Jerusalem

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Mittwoch, 27. Januar 2016

Drei Alchemisten in Bethlehem

Ein Tagtraum


Was für eine spannende Geschichte: drei weise Männer folgen der Bahn eines Himmelskörpers in ein fremdes Land, um die Geburt eines Kindes zu bezeugen, das laut ihrer gemeinsamen, der Reise zugrunde liegenden Vision mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet sein soll und dem es möglicherweise vorherbestimmt sei, die Menschheit zu erlösen. Die Geschichte von der Geburt Jesu ist allgemein bekannt, die Evangelisten haben sich in ihrer Chronik der wundersamen Vorgänge mit Blick auf die alttestamentarischen Prophezeiungen ganz offensichtlich bemüht, Jesus als legitimen Erfüller der abstrakten messianischen Heilserwartung des Judentums zu identifizieren. Was aber wissen wir über jene drei* „Magier“ (Μάγοι πό νατολών) die die spätere christliche Überlieferung zu „heiligen drei Königen“ gemacht hat, und die Martin Luther später durchaus visionär als „drei Weise aus dem Morgenland“ übersetzte?


Leonaert Bramer: Reise der Heiligen Drei Könige nach Bethlehem


Gerade in der Konzentration der Evangelisten auf die zahlreichen Details zur Erfüllung der biblischen Prophezeiungen wird deutlich, welche Rolle die jüdische Kultur als Keimzelle der neuen Religion spielt, auch wenn sie nun durch den neuen Glauben letztlich überwunden werden soll. Gleichzeitig offenbart die wenig präzise Bezeichnung „Magier aus dem Osten“ aber auch eine erschütternde Unkenntnis dessen, was außerhalb der engen Grenzen der eigenen, vermeintlicherweise einzigartigen Kultur vor sich geht. Die Bezeichnung „Magier aus dem Osten“ birgt ohne Zweifel ein vom Autor beabsichtigtes Geheimnis, oder soll durch seine Verwendung nur die eigene Unkenntnis verdeckt werden? Streng genommen ist „der Osten“ ein sehr weitläufiger Begriff, der nicht viel mehr als eine Himmelrichtung anzeigt – für einen in der alten Bundesrepublik Deutschland sozialisierten Menschen konnte er so Undenkbares wie die DDR oder – noch schlimmer – die Sowjetunion bedeuten.

Nicht wenige Altphilologen und Theologen vertreten die Ansicht, dass der Evangelist Matthäus auch die alternative Wortbedeutung des Griechischen Μάγοι gemeint haben könnte, nämlich „Mager“, also Zoroastrier. Da aus der Perspektive des antiken Mittelmeerraums Zoroastrier aber grundsätzlich aus dem Osten kamen, nämlich aus Persien, Nordindien oder Afghanistan, scheint diese Verwendung allerdings höchstens als sprachliches Stilmittel der Dopplung und Steigerung des grundsätzlich Fremden nachvollziehbar. Persien scheint von Palästina nicht so weit entfernt, als dass es ein zeitgenössischer Autor, der sich noch dazu der griechischen Sprache bedient, nicht entsprechend hätte benennen können. Es ist also wahrscheinlicher, dass ein weiter entfernter, noch geheimnisvollerer, dem antiken Autor gänzlich unbekannter Osten gemeint ist.

Es ist absolut bemerkenswert, wie viel Mühe die Evangelisten darauf verwenden, Jesus als rechtmäßigen Messias zu legitimieren. Dass drei Weise oder gar Magier aus dem Osten aufgrund einer Vision zu seiner Geburt anreisen, will zu diesem Zweck nicht so richtig passen. Wäre es da der Prophezeiung nicht dienlicher, es würden Vertreter der verlorenen Stämme Israels anreisen, um den künftigen Messias zu salben? Dennoch scheint die Episode mit den Μάγοι zu bedeutsam, um sie einfach wegzulassen, zeigt sie doch, dass selbst gelehrte Vertreter einer anderen Kultur durch göttliche Eingebung von der Geburt eines künftigen Erlösers der Menschheit erfahren haben und dessen zukünftige Bedeutung bereitwillig anerkennen. Handelt es sich hier womöglich um eine versteckte Legitimierung der Überwindung des Judentums hin zu einer neuen Religion, die auch in viel stärkerem Maße eine nichtjüdische Anhängerschaft anziehen möchte?


Lamas in Rot/Buchillustration, ca. 1920


Aus heutiger Sicht scheint es unvorstellbar, dass sich jemand aufgrund eines Traums oder einer Vision allein auf den Weg macht, um bei der Geburt eines fremden Kindes dabei zu sein, noch dazu aus einer so weit entfernten Region, dass sämtliche Menschen, denen er unterwegs begegnen wird, von seiner Heimat möglicherweise noch nie gehört haben werden. Eine so weite Pilgerreise würde ein heutiger Mensch höchstens einem von ihm verehrten Popstar zuliebe auf sich nehmen, aber wohl kaum schon zu dessen Geburt: der künftige Liebling der Massen muss sein Talent ja erst noch unter Beweis stellen. Dennoch gibt es noch heute eine spezifische Ausprägung einer großen Weltreligion, die auch in unserer Zeit noch auf ganz ähnliche Art und Weise auf die Suche nach neugeborenen Kindern als Neuverkörperungen ihrer verstorbenen spirituellen Führer geht: der tibetische Buddhismus setzt unmittelbar nach dem Tod des Dalai Lama oder des Panchen Lama Suchkommissionen aus hohen Würdenträgern ein, um deren neueste Inkarnationen ausfindig zu machen und entsprechend zu fördern.

Der Osten als mystisches „Morgenland“ ist voller wundersamer Geschichten, aber schon in der Antike sorgten gut ausgebaute Karawanenwege für einen regen Austausch. Obwohl die Paschtunen Afghanistans bis heute alles spezifisch Jüdische aufgrund ihres islamischen Glaubens ablehnen, leiteten sie sich noch im 18. Jahrhundert wie selbstverständlich von einem der verlorenen jüdischen Stämme her – eine Theorie, die im kolonialen England viel diskutiert wurde, aber hierzulande bis heute kaum bekannt ist. Es kursieren außerdem Theorien, nach denen Jesus als junger Mann, bevor er in Palästina zu predigen begann, Indien besuchte, wo er mit dem Buddhismus in Berührung gekommen sein soll. Buddhistische Quellen erwähnen in diesem Zusammenhang einen bestimmten Bodhisattva, der die fünfte Reinkarnation Buddhas gewesen sei und der mit seinen Lehren den späten Buddhismus beeinflusst habe. Einer jüngeren Überlieferung der muslimischen Ahmadiyya-Gemeinschaft zufolge sei Jesus sogar nach seiner Kreuzigung nach Kaschmir geflohen, wo er als Yuz-Asaf im sogenannten Roza-Bal-Schrein in Srinagar beerdigt sei, der bis heute besucht werden kann.

Unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt, den wir niemals werden ergründen können, sind das alles ohne jeden Zweifel absolut prächtige Geschichten, die ganz offensichtlich erzählt werden wollen. Folgerichtig hat der indische Bestsellerautor Ashwin Sanghi unter dem Titel „The Rozabal Line“ daraus im Jahr 2007 einen spannenden Thriller im Stile Dan Browns konstruiert, dem auch international kommerzieller Erfolg und Kritikerlob beschieden war. Die Suche nach verborgenen Verbindungslinien zwischen einzelnen physischen Erscheinungsformen, die möglicherweise die Macht haben, das Unfertige und Trennende im Leben zu überwinden und uns zu einem Gefühl der Einheit mit uns und unserer Umwelt zu führen, ist ein natürliches menschliches Streben, dem wir uns offensichtlich nicht entziehen können, auch wenn uns jede scheinbare Erkenntnis oft allzu schnell immer wieder zu entgleiten vermag. Die Grenzen zwischen heilsamer Imagination, Esoterik und Verschwörungstheorie sind allerdings erschreckend fragil, deshalb müssen wir uns immer aktiv vor Augen führen, dass es sich dabei immer nur um Geschichten handelt. 


Leonaert Bramer: Anbetung der Heiligen Drei Könige


Der Zweck einer Geschichte aber kann – losgelöst von so dehnbaren Begriffen wie Sinn und Moral – auch allein darin bestehen, dass sie einfach nur erzählt und gehört wird. In dieser Hinsicht ist das überraschende Bild von drei lächelnden tibetischen Mönchen an der Krippe im Stall von Bethlehem ein ausgesprochen tröstliches, da es auf unkonventionelle, aber überzeugende Art und Weise der wunderbaren Vorstellung Ausdruck verleiht, dass hier nicht eine neue Religion als Prinzip zukünftiger Trennung entsteht, sondern ein vermeintlich Neues bereits im Werden von einem älteren Prinzip erkannt und als gegenwärtige Erscheinungsform eines ewigen Kreislaufes umschlossen wird, der sich beständig immer wieder erneuern muss, ohne sich in seiner Substanz und seinem Wesen zu verändern. An diesem Punkt wäre alle Spekulation über historische Fakten oder religiöse Wahrheit vollkommen überflüssig geworden, denn die drei Μάγοι wären hier fündig geworden und hätten ihre visionäre, in der Tat magische Aufgabe erfüllt.

* In der Bibel wird die genaue Anzahl der Μάγοι nicht genannt.

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