Das
biblische Gleichnis von Lot und seiner Frau, die sich auf der Flucht
aus der untergehenden Stadt Sodom entgegen dem himmlischen Gebot ein
letztes Mal umdreht und deshalb zu Salz versteinert, will uns vor
einer zu starken Anhaftung an der eigenen Vergangenheit warnen,
besonders wenn diese von Gewalt und vielfältigen Traumata
gekennzeichnet ist. Der altgriechische Mythos von Orpheus, der seine
geliebte Eurydike aus der Unterwelt befreit, nur um sie gleich darauf
endgültig zu verlieren, als er selbst noch einmal zurückblickt,
warnt sogar noch deutlicher: Wir werden nicht nur handlungsunfähig,
wenn wir uns zu sehr mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern
drohen darüber sogar unsere Liebsten zu verlieren.
In
seinem neuen, im französischen Sprachraum zu Recht vielfach
ausgezeichneten Buch „Monsieur Optimist“ erzählt der belgische
Rechtswissenschaftler und Schriftssteller Alain Beerenboom als
typischer Vertreter der sogenannten „Zweiten Generation“ die
denkwürdige, unmittelbar zu Herzen gehende, tragikomische Geschichte
des Lebens seiner Eltern in Belgien vor und nach dem Krieg sowie
ihres unglaublichen Überlebens unter deutscher Besatzung. Die
Geschichte von Lot und seiner Frau hat der Vater des Autors bis zu
seinem unerwarteten Tod im Jahr 1979 immer wieder als Rechtfertigung
für sein beharrliches Schweigen über die Kriegsjahre und ein
überangepasstes Leben als allseits beliebter Kleinstadtapotheker und
guter belgischer Staatsbürger erzählt. Nicht weniger als dreißig
Jahre brauchte der Autor – seine Mutter war mittlerweile ebenfalls
seit zehn Jahren tot – um sich emotional endlich auf den in wenigen
Pappkartons unbeachtet im Keller gelagerten schriftlichen Nachlass
seiner Eltern einlassen zu können.
Bis
zum Schluss hat der Zauberer seine Nummer bewundernswert
durchgezogen. Chapeau! Er hat sein Geburtsland genauso verschwinden
lassen wie die Dame aus der Trickkiste, und er hat den Sohn eines
osteuropäischen Einwanderers mit seinem Zauberstab in einen
waschechten Brüsseler verwandelt. Er hat von seinem Sohn alles
ferngehalten, was ihn hätte verstören können: seinen Großvater,
seine Tante, seinen Onkel – in Luft aufgelöst wie das Dorf, in dem
er hätte geboren werden können, wie der Laden, in dem er fasziniert
hätte stöbern können zwischen Schachteln mit Perlmuttknöpfen und
Spitzendeckchen. Verwehrt war ihm der Zugang zu den Sprachen, die ihn
zum Weinen hätten bringen können, zu den wehmutsvollen Klängen
eines untergegangenen Volkes. Abrakadabra.
Trotz
seiner teuflischen Geschicklichkeit war der Zauberer am Ende doch nur
ein Mensch. Als der Sohn ein bisschen an der Oberfläche kratzte und
einen Zipfel des Vorhangs lüpfte, als er hinter die Kulissen und in
die Bühnenfalltüren guckte, hat er alle Einzelteile mehr oder
weniger intakt aufgespürt, die der Zauberer vor den Augen des
Publikums in einer Wolke aus Pailletten verschwinden ließ.
Warum
sich Fragen stellen? Warum den Vorhang anheben? Um den Stimmen Gehör
zu verschaffen, den Stimmen von Frania, Aba und Sara und ihrer ganzen
kleinen Welt, Lilit, Esther, Mazsa, Jafa, Fela, David.
Mit
dem systematischen Öffnen einer Matrjoschka-Puppe beschreibt
Berenboom das schmerzvolle Sichten dieses Nachlasses sehr treffend –
jedes Dokument verbirgt ein weiteres und am Ende bleibt doch ein
endgültig unenträtselbarer Kern. „Monsieur Optimist“ – ein
passender Spitzname für einen ungläubigen polnischen Juden, der die
Armut seines Heimatdorfes Maków und das traditionelle orthodoxe
Judentum hinter sich gelassen hat, um in Lüttich Pharmazie zu
studieren, mit seinen selbsthergestellten Schönheitssalben,
Wunderpillen und Kräuterlikören zu bescheidenem Wohlstand gelangt
und mit seiner nichtjüdischen Umwelt untrennbar verschmolzen
scheint, der stets an das Gute im Menschen glaubt und mit seinen
zahlreichen gleichgesinnten Freunden aus der Brüsseler Gesellschaft
nächtelang über Politik und Philosophie diskutiert.
Apotheke in Brüssel/Foto: Michel Wal |
Liebevoll
aufgedrückt hat ihm den Spitznamen ein gern gesehener deutscher
Gast, ein exilierter Radiotechniker, mit dem er sich regelmäßig zum
Schachspielen trifft und der stets ein besonders offenes Ohr für
seine linken politischen Theorien hat, sich jedoch nach dem Einmarsch
der Deutschen als prominentes Mitglied der Fünften Kolonne erweist.
Das von ihm anfertigte Radiogerät funktioniert heute noch.
Mehr
als alles liebte mein Vater es, „seine Mittelchen“ herzustellen.
In den Tiefen seines Labors hatte er eine Schönheitscreme
entwickelt, eine Körpermilch, Dragees gegen Kopfschmerzen, ein
sprudelndes durstlöschendes Getränk gegen Verstopfung, eine
Vitaminmischung für schwächelnde Kinder, ein Sortiment an Sirups
für alle möglichen Anwendungsgebiete, ein Dutzend unterschiedlicher
Alkoholika, die er selbst im Keller destillierte, sowie extra gemixte
Tinkturen für die jungen Damen, die direkt um die Ecke in den
Schaufenstern der Rue du Marché arbeiteten. […] Die Cremes,
Tabletten, Pomaden und anderen Produkte, die er entwickelte, hätten
aus ihm den größten Konkurrenten von Herrn L'Oréal machen können,
wenn er sich nicht hartnäckig geweigert htte, seine Geheimnisse den
Laboratorien zu verkaufen, die bei ihm anfragte. Das wenigstens
erzählt meine Mutter mit mal bewunderndem, mal bitterem Unterton, je
nach Tagesform. Mein Vater hat den Behauptungen seiner Frau nie
widersprochen. […] Ein Taubenzüchterklub bezog sein Hauptquartier
im Café direkt neben der Apotheke. Mein Vater machte sich
unverzüglich an die Herstellung von Medikamenten für Tauben.
Innerhalb weniger Monate wurde er der
Spezialist auf dem Gebiet. Sein Ruf machte schnell die Runde in
Taubenliebhaberkreisen, und die Kundschaft strömte von überall
herbei.
Der
geradezu halsbrecherische Optimismus von Chaim und Rebecca zeigt sich
aber nicht nur in ihrer überstürzten Hochzeit, nur wenige Wochen
vor, sondern vor allem im absolut zeitgleichen Aufbruch mit dem
Einmarsch der Deutschen zur Hochzeitsreise nach Frankreich inmitten
von Panzern und Heerestransporten, bei dem die junge Braut einen
ihrer Reisekoffer verliert, wegen dem sie sich anschließend einen
jahrelangen, jedoch ergebnislosen Streit mit belgischen und
französischen Behörden liefert. All dies erfährt Alain Berenboom
(geboren 1947) erst nach und nach aus den ungeordneten
Nachlass-Dokumenten. Die Ereignisse seit dem Einmarsch haben die
Zuversicht seiner Eltern offenbar nachhaltig gedämpft – der
befohlenen Eintragung ins Judenregister kommen sie brav und folgsam
nach. Als der zuständige, ihnen wohl bekannte und freundlich
gesinnte Polizist ihnen jedoch anderthalb Jahre später eine amtliche
„Vorladung“ in eine Militärkaserne überreicht, ergreifen sie
ohne Bedenkzeit sofort die ihnen von ihm gebotene Chance zum
Untertauchen: mit Hilfe von hochoffiziell und „echt“ gefälschten
Papieren werden sie als Ehepaar Berenbaum für tot erklärt und
erhalten gleichzeitig den neuen Namen Janssen, der
so typisch belgisch ist, das ihn in Hergés Tim-und-Struppi-Comics
auch die vertrottelten Detektive tragen.
Alain Berenboom |
Der
Autor erzählt aber nicht nur eine nahezu unglaublich scheinende
authentische Geschichte jüdischen Überlebens und aktiven
Widerstands unter deutscher Besatzung,
die ihn selbst noch im fortgeschrittenen Erwachsenenalter überrascht
hat. Mit viel warmherzigem Humor vergegenwärtigt er in
zahlreichen, manchmal zum Weinen schönen Einzelepisoden seine eigene
liebevolle, wohlbehütete Kindheit, während der seine Eltern ihren
Sohn vor allem vor der eigenen Vergangenheit zu bewahren versuchten
und ihm dabei eher die Liebe zu Italien als zu Israel vermittelten.
„Als Gefangene im Ghetto war es für deine Großmutter eine
Ehrensache, sich täglich die Zähne zu putzen.“ – Solch kuriose
elterliche Motivationskniffe zum abendlichen Zähneputzen waren dabei
eher die Seltenheit. In seinen wunderbaren Erinnerungen führt uns
Alain Berenboom überzeugend vor Augen, dass es für die betroffene
Generation durchaus heilsam, vielleicht sogar lebensrettend sein
kann, den Blick zurück auf das erlittene Unrecht zu verweigern. Für
das Selbstverständnis der Generationen danach ist er nicht nur
außerordentlich bedeutsam, sondern geradezu unabdingbar.
„Monsieur Optimist“, aus dem Französischen von Tanja Graf und Helmut
Moysich, erschienen beim Graf Verlag, 288 Seiten, € 18,-
Eine leicht veränderte
Fassung dieses Artikels erschien in der Septemberausgabe der
Jüdischen Rundschau.
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