In einem Lied der
österreichischen Folk-Rock-Band STS beschreibt das lyrische Ich in
suggestiven Versen eine kleine Stadt, die deutlich sichtbar für
jeden langjährigen Bewohner einen großen Teil ihrer vertrauten
Einwohnerschaft verloren hat, wodurch sich das Stadtbild innerhalb
kürzester Zeit merklich verändert hat: Spielsachen liegen verwaist
im Gras, der Nachbar sitzt nicht im Café wie sonst immer, die
Schneiderwerkstatt liegt verlassen da und auch in der Wohnung vom
„alten Doktor“ wohnt jetzt jemand anders – „Wo sind all die
Menschen hin?“, fragt der Refrain, um vom schrecklichen „wissenden“
Echo geradezu niedergebrüllt zu werden, welches das Ungesehene mit
quälender Deutlichkeit beim Namen nennt.
Wenn wir das kollektive
Gedenken an die Schoah auf mechanisch-gedankenlose Art und Weise mit
geographisch und begriffsmäßig weit entfernten Orten wie Auschwitz
verknüpfen, drohen wir zu vergessen, dass die dort verübten
Verbrechen an Menschen begangen wurden, die hier lebten, mitten unter
uns, die ihren Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden und Bekannten
tagtäglich ein vertrauter, wenn nicht gar kostbarer Anblick waren.
Es ist daher immer ein lohnender Beitrag zum Verständnis der
monströsen kulturellen Zäsur von 1933, wenn sich heute private oder
öffentliche Geldgeber finden, die wenig verkaufsträchtig scheinende
Buchveröffentlichungen finanzieren, welche jüdisches Leben im
scheinbar unbedeutenden Kontext des Provinziellen darzustellen
versuchen.
Wenn man solch
unscheinbaren Spuren jüdischen Lebens in ihrem eigentlichen
geographischen Zusammenhang nachgeht, holt man damit das Geschehene
zurück in seinen eigentlichen sozialen, politischen und
wirtschaftlichen Kontext und befreit es nachhaltig vom abstrakten
historischen Verständnis des Völkermords. Der in seinem Stammberuf
erfolgreiche Ingenieur und leidenschaftliche Heimatforscher Matthias
Bertram, geboren 1950 in Dernau an der Ahr, hat nach jahrelanger
aufwendiger persönlicher Recherchearbeit und mit freundlicher
Unterstützung des Landschaftsverbands Rheinland nun eine nahezu
lückenlose Darstellung jüdischen Lebens in seiner unmittelbaren
Heimatregion vorgelegt.
In seiner
annerkennenswerten, an historischen schriftlichen und mündlichen
Zeitzeugen-Quellen reichen Fleißarbeit konzentriert sich der Autor
auf die im Zentrum des örtlichen Weinanbaus gelegene eng umrissene
Region der kleinen Ortschaften Dernau, Ahrweiler, Siegburg und
Weilerswist von den ersten urkundlichen Nennungen im 13. Jahrhundert
bis zum faktischen Ende der Statistiken in den 1950er Jahren, als
selbst die wenigen jüdischen Überlebenden ihre jahrhundertelange
Heimat endgültig verließen. Die sich im Verlauf der Jahrhunderte
stetig verbessernde Quellenlage gibt dabei die ebenso
aufschlussreiche wie dankbare inhaltliche Konzentration auf die Zeit
von der Französischen Revolution und der anschließenden Besetzung
des Rheinlands durch Frankreich bis zum Ende des Nationalsozialismus
vor.
Pogrome in den großen
Städten bewogen jüdische Familien im Spätmittelalter sich im
ländlichen Rheinland anzusiedeln, wo sie meist in dem einzigen ihnen
offiziell erlaubten Beruf des Geldwechslers arbeiteten. Ein Dekret
Napoleons von 1808 verlangte schließlich auch für Juden die Führung
vererblicher Familiennamen, so dass rückwirkend seit diesem Datum
dezidiert auch die Erforschung familiärer Spuren jüdischen Lebens
möglich ist. Dieser Aufgabe widmet sich Matthias Bertram in seinem
Buch mit geradezu rührender Hingabe – so findet sich nicht nur der
Text jedes einzelnen Grabsteins auf dem erhalten gebliebenen
jüdischen Friedhof von Dernau liebevoll transkribiert und
analysiert, sondern nahezu jedes öffentliche oder private Dokument,
dessen der Autor im Verlaufe seiner internationalen Recherchen bei
bekannten Nachkommen von jüdischen Familien aus der Region in
Israel, USA, Kanada, Venezuela und vielen anderen Ländern habhaft
werden konnte.
Jüdischer Friedhof Ahrweiler/Foto: G. Freihalter |
Zwar ist seine Arbeit
nicht frei von Druck- und Grammatikfehlern oder Floskeln wie
„jüdische Mitbürger“, dennoch ist der praktische
Informationswert seines Buches beträchtlich. Er zeichnet darin ein
Bild von einer homogenen, im wesentlichen auf Landwirtschaft,
Kleinhandel und Weinbau ausgerichteten ländlichen Gemeinschaft,
innerhalb der jüdische Familien schon vor der offiziellen
Emanzipation einen natürlichen und organischen Anteil einnehmen
durften und als geachtete Mitglieder des sozialen und kulturellen
Lebens bestens integriert gewesen zu sein scheinen. So liefert der
Autor besonders für den in der historischen Rückschau nur allzu
kurzen Zeitraum bis zum Erstarken des deutschen Nationalismus und
institutionellen Antisemitismus viele überraschende und erfreuliche
Beispiele, wie Christen in einem engen sozialen Umfeld ihre jüdischen
Freunde, Nachbarn und Geschäftspartner gegen böswillige
Verleumdungen und falsche Anklagen verteidigt haben.
In den Ortschaften Dernau
und Ahrweiler konnten die Nationalsozialisten bei den beiden
Reichstagswahlen von 1932 nur deutlich weniger als 5% der Stimmen
erringen. Vor diesem Hintergrund werden die Fragen nach dem „Danach“
nur umso drängender. Diesen Fragen den notwendigen Raum zu geben,
ist nur das geringste Verdienst Matthias Bertrams Arbeit. Mit seinem
informativen Buch ist es ihm gelungen, jenen jüdischen Familien, die
seit mindestens zweihundert Jahren aufs Engste mit der Region und
ihrer nichtjüdischen Bevölkerung verbunden waren, den ihnen
gebührenden Platz im öffentlichen Gedächtnis zurückzugeben, den
die Nazis ihnen auch rückwirkend für immer hatten nehmen wollen.
„… in einem anderenLande“, erschienen bei Shaker Media, 411 Seiten, € 23,90
Dieser Text ist auch in
der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.
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