Jerusalem

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Samstag, 4. Juni 2016

„Pfingstrosenrot“ von Christian Schünemann & Jelena Volić

Wie sehr ein homogen scheinendes Staatsgebilde im ungebremsten Streben nach einer einheitlichen nationalen Identität zerfallen kann, zeigt das Beispiel Jugoslawiens und seiner Nachfolgestaaten auf ebenso aufschlussreiche wie verstörende Art und Weise. War der im Jahr 1918 neugegründete Staat Jugoslawien von Anfang an eine anspruchsvolle politische Gratwanderung zwischen den höchst verschiedenartigen Interessen seiner einzelnen Teilrepubliken, kam es nach dem Fall des Kommunismus zu einer umfassenden kriegerischen Selbstzerfleischung, deren vorläufige Klimax ohne Zweifel die Abspaltung des Kosovo von Serbien darstellt. Dabei ist das Streben nach nationaler Eigenständigkeit der betreffenden Staaten ohne deren geschichtlichen Hintergrund als unmittelbar von einer Zentralmacht abhängige und/oder tributpflichtige Vasallenstaaten am Schnittpunkt der Machtinteressen von Osmanischem und Habsburgerreich für den neutralen Beobachter kaum annähernd verständlich: es verkörpert die verständliche Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Eigenständigkeit, die über einen Zeitraum von mehr als fünfhundert Jahren in dieser Region kaum existiert hatte.

Wirtschaftlich hat seither vor allem Kroatien mit seinen malerischen, touristisch attraktiven Küstenregionen von seiner neugewonnenen nationalen Eigenständigkeit profitiert, während Montenegro als vielversprechender Geheimtipp zunehmend an Boden gewinnt. Insgesamt aber haben die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Staaten Ex-Jugoslawiens ihrem jeweiligen Außenbild im Westen nachhaltig geschadet. Insbesondere die florierende serbische Metropole Belgrad, die von Kennern immer wieder für ihre (teils morbide) Schönheit, ihr reiches Nachtleben und die weltoffene Lebenslust ihrer Bevölkerung gepriesen wird, ist hierzulande bislang nur schwer als reizvolles neues Reiseziel zu vermitteln – zu schwer wiegen offenbar die alten, von statistischen Untersuchungen immer wieder bestätigten traditionellen Vorurteile gegenüber der Bevölkerung des Balkan, die von den kriegerischen Konflikten der 1990er Jahre eher noch weiter verstärkt, wenigstens aber bestätigt worden zu sein scheinen.

Während sich Lydia auf die Suche nach ihrer Bekannten machte, trat Milena näher an das Foto heran. Hinter den Blumen war eine Ebene zu erkennen, wahrscheinlich das Amselfeld, und bewaldete Hänge, wie sie typisch waren für das Kosovo. Auf dem Amselfeld hatten die Serben vor mehr als sechshundert Jahren die Schlacht gegen die Türken verloren, eine Niederlage, die bis heute gefeiert und in alten Volksliedern besungen wurde. Bis dahin waren im Kosovo der Sitz der serbisch-orthodoxen Kirche und das politische Zentrum gewesen, daher sprach man vom Kosovo auch als der „Wiege der serbischen Kultur“. Verheerend war, dass die Albander genauso dachten, was ihre Identität und Kultur betraf, und sich als Abkömmlinge der alten Illyrer bezeichneten, der Ureinwohner dieser Region. Ein kleines Stück Land, kleiner als das deutsche Bundesland Schleswig-Holstein, war mit so viel Geschichte und Mythen beladen, und eine davon besagte, dass nur hier die Pfingstrose in solch prächtigen Rottönen blühen würde, weil der Boden mit so viel Blut getränkt ist.

Die beiden befreundeten Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Jelena Volić aus Serbien und Christian Schünemann aus Deutschland haben sich gemeinsam die lobenswerten Aufgabe gestellt, die erwähnten Vorurteile wenigstens für ein neugieriges Lesepublikum mit den vielfältigen literarischen Mitteln einer Krimiserie zu korrigieren. Ihre kommerziell bisher allerdings noch mäßig erfolgreichen Romane um die von ihrem deutschen Mann geschiedene, alleinerziehende Belgrader Kriminologin Milena Lukin bieten allerdings nicht nur intelligente und spannende Unterhaltung, sondern dienen gleichzeitig auch als aussagekräftige Sozialstudien und als subtile Werbung für die zu Unrecht unterschätzte serbische Metropole.


Belgrad/Foto: Vlada Marinković


In ihrem nun erschienenen zweiten Roman der Serie mit dem Titel „Pfingstrosenrot“ thematisiert das Autorenpaar ein bis heute ungeklärtes reales Verbrechen, das im Juli 2012 vor allem die serbische Öffentlichkeit erschütterte. Ein altes serbisches Ehepaar, das im Rahmen einer von der EU offiziell geförderten politischen Vereinbarung zwischen Serbien und der Regierung des Kosovo nach Talinovac im Kosovo zurückgekehrt war, war mittels zweier Genickschüsse aus nächster Nähe in seinem nahezu unbewohnbaren Haus regelrecht hingerichtet worden. Wer begeht ein so sinnloses Verbrechen an zwei hilflosen alten Menschen, die sich nichts anderes gewünscht haben als nach einem von Armut, Krieg und Flucht geprägten Leben ihre letzten Jahre in ihrer vertrauten Heimat zu verbringen? Alles scheint für blindwütigen nationalistischen Hass als Tatmotiv zu sprechen – das jedenfalls ist auch Milena Lukins erste Vermutung, besonders nachdem die resolute Kriminologin bei ersten eigenmächtigen Ermittlungen (vor denen sie von ihrem Partner eindringlich gewarnt worden war) im Kosovo von einer entfesselten Menge beinahe gelyncht worden ist.

Wo kommen Sie her?“, fragte Milena?
Kroatien. Operation Sturm. Wir waren unter den 250.000, die damals weg sind. Was ich sagen will: Wir waren alle noch klein, manche von uns vielleicht gerade erst geboren. Trotzdem, ich kann Goran verstehen.“ Sie machte die Augen schmal. „Und wenn ich mir vorstelle, die hätten so etwas mit meinen Eltern gemacht – ich würde durchdrehen. Ehrlich gesagt: Ich bete, dass Goran sie kriegt.“
Wen?“, fragte Milena.
Die Albaner-Schweine!“
Ja, und dann?“
Macht er sie kalt. Was denn sonst?“ Sie zückte wieder ihren Block und wandte sich lächelnd wieder einem der Gäste zu.

Nachdem sie aber die ebenso ehrgeizige wie erfolgreiche Tochter der Ermordeten sowie deren psychisch labilen, gewalttätigen Bruder und dessen langjährige Freundin kennengelernt hat, besonders aber den für die komplizierten Beziehungen zum Kosovo verantwortlichen Staatssekretär, beginnt sie langsam zu argwöhnen, dass möglicherweise ganz rationale Motive in diesem Mordfall eine viel entscheidendere Rolle spielen könnten und sich die Entscheidungsträger der beiden verfeindeten Staaten, wenn es um ihre ureigenen materiellen Interessen geht, womöglich sehr viel besser verstehen als es der äußere Schein nahelegt. Mit Hilfe ihres Gönners, des deutschen Botschafters, verschafft sich Milena Lukin Zugang zu exklusiven Zirkeln des politischen Establishments und stößt dabei auf eine bösartige Intrige, die selbst die Bürokratie der Europäischen Union ins Zwielicht rückt. Als sie sich so tief in den Fall hineinwühlt, dass sie ungewollt selbst in unmittelbare Lebensgefahrgerät, kommt ihr wieder einmal auf unvorhergesehene Art und Weise der Zufall zur Hilfe, diesmal in Gestalt ihrer eigenen Mildtätigkeit: denn wenn eine alte gebrechliche Frau ihre schweren Einkaufstaschen selbst schleppen muss, kann das die großherzige Ermittlerin ebenso schwer ertragen wie die allgegenwärtige politische Korruption, mit der sie sich auf Schritt und Tritt konfrontiert sieht.


Jelena Volić und Christian Schünemann/Foto: Nathan Beck

Während man im ersten Band der Reihe (in dem es vorrangig um serbische Kriegsverbrechen und den Einfluss des Militärs auf die Politik ging) noch deutlich die hohen Ambitionen der beiden Autoren und den Druck des ersten Romans spüren konnte, haben sie im zweiten Band zu einer sehr viel entspannteren Erzählhaltung gefunden, die der ganzen Atmosphäre des Romans ausgesprochen gut bekommt. Die Charakterzeichnung der einzelnen Personen, die Entwicklung ihrer persönlichen Motive sowie die Beschreibung der unterschiedlichen Milieus ist sehr überzeugend und der Leser hat den Eindruck, dass Milena Lukin nun vollends angekommen ist in der internationalen Krimilandschaft. Diese vermag sie mit ihrer authentischen Art, ihrer unverstellten Mitmenschlichkeit und ihrer lebensbejahenden Liebe zum Guten und Schönen (was gutes, deftiges Essen ausdrücklich mir einschließt) ausgesprochen zu bereichern. Der besondere Reiz der Reihe besteht aber eindeutig in der Erschließung eines neuen unverbrauchten Schauplatzes, der den entgegengesetzten Weg geht wie die meisten anderen vergleichbaren Krimiserien. Andrea Camilleri, Donna Leon oder Martin Walker zeigen uns, dass auch an idyllischen Sehnsuchtsorten des deutschen Lesers Verbrechen geschehen können. Jelena Volić und Christian Schünemann beweisen jedoch, dass selbst ein Ort mit schlechtem Image, dessen umfangreiche Probleme wie im Falle Belgrads unbestritten sind, Ort eines süßen Lebens sein kann.

„Pfingstrosenrot“, erschienen bei Diogenes, 356 Seiten, € 22,-

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