Jerusalem

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Donnerstag, 3. September 2015

„… in einem anderen Lande – Geschichte, Leben und Lebenswege von Juden im Rheinland“ von Matthias Bertram

In einem Lied der österreichischen Folk-Rock-Band STS beschreibt das lyrische Ich in suggestiven Versen eine kleine Stadt, die deutlich sichtbar für jeden langjährigen Bewohner einen großen Teil ihrer vertrauten Einwohnerschaft verloren hat, wodurch sich das Stadtbild innerhalb kürzester Zeit merklich verändert hat: Spielsachen liegen verwaist im Gras, der Nachbar sitzt nicht im Café wie sonst immer, die Schneiderwerkstatt liegt verlassen da und auch in der Wohnung vom „alten Doktor“ wohnt jetzt jemand anders – „Wo sind all die Menschen hin?“, fragt der Refrain, um vom schrecklichen „wissenden“ Echo geradezu niedergebrüllt zu werden, welches das Ungesehene mit quälender Deutlichkeit beim Namen nennt.

Wenn wir das kollektive Gedenken an die Schoah auf mechanisch-gedankenlose Art und Weise mit geographisch und begriffsmäßig weit entfernten Orten wie Auschwitz verknüpfen, drohen wir zu vergessen, dass die dort verübten Verbrechen an Menschen begangen wurden, die hier lebten, mitten unter uns, die ihren Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunden und Bekannten tagtäglich ein vertrauter, wenn nicht gar kostbarer Anblick waren. Es ist daher immer ein lohnender Beitrag zum Verständnis der monströsen kulturellen Zäsur von 1933, wenn sich heute private oder öffentliche Geldgeber finden, die wenig verkaufsträchtig scheinende Buchveröffentlichungen finanzieren, welche jüdisches Leben im scheinbar unbedeutenden Kontext des Provinziellen darzustellen versuchen.



Wenn man solch unscheinbaren Spuren jüdischen Lebens in ihrem eigentlichen geographischen Zusammenhang nachgeht, holt man damit das Geschehene zurück in seinen eigentlichen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kontext und befreit es nachhaltig vom abstrakten historischen Verständnis des Völkermords. Der in seinem Stammberuf erfolgreiche Ingenieur und leidenschaftliche Heimatforscher Matthias Bertram, geboren 1950 in Dernau an der Ahr, hat nach jahrelanger aufwendiger persönlicher Recherchearbeit und mit freundlicher Unterstützung des Landschaftsverbands Rheinland nun eine nahezu lückenlose Darstellung jüdischen Lebens in seiner unmittelbaren Heimatregion vorgelegt.

In seiner annerkennenswerten, an historischen schriftlichen und mündlichen Zeitzeugen-Quellen reichen Fleißarbeit konzentriert sich der Autor auf die im Zentrum des örtlichen Weinanbaus gelegene eng umrissene Region der kleinen Ortschaften Dernau, Ahrweiler, Siegburg und Weilerswist von den ersten urkundlichen Nennungen im 13. Jahrhundert bis zum faktischen Ende der Statistiken in den 1950er Jahren, als selbst die wenigen jüdischen Überlebenden ihre jahrhundertelange Heimat endgültig verließen. Die sich im Verlauf der Jahrhunderte stetig verbessernde Quellenlage gibt dabei die ebenso aufschlussreiche wie dankbare inhaltliche Konzentration auf die Zeit von der Französischen Revolution und der anschließenden Besetzung des Rheinlands durch Frankreich bis zum Ende des Nationalsozialismus vor.

Pogrome in den großen Städten bewogen jüdische Familien im Spätmittelalter sich im ländlichen Rheinland anzusiedeln, wo sie meist in dem einzigen ihnen offiziell erlaubten Beruf des Geldwechslers arbeiteten. Ein Dekret Napoleons von 1808 verlangte schließlich auch für Juden die Führung vererblicher Familiennamen, so dass rückwirkend seit diesem Datum dezidiert auch die Erforschung familiärer Spuren jüdischen Lebens möglich ist. Dieser Aufgabe widmet sich Matthias Bertram in seinem Buch mit geradezu rührender Hingabe – so findet sich nicht nur der Text jedes einzelnen Grabsteins auf dem erhalten gebliebenen jüdischen Friedhof von Dernau liebevoll transkribiert und analysiert, sondern nahezu jedes öffentliche oder private Dokument, dessen der Autor im Verlaufe seiner internationalen Recherchen bei bekannten Nachkommen von jüdischen Familien aus der Region in Israel, USA, Kanada, Venezuela und vielen anderen Ländern habhaft werden konnte.

Jüdischer Friedhof Ahrweiler/Foto: G. Freihalter

Zwar ist seine Arbeit nicht frei von Druck- und Grammatikfehlern oder Floskeln wie „jüdische Mitbürger“, dennoch ist der praktische Informationswert seines Buches beträchtlich. Er zeichnet darin ein Bild von einer homogenen, im wesentlichen auf Landwirtschaft, Kleinhandel und Weinbau ausgerichteten ländlichen Gemeinschaft, innerhalb der jüdische Familien schon vor der offiziellen Emanzipation einen natürlichen und organischen Anteil einnehmen durften und als geachtete Mitglieder des sozialen und kulturellen Lebens bestens integriert gewesen zu sein scheinen. So liefert der Autor besonders für den in der historischen Rückschau nur allzu kurzen Zeitraum bis zum Erstarken des deutschen Nationalismus und institutionellen Antisemitismus viele überraschende und erfreuliche Beispiele, wie Christen in einem engen sozialen Umfeld ihre jüdischen Freunde, Nachbarn und Geschäftspartner gegen böswillige Verleumdungen und falsche Anklagen verteidigt haben.

In den Ortschaften Dernau und Ahrweiler konnten die Nationalsozialisten bei den beiden Reichstagswahlen von 1932 nur deutlich weniger als 5% der Stimmen erringen. Vor diesem Hintergrund werden die Fragen nach dem „Danach“ nur umso drängender. Diesen Fragen den notwendigen Raum zu geben, ist nur das geringste Verdienst Matthias Bertrams Arbeit. Mit seinem informativen Buch ist es ihm gelungen, jenen jüdischen Familien, die seit mindestens zweihundert Jahren aufs Engste mit der Region und ihrer nichtjüdischen Bevölkerung verbunden waren, den ihnen gebührenden Platz im öffentlichen Gedächtnis zurückzugeben, den die Nazis ihnen auch rückwirkend für immer hatten nehmen wollen.

„… in einem anderenLande“, erschienen bei Shaker Media, 411 Seiten, € 23,90

Dieser Text ist auch in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.

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