Jerusalem

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Dienstag, 9. Februar 2016

„Aron und der König der Kinder“ von Jim Shepard

Der große visionäre Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak (1878-1942), der sich wie kaum ein anderer seiner Zeitgenossen für eine umfassende gesellschaftliche Übereinkunft über allgemein verbindliche Kinderrechte sowie eine von liebevoller Achtung der kindlichen Persönlichkeit geprägte Form der Erziehung einsetzte, beklagte zeit seines Lebens besonders die schmerzliche Gleichgültigkeit der Erwachsenen gegenüber Kindern im Allgemeinen sowie den eigenen Kindern im Besonderen.  In seinem wunderbaren „Vorwort an den erwachsenen Leser“ zu seiner programmatischen Erzählung „Wenn ich wieder klein bin“ (1925) schreibt er sehr eindrücklich:


Ihr sagt:
„Der Umgang mit Kindern ermüdet uns.“
Ihr habt recht.
Ihr sagt:
„Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen.
Hinuntersteigen, uns herabneigen, beugen, kleiner machen.“
Ihr irrt euch.
Nicht das ermüdet uns. Sondern – dass wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen.
Um nicht zu verletzen.

Während viele seiner im Kontext der Zeit geradezu revolutionären Erziehungsansätze selbst heute noch sogar in hoch entwickelten Gesellschaften weniger selbstverständlich scheinen als man sich wünschen möchte, begann nur wenige Jahre später die völkische Bewegung in Deutschland ihr menschenverachtendes Gegenprogramm zu Korczaks pädagogischen Ideen zu formulieren, so Johanna Haarer in ihrem verhängnisvollen sogenannten Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1934), das in leicht modifizierten Neuauflagen und unter allgemeinerem Titel bis in die 1970er Jahre in deutschen Haushalten weit verbreitet war und die Gedankenwelt vieler Familien bis heute auf unselige Weise prägt. Der Grundgedanke des größten Verkaufserfolgs der letzten Jahre auf dem Markt der Erziehungsratgeber („Jedes Kind kann schlafen lernen“) lautet „lasst das Kind schreien, bis es still ist“. Schon die spätere NS-Gausachbearbeiterin für „Rassefragen“ Haarer hatte in ihrem Buch das Kind geradezu als Feind betrachtet: um es zu einem zukünftigen guten deutschen Soldaten zu erziehen, sind direkter Blickkontakt, Spaß, Trost und Freude strengstens verboten, und wenn das Kind schreit „dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen.“





Genau vor diesem unseligen Kontrast, deren Auswirkungen für das persönliche Glück eines Kindes und seinen Start ins Leben kaum bedeutsamer sein könnte, hat der amerikanische Schriftsteller Jim Shepard einen beeindruckenden Roman konstruiert und damit ganz nebenbei die vielleicht gelungenste fiktive literarische Vergegenwärtigung einer Kindheit im Warschauer Ghetto geschaffen, die wir bislang lesen durften. Dabei ist es dem Autor auf vorbildliche Art und Weise gelungen, die Gedankenwelt Janusz Korczaks und den von ihm propagierten wünschenswerten Umgang mit Kindern so auf eine anspruchsvoll-fesselnde Handlung zu übertragen, dass sein Buch auch jenseits genauerer (oder auch nur weitläufiger) Kenntnis der pädagogischen Ideen Janusz Korczaks als unkonventionelle Mischung aus Bildungs- und Schelmenroman glänzend funktioniert.

Ich sehe meine Gefühle durch ein Teleskop“, sagte er. „Es ist eine kleine Bande, die sich auf einer polaren Ebene zusammendrängt. Wenn einer hustet, empfinde ich zuerst Mitleid und dann das Gegenteil: Vielleicht ist er ansteckend. Vielleicht müssen wir ihm unser letztes bisschen Arznei geben."
Sie entschuldigte sich und sagte, sie lasse ihn jetzt schlafen.
Ich bin nicht dazu da, um geliebt zu werden, sondern um zu handeln“, sagte er zu ihr.
Der Heilige befiehlt und Gott ist sein Vollstrecker“, sagte sie.
Ich tue, was ich kann“, sagte er. „Unser Gott mag nicht den Willen haben, dem Gesetz Geltung zu verschaffen, aber das heißt nicht, dass wir das Gesetz nicht befolgen sollten.“
Wen verklagen wir wegen Vertragsbruch?“, fragte sie.
Levi Jizchak, der Berditschewer Rebbe, soll Gott vor ein rabbinisches Gericht geladen haben“, sagte er zu ihr.
Ich glaube, wir finden nie einen Ort, an dem wir in Ruhe verdauen können und unseren Frieden haben“, sagte sie.
Manchmal denke ich: Schlaf nicht ein“, sagte er. „Hör dir noch zehn Minuten ihr Atmen an. Ihr Husten. Die leisen Geräusche, die sie machen.“

Der kleinwüchsige, schwächliche Aron wächst als zweitjüngstes Kind einer armen jüdischen Familie im dörflichen Polen auf. Seine ersten Lebensjahre sind von einem urtümlich-anarchischen Freiheitsdrang geprägt, der von seiner Familie zunächst als Anzeichen von Schwachsinn missdeutet wird. Da man ihm aufgrund seiner geringen Körpergröße allgemein wenig zutraut und er erst spät zu lesen und zu schreiben lernt, darf er zu Hause viel Zeit mit seiner Mutter verbringen, deren ganze mütterliche Liebe und Sorge jedoch dem bettlägerigen jüngsten Bruder gilt, der nach Jahren liebevoller Pflege schließlich doch entkräftet an einer Lungenentzündung stirbt. Als Arons Vater wenig später eine Stelle als Fabrikarbeiter in Warschau annimmt und die ganze Familie mit ihm in die polnische Metropole zieht, erweitert sich der Horizont des aufgeweckten, aber vernachlässigten Jungen schlagartig. Nachdem er seine Hilfsarbeitertätigkeit wegen seiner unerschütterlichen Eigensinnigkeit verloren hat, beginnt er mit einem befreundeten Nachbarsjungen eine denkwürdige Karriere als Dieb und Schmuggler, wodurch er erstmals den wohlwollenden Respekt seines hartherzigen Vaters gewinnt, während die Beziehung zur geliebten Mutter darunter leidet. Diesen herzzerreißenden Konflikt meistert Aron jedoch mit dem bedingungslosen Selbstbewusstsein eines Erwachsenen, ohne dabei in seiner Liebe nachzulassen.

In dieser Nacht krabbelte ich, als alle schliefen, zu meiner Mutter ins Bett, was sie überraschte. Sie roch nach Kohl und nach Ofenkohle. „Hast du schlecht geträumt?“, fragte sie mit ihrer schläfrigen Stimme. Ihr Finger kitzelte mich am Ohr:
Wein nicht“, sagte ich zu ihr, und sie steckte meinen Kopf unter ihr Kinn. Ich schlang die Arme um ihren Hals, und da sagte sie, ich sei ihr wunderbarer Junge. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich ins Bett gemacht.

Die Bombardierung Warschaus durch Nazi-Deutschland und die anschließende Besetzung Polens verändern das Leben von Aron und seiner Familie tiefgreifend. Dabei ist es ausgerechnet Aron, der sich der allmählichen Einschränkungen durch die Nazis am längsten und besten zu erwehren vermag. Selbst noch als er mit seinen Angehörigen eine karge Wohnung im Ghetto beziehen muss, das die Deutschen zunehmend strenger und repressiver von der Außenwelt abriegeln, kann er durch seine rege Schmugglertätigkeit durch ein Mauerloch und später durch den Haupteingang seiner Familie und seinen Freunden erstaunlich lange ein einigermaßen erträgliches Leben finanzieren. Doch das bleibt nicht lange so. Bald schon wird eine weitere Großfamilie in ihrer engen Wohnung einquartiert und wenig später müssen sich Arons Vater sowie seine beiden älteren Brüder zu einem angeblichen Arbeitseinsatz melden. Man wird nie wieder von ihnen hören. Als besonders verhängnisvoll erweist sich jedoch auf lange Sicht Arons „Freundschaft“ mit einem opportunistischen Angehörigen der jüdischen Ghettopolizei, der seinen Schützling als Spitzel und arglosen Denunzianten missbraucht.


Warschauer Ghetto, Krochmalna-Straße


Nachdem er hilflos mit ansehen muss, wie einer seiner Freunde vor seinen Augen von der Gestapo erschossen wird und seine geliebte Mutter wenig später nach wochenlangem Leiden an Fleckfieber stirbt, steht Aron schließlich ganz allein da. Weil seine Freunde ihn gleichzeitig zu Recht und zu Unrecht für einen Denunzianten halten und ihn mit dem Tod bedrohen, versteckt er sich über Wochen in den Ruinen zerstörter Häuser und verlassenen Kellern. Am Ende seiner Kräfte wird er schließlich von Janusz Korczak gefunden, der ihn in seinem Waisenhaus aufnimmt, wo sich Aron langsam erholt – nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Hier lernt er einen kaum für möglich gehaltenen Mikrokosmos von gegenseitigem Respekt und Toleranz kennen, in dem sich Kinder und Erwachsene auf gleichberechtigter Ebene begegnen. Im barbarischen Umfeld des Ghettos, in dem die Nationalsozialisten ein gewalttätiges Regime mutwilliger Anarchie installiert haben, das der Philosophie Janusz Korczaks auf größtmögliche Weise entgegensteht, sorgt dieser selbst unter schlimmsten Rahmenbedingungen bis an den Rand der totalen Erschöpfung für eine Atmosphäre der Menschlichkeit und des Friedens sowie für ein ausgeprägtes feinsinniges Kulturleben. Noch im Sommer 1942 führt er mit seinen Kindern Rabindranath Tagores berühmtes Stück „Das Postamt“ auf, das aufgrund seiner befreierischen Thematik auch in den Konzentrationslagern zu dieser Zeit ausgesprochen häufig gespielt wurde. Und obwohl Aron immer noch die Rache seiner ehemaligen Kameraden fürchtet, darf er schon bald den Heimleiter auf seinen täglichen kräftezehrenden Betteltouren begleiten, mit denen der berühmte Pädagoge bis zuletzt das Bestehen seines Waisenhauses aufrecht zu erhalten versucht.

Ich war bei ihm, weil ich jetzt jedes Mal, wenn die Lichter ausgingen, daran denken musste, wie meine Mutter im Krankenhaus aufwachte und mich nirgendwo fand und wie sehr es sie überraschte, dass sie keine Faust machen konnte. Ich sah Luteks Gesicht, als ihm die Kaninchenfellmütze davonflog.
Während ich hier lag, erfand ich eine Maschine“, sagte Korczak mit dem Rücken zu mir. „Eine Art Mikroskop, das in einen hineinsehen konnte. Es hatte eine Skala von eins bis hundert, und ich stellte die Messschraube auf neunundneunzig, sodass jeder sterben würde, der nicht zumindest ein Prozent seiner Menschlichkeit behalten hatte. Nachdem ich die Maschine dann hatte laufen lassen, waren nur noch Bestien übrig. Alle anderen waren umgekommen.“
Sie hatten eine schwere Woche“, sagte Madame Stefa.
Und als ich die Messschraube auf achtundneunzig stellte, war ich ebenfalls tot“, sagte er.

Über die letzten Tage Janusz Korczaks und seiner fast 200 Schützlinge gibt es zahlreiche erschütternde authentische Zeitzeugenberichte. In der wohl prominentesten literarischen Beschreibung schildert der Pianist Waldyslaw Szpilman auf herzzerreißende Art und Weise, wie Korczak und seine langjährige Partnerin Stefania Wylczynska die Kinder Anfang August 1942 angesichts des Deportationsbefehls auf einen Sommerausflug vorbereiten und sie fröhlich singend zum Umschlagplatz begleiten. Wir wissen heute, dass Korczak aufgrund seiner Prominenz nicht nur vom polnischen Widerstand, sondern auch von den deutschen Besatzern zahlreiche Gelegenheiten erhielt, der Deportation nach Treblinka zu entgehen, jedoch die von ihm betreuten Kinder um keinen Preis im Stich lassen wollte und sie vermutlich sogar bis in die Gaskammer begleitete – eine Konstellation äußerster Selbstaufopferung, die auch Jerry Lewis in seinem niemals fertiggestellten Film „The Day the Clown Cried“ (1972) künstlerisch umzusetzen versuchte. In Jim Shepards Roman soll Aron schließlich unter dem Druck seiner nun im Widerstand organisierten ehemaligen Freunde entscheidende Hinweise für einen Anschlag auf das deutsche Polizeihauptquartier liefern. Die einzige Bedingung, die er stellt, scheint jedoch vollkommen unerfüllbar...

Jim Shepard/© Jim Shepard


Das große literarische und moralische Wagnis, die historischen Vorgänge im Warschauer Ghetto im Rahmen der fiktiven Handlung eines Romans zu schildern, ist Jim Shepard durch seine sensible, psychologisch fundierte Arbeit an seinen vielschichtigen Charakteren und dank seiner mühevollen, psychisch aufreibenden Quellenrecherche auf ebenso überraschende wie bewundernswerte (und noch dazu spannende) Art und Weise kongenial geglückt. Die von ihm geschilderten Ereignisse bewegen sich dabei nicht nur im engsten Bereich des historisch Möglichen, sondern stellen eine so meisterhafte Verdichtung all dessen dar, was wir heute über die Schoah sowie die Vielzahl der in ihr versammelten Einzelschicksale wissen, dass man hier kaum noch von Fiktion sprechen kann. Obwohl alle wesentlichen von Janusz Korczak eingeforderten Kinderrechte (Achtung der Unwissenheit des Kindes, Achtung der Wissbegierde des Kindes, Achtung der Misserfolge und Tränen des Kindes, Achtung des Eigentums des Kindes, Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist) dem jungen Protagonisten im Rahmen der Handlung von den Erwachsenen systematisch vorenthalten, abgesprochen oder geraubt werden, stellt er sich den Herausforderungen seines Lebens mit bewundernswertem Mut. Jim Shepard hat mit seinem fesselnden Roman nicht nur dem Vermächtnis des großen Pädagogen Janusz Korczak ein unvergessliches literarisches Denkmal gesetzt, sondern auch der bewundernswerten menschlichen Fähigkeit, seinen eigenen inneren Kern selbst unter den widrigsten Bedingungen niemals aufzugeben, denn er ist das Einzige, was von uns bleibt – deshalb dürfen wir nicht aufhören, an die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern.

„Aron und der König der Kinder“, aus dem Amerikanischen von Claudia Wenner, erschienen bei C.H. Beck, 270 Seiten, € 19,95

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