Jerusalem

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Montag, 25. Januar 2016

Hitlers Knastrede

Über das Wegsehen als deutsche Pflichterfüllung


Es scheint wie ein merkwürdiges synchronistisches Event, dass Adolf Hitlers unseliges Pamphlet mit dem martialnarzisstischen Titel „Mein Kampf“ in Deutschland ausgerechnet jetzt zur freien Veröffentlichung freigegeben wird, da in unserer Gesellschaft ganz ähnliche wirre Meinungen und Vorstellungen weitgehend unwidersprochen kursieren wie zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1925. Die vielfältigen Problemstellungen der sogenannten Flüchtlingskrise, die ja nur ein extremes Symptom einer jahrzehntelangen verfehlten Politik ist, können allerdings nur als eruptiver Ausbruch einer grundsätzlich radikalen Einstellung zu bestimmten Fragen gewertet werden, die sich über einen überschaubaren Zeitraum allmählich herausgebildet hat, den die meisten Erwachsenen selbst miterlebt haben, und die sich so trefflich unter dem Schlagwort „Man wird doch mal sagen dürfen“ zusammenfassen lässt. Dabei fällt es ausgesprochen schwer, sich nicht der zynischen Auffassung anzuschließen, dass die Zeit offenbar wieder reif gewesen sei für dieses Buch. 



Pegida und AfD sind ohne Zweifel ebenso ernstzunehmende Ausprägungsformen einer schweren geistigen Krise unserer Gesellschaft wie wir sie aus unserer vermeintlich unbelasteten, sicheren Perspektive der Nachgeborenen auch für die Zwischenkriegszeit konstatieren müssen. Wie bei jeder physischen oder psychischen Krankheit ist es jedoch absolut (überlebens-)notwendig, diese wertvollen Hinweise nicht zu negieren, sondern sie konkret zum Anlass zu nehmen, unmittelbar nach einer angemessenen Therapie zu suchen und sich dabei immer wieder bewusst zu machen, dass selbst der verhängnisvolle Weg in den Ersten oder Zweiten Weltkrieg keiner unveränderlichen zwangsläufigen Entwicklung folgte, die niemand jemals aufzuhalten die Macht hatte. Die Floskel „Man wird doch mal sagen dürfen“ beinhaltet dabei stets das volle Wissen des Sprechers, dass seine auf diese Weise geäußerte Meinung keine rationale und schon gar keine objektive, moralisch akzeptable Auffassung darstellt, sondern in der Regel die kindlich-unreife Einstellung eines Beleidigten repräsentiert, der um seine bequemen, als gottgegeben angesehenen Privilegien als Bürger und Steuerzahler fürchtet.

Es spricht also viel dafür zu behaupten, dass es angesichts der aktuellen Herausforderungen neben eines ganzheitlichen Heilungsansatzes auch einer kurzfristigen Behandlung der Symptome bedarf. Hitlers Buch ist ein Paradebeispiel für „Man wird doch mal sagen dürfen“ – wobei hier dem überforderten Leser nicht nur eine kaum zu bewältigende Liste vermeintlicher und tatsächlicher Missstände präsentiert wird, die zudem noch unter der unausgesprochenen Aufforderung „mach doch selbst weiter“ zum Teil mit „usw. –„ abgekürzt werden.  Gleichzeitig installiert der zukünftige Massenmörder „den Juden“ auf besonders abscheuliche Art und Weise als willkommenes Feindbild, das er für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht wissen will. Dabei gibt er dem Leser sogar einen relativ unverstellten Ausblick darauf, wie er selbst mit diesem Feind in Zukunft zu verfahren gedenkt. Sein Rudolf Hess während der Haft in die Schreibmaschine diktiertes Buch als besonders aufschlussreiches Psychogramm eines zukünftigen Diktators mit angekündigtem Massenmord war allgemein bekannt. Die Tatsache, dass jeder Deutsche spätestens nach dem nationalsozialistischen Wahlerfolg von 1933 über Hitlers Pläne hätte informiert sein können, vielleicht sogar müssen, ist erschreckend. Es ist die Philosophie des gezielten Wegsehens, solange ein eigener Vorteil zumindest im Bereich des Möglichen liegt. Und es ist dieselbe Einstellung, die sich später auch in der viel bemühten Lüge äußern sollte, man habe von all dem nichts gewusst.


Pegida-Demonstration in Dresden

Die scharfsinnigste Abhandlung über den späteren Diktator als Autor sowie die Entstehungsgeschichte, Wirkung und fatale Nachwirkung seines Buches hat der Schauspieler und Kabarettist Serdar Somuncu bereits vor 15 Jahren als Hörbuch veröffentlicht. In seiner ausdrücklich unvollständigen Lesung (denn die vollständige Lesung war ja verboten) wird auf kongeniale Art und Weise deutlich wie die schleichende Implementation eines totalitaristischen Weltbildes funktioniert. „Darf man über dieses Buch lachen?“, fragt Somuncu gleich zu Beginn seiner Lesung und beantwortet diese angesichts der im Buch indirekt angekündigten Verbrechen absolut naheliegende und legitime Frage sogleich mit einem kategorischen „Nein!“. Schiebt dann aber mit Hinweis auf die zahlreichen darin versammelten sexuellen Zweideutigkeiten und kuriosen Tierbeispiele nach: „Aber man kann gar nicht anders“, zum Beispiel, wenn Hitler über die „Eier der Columbusse“ schwadroniert, die „zu Hunderttausenden“ herumliegen, oder ganz ernsthaft behauptet: „Schöpferisch tätige Menschen sind von jeher und von Grund aus schöpferisch veranlagt, auch wenn dies den Augen oberflächlicher Betrachter nicht erkenntlich sein sollte“. 

Somuncu, der auf einer späteren CD auch Goebbels berüchtigte „Sportpalastrede“ treffend sezierte, ist mit seinem Programm überall auf der Welt aufgetreten, in New York ebenso wie in Israel, auch vor deutschen Neonazis, deren erklärtes Ziel es eigentlich war, die „Türkenlesung“ zu stören. Doch selbst die mussten am Ende lauthals lachen. Es ist allerdings ein Lachen bitterster Erkenntnis, das dem Hörer unweigerlich im Halse stecken bleiben muss. Während seiner unmittelbaren Entstehungszeit hat kaum jemand dieses Buch ernst genommen, nicht einmal die erklärten politischen Gegner der Nationalsozialisten. Auch heute nimmt nahezu niemand die Protagonisten von Pegida ernst. Für beides gibt oder gab es naheliegende Gründe. Wenn es jedoch eine einfach Erkenntnis aus der Beschäftigung mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten sowie der Rezeptionsgeschichte von „Mein Kampf“ gibt, dann ist es die Einsicht, dass auch ein simples, unrealistisches, aberwitziges, leicht als falsch zu durchschauendes Weltbild von uns sehr wohl als konkrete Gefahr ernst genommen werden muss.



Es ist ausgesprochen leicht und verlockend, einzelne Aussagen von Pegida-Mitgliedern oder AfD-Funktionären als absurde, kurzsichtige oder verblendete Ausprägungen eines unrealistischen Weltbildes abzutun und der Lächerlichkeit preiszugeben. Eine offene Auseinandersetzung mit starren Ideologien ist immer aufwendig, da sich diese nicht auf objektive Erfahrungen gründen, sondern allein auf zu Dogmen geronnenen Hypothesen, die vor allem der geistigen Bequemlichkeit ihrer Postulanten dienen. Deren mangelnde Empfänglichkeit gegenüber sachlichen Argumenten, objektiver Vernunft und allgemeiner menschlicher Herzensbildung macht eine Diskussion mit ihnen besonders schwierig. Trotzdem müssen wir sie auf uns nehmen, denn ideologische oder gar physische Abgrenzung kann immer nur ein kurzfristiger Selbstschutz sein – als langfristige Strategie taugt sie ebenso wenig gegen rechtes Gedankengut wie gegen den legitimen Wunsch von Bürgerkriegsflüchtlingen auf ein menschenwürdiges Leben in Freiheit. Tatenlosigkeit ist keine Option – Opposition muss immer aktiv sein.

"Serdar Somuncu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders", erschienen bei Random House Audio, ca. 60 Minuten, € 14,99
"Der Adolf in mir - Die Karriere einer verbotenen Idee", erschienen bei Wortartisten, 158 Seiten, € 12,95

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