassertrum bittet, der sie und ihren heimlichen
Geliebten, einen jungen Augenarzt, zu ermorden trachte. Die
unverhoffte Aufgabe erfüllt Pernath mit neuer Hoffnung und
Lebensmut, und er verspricht der Unbekannten, alles in seiner Macht
stehende zu tun, um ihr zu helfen.
Wenn
ich mich nicht getäuscht habe in der Empfindung, daß jemand in
einem gewissen gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe
heraufkommt, in der Absicht, mich zu besuchen, so muß er jetzt
ungefähr auf dem letzten Stiegenabsatz stehen.
Jetzt
biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung
hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des
oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
Nun
tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muß er,
mühsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem Türschild
lesen.
Und
ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum
Eingang.
Da
öffnete sich die Türe und er trat ein.
Am
folgenden Tag, als er über seiner filigranen Arbeit als
Gemmenschneider einzuschlafen droht, betritt ein seltsam gesichts-
und alterslos scheinender Mann mit asiatischen Gesichtszügen seine
Kammer und übergibt ihm ein kunstvoll gestaltetes Buch in
hebräischer Sprache mit der stumm artikulierten Bitte, dieses für
ihn zu restaurieren. Ist die Begegnung Traum oder Realität? Warum
kann Pernath plötzlich die prächtig verzierten hebräischen
Buchstaben lesen, obwohl er doch niemals Hebräisch gelernt hat?
Nachdem der Mann gegangen ist, hat Pernath eine seltsame Vision von
einer in höchstem Maße bedeutsamen, von ihm selbst zu treffenden
Entscheidung, die das Schicksal ganzer Generationen beeinflussen
werde, deren Natur er aber beim besten Willen nicht zu ergründen
vermag. Und während eines geselligen Abends, an dem auch die
unheimliche Geschichte von Rabbi Löws Golem zum Besten gegeben wird,
erfährt Pernath aus Andeutungen seiner Freunde, dass er selbst, der
keinerlei Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit besitzt, in
seiner Jugend offenbar einen massiven psychischen Zusammenbruch
erlitten haben müsse und nach ohnmächtigen Jahren in einer
psychiatrischen Anstalt nur durch einen von ärztlicher Seite gezielt
hervorgerufenen Verdrängungsprozess wieder zu einem gewöhnlichen
Leben habe ermächtigt werden können.
Hugo Steiner-Prag, Illustration zu "Der Golem" |
Durch
einen weitläufigen Bekannten, den von heiligem Hass auf den Trödler
Wassertrum verzerrten schwindsüchtigen Studenten Charousek, wird er
schließlich in einen undurchschaubar scheinenden und vom Autor
glänzend konstruierten Kriminalfall um fehlgeleitete Liebe, Betrug
und Mord hineingezogen, der ihn mehrmals in unmittelbare Todesgefahr
bringt, ihn aber am Ende seines persönlichen Weges endlich wieder
Zugang zu seinen lange verschütteten Erinnerungen an seine eigene
Jugend finden lässt. Neben einer bemerkenswerten, an zahlreichen
unvorhersehbaren Wendungen äußerst reichen, gebannt und atemlos zu
lesenden äußeren Handlung sowie einer außerordentlich intensiven,
kaum abzuschüttelnden Atmosphäre nachhaltigen und subtilen Grauens
besitzt der Roman aber auch eine ebenso reiche innere Handlung, in
der der esoterisch bewanderte und in seinen späteren Lebensjahren
zum Mahajana-Buddhismus konvertierte Autor Carl Gustav Jungs
psychologisches Konzept vom Weg der menschlichen Individuation in
erstaunlicher, geradezu prophetischer Synchronizität vorwegnimmt.
Hillel
erriet offenbar meine Gedanken, denn er lächelte freundlich, wobei
er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel
wies, und sagte:
„Es
ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die
gespenstischen Dinge – die Kischuph – auf den Menschen; das Leben
kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die Sonnenstrahlen
der geistigen Welt sind mild und erwärmend.“
Ich
schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hätte erwidern sollen.
Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir
gegenüber und fuhr gelassen fort: „Auch ein silberner Spiegel,
hätte er Empfindungen, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird.
Glatt und glänzend geworden, gibt er alle Dinge wieder, die auf ihn
fallen, ohne Leid und Erregung.“
„Wohl
dem Menschen“, setzte er leise hinzu, „der von sich sagen kann:
Ich bin geschliffen.“
Auf
seinem komplizierten und furchtbesetzten inneren Weg steht Athanasius
Pernath immer wieder der weise jüdische Gelehrte Schemajah Hillel
hilfreich zur Seite, in dessen hübscher und tiefsinniger Tochter
Miriam der Leser fasziniert auch Jungs Idee von der weiblichen Anima
widergespiegelt sieht. Die lebensnahe Charakterzeichnung der
zahlreichen ebenso originell wie vielschichtig gestalteten
Protagonisten verrät außerdem den begabten Satiriker und
langjährigen Mitarbeiter des legendären „Simplicissimus“, als
der sich der Ex-Banker Meyrink nach dem spektakulären Scheitern
seiner bürgerlichen Existenz eine zweite Lebensgrundlage als freier
Schriftsteller aufgebaut hatte. In seinem auch von ihm selbst nie
wieder erreichten singulären Welterfolg „Der Golem“, einem
Lieblingsbuch übrigens auch des großen argentinischen Dichters und
Schriftstellers Jorge Luis Borges, hat Gustav Meyrink eines der
unvergänglichen Meisterwerke der fantastischen Literatur geschaffen,
das dem Leser auch bei wiederholter Lektüre stets neue, bisher
übersehene und unverstandene Details offenbart und das trotz seines
hohen symbolischen Gehalts ohne weiteres auch einfach nur als
spannender Unterhaltungs- und Schauerroman gelesen werden kann: schon
im ersten Jahr seines Erscheinens (1915) verkaufte sich das Buch
nicht weniger als 100.000mal – für heutige Vorstellungen ein
Mega-Bestseller.
Gustav Meyrink |
Die im
Verlag Hoffmann & Campe erschienene prachtvolle Jubiläumsausgabe
mit kunstvoll gestaltetem Ganzleinen-Umschlag, traditioneller
Fadenbindung und einer den Buchblock vollständig umziehenden roten
Schnittverzierung gibt Meyrinks Meisterwerk erstmals seit vielen
Jahren wieder eine angemessene buchkünstlerische Ausstattung mit auf
den Weg. Leider allerdings vermag die „innere“ Zusatzausstattung
diese bemerkenswerte Qualität nicht zu halten: das Nachwort der
Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Ulrike Ehmann bleibt auf
dem oberflächlichen Niveau eines ambitionierten Abituraufsatzes
stecken. Auch trägt die von ihr erstellte Zeittafel lediglich dem
bemerkenswerten persönlichen Lebensweg des Autors Rechnung, während
sie auf wichtige Eckdaten der Prager Stadtgeschichte, die in der
Handlung des Buches eine entscheidende Rolle spielen, mit keinem Wort
eingeht. Das bedauernswerteste Versäumnis der Neuausgabe ist jedoch
der bewusste Verzicht auf jegliche Illustrationen. Selbst wenn die
Rechte an den oben erwähnten zeitgenössischen Illustrationen in der
Tat nicht verfügbar oder unerschwinglich gewesen sein sollten, hätte
man den Text ebenso wirkungsvoll mit honorarfreien historischen
Fotos anreichern können. Diese kleinen Schönheitsfehler werden aber
letztlich von der Schönheit und dem unvergänglichen Gehalt des
Textes letztlich so wirkungsvoll überstrahlt, dass am Ende die
ehrliche Freude an einem der wenigen gelungenen Beispiele
expressionistischer Weltliteratur in deutscher Sprache eindeutig
überwiegen darf.
„Der Golem“, erschienen bei Hoffmann & Campe, 383 Seiten, € 35,-
Eine leicht
veränderte Fassung dieses Artikels erschien in der Septemberausgabe
der Jüdischen Rundschau.
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