Jerusalem

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Freitag, 28. August 2015

„Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ von Florian Huber

Erst kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs spürte ein Großteil der deutschen Zivilbevölkerung erstmals am eigenen Leib, welches epochale monströse Verhängnis sich da in Form des von ihm selbst entfesselten Nationalsozialismus über einen Zeitraum von nur zwölf Jahren über ganz Europa ausgebreitet hatte und schließlich nicht weniger als fünfzig Millionen Todesopfer zu verantworten hatte, darunter allein sechs Millionen Juden. Die von der Führung der sowjetischen Armee vergeblich unter Strafe gestellte spontane Brutalität der eigenen unaufhaltsam vorrückenden Truppen gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung ist heute allgemein bekannt und gut dokumentiert. Ihre wichtigste und schrecklichste Vorbedingung jedoch besteht in den vom deutschen Oberkommando zu Kriegsbeginn fest angeordneten und von deutschen Soldaten, SS-Truppen und Sonderkommandos widerspruchslos begangenen wahllosen und konzertierten Mordaktionen gegenüber angeblichen sowjetischen und jüdischen „Untermenschen“ jeden Alters und beiderlei Geschlechts als wohlkalkulierte, bewusste Verstöße gegen die Genfer Konvention.


Dass viele Deutsche besonders die Sowjetarmee fürchteten, ist zweifellos zu einem guten Teil der NS-Propaganda geschuldet, die alle ohnehin in der Bevölkerung vorhandenen Ressentiments systematisch zu forcieren wusste und jeden konkreten Anlass gern für ihre Zwecke instrumentalisierte. Der wesentliche Aspekt der berechtigten Furcht ergibt sich jedoch aus einem selbst mit beschränkter psychologischer Einsicht leicht erklärbaren Umstand: spätestens jetzt, im Angesicht der Niederlage, war das Wissen um die jedem menschlichen Maßstab enthobenen Untaten der eigenen Truppen in der deutschen Bevölkerung nicht mehr zu verdrängen, Konsequenzen schienen nicht nur unmittelbar absehbar, sondern geradezu unausweichlich. Die Kenntnis der eigenen, jedem menschlichen Maßstab enthobenen Verbrechen ließen Schlimmstes ahnen, gar eine von den Russen erfundene mechanische „Menschenpresse“, wie sie sich die Bewohner des Dorfes Alt Teterin bei Anklam laut Zeitzeugen zusammenphantasiert haben sollen.

Wenn man von der begründeten Prämisse eines umfassenden unbewussten Minderwertigkeitsgefühls des Nationalsozialismus ausgeht, war sogar das selbstzerstörerische Element als unausweichlicher Ausweg dem System von Anfang an immanent. Ohne den irrationalen, paranoid gesteigerten Hass auf alles Jüdische wäre die destruktive Nazi-Ideologie sogar vollkommen undenkbar. Der Nürnberger Historiker Florian Huber hat vor kurzem ein erschütterndes, nachhaltig deprimierendes Buch über eines der letzten aufzuarbeitenden tabubehafteten Phänomene des Kriegsendes vorgelegt, das diese aus jüdischer Sicht umso bitterere Analyse noch unterstreicht. Gegen Ende des Krieges breitete sich in Deutschland eine regelrechte Selbstmordepidemie aus, eine suizidale Massenpsychose nie dagewesenen Ausmaßes, die alle Bevölkerungsschichten erfasste und nach aktuellen Schätzungen mehrere zehntausend Opfer forderte.

Podelzig im Oderbruch, 1945/Foto: Bundesarchiv,Otto Donath

Das Buch mit dem bewusst emotionalen Titel „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ besitzt alle Zutaten eines Hollywood-Horrorschockers: einen in den Tagebucheinträgen eines dänischen Zeitungskorrespondenten zu mahnendem Beispiel erstarrten, ernst dreinblickenden prophetischen Pfarrer in der zerbombten Gedächtniskirche von Berlin, der die vom alliierten Dauerbombardement zerrüttete Gemeinde eindringlich vor dem unchristlichen Ausweg des Selbstmords warnt, Menschen, die sich wie Lemminge gemeinsam in einen Fluss stürzen und sich in den seichten Fluten gegenseitig unter Wasser drücken, Mütter, die erst ihre Kinder und dann sich selbst erhängen, Familienväter, die ihre gesamte Familie erschießen, alte Ehepaare die Giftkapseln schlucken – Florian Hubers sorgfältig recherchiertes Buch ist voller unerträglicher und angesichts des Schicksals der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, deren einziges Bestreben das Überleben war, geradezu zynisch wirkender Bilder.

Huber, der neben seinen Buchveröffentlichungen bereits zahlreiche auch international preisgekrönte Dokumentarfilme zu zeitgeschichtlichen Phänomenen erarbeitet hat, stützt sich in seinem eher dokumentarischen als analytischen Buch vor allem auf unzählige teils privat überlieferte Quellen wie authentische, zeitgenössische Briefe und Tagebücher. Am Beispiel der mecklenburgischen Stadt Demmin an der Peenemündung erarbeitet er mit rein erzählerischen Mitteln eine minutiöse, nahezu vollständig erscheinende Chronik des mit fast 1000 freiwilligen Todesopfern innerhalb weniger Tage im April 1945 besonders stark betroffenen Städtchens, um dann ebenso ausführlich auf die nicht wesentlich anders verlaufende Entwicklung im restlichen Deutschland einzugehen. Ein für den mit der Endphase des Nazi-Regimes einigermaßen vertrauten Leser unnötiges, aber dennoch für die von ihm selbst zu leistende Analyse höchst nützliches Stilmittel ist die fest in die Schilderung der Demminer Ereignisse eingebundene kontrastierende Darstellung des dazu auffällig synchron ablaufenden Hitler-Selbstmords im Führerbunker, der so unwillkürlich als Erscheinungsform einer ähnlich pathologischen psychischen Disposition gesehen werden muss.

Florian Huber/Foto: Carsten Schilke

Huber hält sich mit deutlich formulierten analytischen Urteilen auffällig zurück. Als Haupterklärungsansatz für die Massenpsychose der „kleinen Leute“ bietet er die umfassende Scham der (Mit-)Täter angesichts der unabwendbaren militärischen Niederlage an. Diese Deutung ist aber nicht tiefgreifend genug: die nationalsozialistische Ideologie, ihre nahezu mühe- und widerstandslose Etablierung in der deutschen Gesellschaft sowie die von ihr verantworteten Untaten waren in jeder Hinsicht monströser Maßlosigkeit. Die zahlreichen widersprüchlichen, vollkommen irrationalen Grundbedingungen und Ziele des Nationalsozialismus mussten jedem verstandesmäßig nur einigermaßen begabten und emotional reifen Deutschen als schändliche, amoralische Irrwege klar sein; ihn als unzulänglichen Ausweg aus der tief empfundenen Minderwertigkeit zu billigen, musste eine weitere Entfernung vom eigenen Selbst bedeuten. Um aber das umfassende Gefühl der tief empfundenen Minderwertigkeit wieder herzustellen und auf perverse Art und Weise zu erfüllen, blieb letztlich nur die Selbsttötung, nachdem der von Hitler angebotene Weg zur Selbstüberhöhung durch den systematischen Mord an Europas Juden folgerichtig (und im unbewussten psychischen Sinne erwartungsgemäß) gescheitert war.

Es ist absolut verständlich, dass aus diesem niederschmetternden Blickwinkel die Selbstmordepidemie von 1945 zu den letzten Tabus in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus gehört. Florian Hubers anschaulich erzähltes Buch ist zwar ein nützliches Instrument zur allgemeinen Bewusstwerdung dieses Phänomens, es ist aber wichtig, dass tiefere Analysen und eine breit angelegte Auseinandersetzung folgen, um die Ereignisse endgültig von ihrem irrationalistischen Ballast zu befreien, denn nur so können wir die Wirkungsweisen einer Massenpsychose wirklich begreifen lernen.


Dieser Artikel ist in leicht veränderter Fassung in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen

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