Jerusalem

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Freitag, 28. August 2015

„Lucia Binar und die russische Seele“ von Vladimir Vertlib



Die wichtigsten Voraussetzungen, um den vielfältigen Herausforderungen des Alltags erfolgreich zu begegnen und angesichts der zahlreichen unsinnigen, tagtäglich an uns herangetragenen Postulate das eigene Selbst nicht aus den Augen zu verlieren, sind Urteilskraft, ein starker Charakter sowie die nützliche Fähigkeit, sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse auf positive Art und Weise wirksam nach außen hin abzugrenzen. Die resolute über achtzigjährige Titelheldin in Vladimir Vertlibs neuem doppelbödigen, heiter-satirischem Roman, der diesen Monat vollkommen zu Recht für die Longlist zum Deutschen Buchpreis nominiert wurde, hat ihr gesamtes Leben in ihrem Geburtshaus in der zentral gelegenen Großen Mohrengasse in Wien verbracht.



Die Wohnung, in der sie sich eines Tages auch zu sterben wünscht, war bereits Ende des vorletzten Jahrhunderts von ihren Großeltern gemietet worden, kurz nachdem das Vorgängerhaus, genannt „Gasthof zur Läuseschaukel“, das jahrzehntelang als Wohnheim und Durchgangsstation für orthodoxe Juden aus Osteuropa gedient hatte, niedergerissen und durch ein neues schmuckes Gebäude ersetzt worden war. Auch in dem neuen stattlichen Stadthaus mit Medusenköpfen, Girlanden und Halbsäulen aus Stuck sollten bis zum Anschluss Österreichs hauptsächlich Juden wohnen. Lucia Binar erinnert sich, dass man damals als Bewohner der Großen Mohrengasse automatisch für einen Juden gehalten wurde:

Als unsere Straße mit Hakenkreuzfahnen beflaggt wurde, war ich fünf Jahre alt. Als die letzten Juden unseres Viertels deportiert wurden, war ich neun, als die ersten Bomben fielen, war ich zehn, als der Kampf um Wien tobte und der Krieg bald danach zu Ende ging, war ich zwölf, als Österreich wieder frei wurde, war ich zweiundzwanzig, als die ersten Gastarbeiter in unsere Gegend kamen, war ich dreiunddreißig. Dann wiederholte sich manches, was ich von früher kannte. […] Vieles ist nun so, wie es früher war, auch wenn Ausdrücke wie „Läuseschaukel“ heute nicht mehr wie selbstverständlich verwendet werden, weil sie – wie junge Leute zu sagen pflegen – nicht mehr „Piißii“ sind.

Lucia Binar ist ihr ganzes Leben lang unabhängig gewesen, als kindlich-distanzierte Beobachterin des Nationalsozialismus und ehemalige Lehrerin besitzt sie ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein und eine noch entschiedenere Meinung zu allem und jedem. Ihre große Leidenschaft ist die Lyrik; einzelne Verse ihrer Lieblingsdichter stellt sie nach Belieben gern auf kreative und passende Weise um, gerade so, wie es ihre jeweilige Lebenssituation erfordert. Nach einem schmerzvollem, nur wenige Wochen zurückliegenden Unfall ist sie in ihrer Beweglichkeit allerdings stark eingeschränkt, ihre größte Motivation ist es, schon bald wieder auf die Leiter ihrer Privatbibliothek zu steigen, um endlich wieder an den lange entbehrten Band von Wisława Szymborska gelangen zu können: „Dafür lohnt es sich, wieder gesund zu werden.“

Große Mohrengasse/Foto: Erich Schmid

 Da brechen sich plötzlich die Absurditäten des modernen Alltags Bahn in ihre fest umrissene, vertraute Lebenswelt: zuerst klingelt ein junges, androgynes Wesen an ihrer Wohnungstür, dessen Geschlecht absolut unbestimmbar scheint, und das sie als aktives Mitglied des Vereins „Straßennamen gegen Rassismus“ bittet, eine Petition zugunsten der Umbenennung der Großen Mohrengasse zu unterschreiben. Bis zur Entscheidung über einen neuen Namen (Vorschlag des Vereins sei „Große-Nelson-Mandela-Gasse“) bitte man sie außerdem, die unverfängliche Bezeichnung „Große Möhrengasse“ zu verwenden. Als Lucia wenig später das an diesem Freitag ärgerlicherweise ausgebliebene „Essen auf Rädern“ für die nächsten drei Tage reklamiert, erwidert ihr die für ihre Belange angeblich nicht zuständige Mitarbeiterin des Callcenters schnippisch, sie solle sich halt bis Dienstag von Mannerschnitten ernähren. Die herausforderndste Kampfansage an die ebenso schlagfertige wie unbeugsame Seniorin sind jedoch die schändlichen Versuche des Hausbesitzers Willi Neff, eines gewissenlosen Immobilienhais, sämtliche Mieter mit Hilfe unfairer Tricks aus ihren Wohnungen zu ekeln, damit sie der lang anstehende Sanierung nicht länger im Wege stehen. So quartiert er, angeblich aus sozialer Fürsorge, eine Gruppe von Obdachlosen in einer bereits leerstehenden Wohnung ein.

„Ich schick dich gkeich dorthin, wo du hingehörst, Oma: auf den Kompost.“
Früher konnte ich in vergleichbaren Situationen schlagfertig sein, insebsondere dann, wenn ich mit meinen Kindern unterwegs war und es jemand wagte, eine doppeldeutige Bemerkung über mein Aussehen oder eine Anspielung zu machen, die ich als Übergriff empfand. Diesmal jedoch verschlägt es mir die Sprache, weil ich zu müde bin und noch zu aufgewühlt von dem, was ich an diesem Tag erlebt habe. Nach einigen Augenblicken des Schweigens in denen seltsamerweise sogar der Lärm aus der Viererwohnung nachlässt, sage ich schließlich leise, aber bestimmt: „Jemanden wie Sie brauche ich nicht klug anzuschauen, junger Mann. Dummheit zieht keine klugen Blicke auf sich, sondern alles auf ihr Niveau herunter. Wenn Sie ein Mundwerk haben, als wäre es eine verstopfte Toilette, können Sie nicht erwarten, dass man Ihnen freundlich begegnet. Vielmehr wird jeder geneigt sein, mit der Klobürste hineinzustoßen und dann schnell die Spülung zu betätigen.“

Doch Lucia ist nicht die einzige Zeitgenossin, die mit mangelnder Rücksichtnahme, Unverständnis und Lieblosigkeit seitens ihrer Mitmenschen zurechtkommen muss. So lernen wir den baschkirischen Ex-Lehrer Alexander kennen, der er nach einer desillusionierenden ersten Lebenshälfte in seiner Heimat für seinen undurchsichtigen russischen Auftraggeber, den Magier, Illusionisten und selbsterklärten Scharlatan Viktor Viktorowitsch Vint Zaubershows in Österreich organisiert.  Oder die unglückliche Call-Center-Agentin Elisabeth, die sich nach dem Unfalltod ihres Mannes nichts sehnlicher wünscht, als dass der anonyme Todesfahrer dereinst (und möglichst bald) an der selben Stelle den selben Tod findet wie ihr Mann.

Vladimir Vertlib/Foto: Ursus Samaga

 Vladimir Vertlib gelingt durch die zunächst nur lose scheinende, im Leser mitfühlendes Wiedererkennen auslösende Verknüpfung der einzelnen Lebenswege im Stil eines Episodenfilms eine wunderbar zu lesende, hellsichtige literarische Vergegenwärtigung der unbewussten und mutwillig geschaffenen Hemmnisse innnerhalb unserer Gesellschaft. Er zeigt gleichzeitig aber auch auf absolut hinreissende Art und Weise, was man gewinnen kann, wenn man sich gegen die eigene, allzu oft als selbstverständlich hingenommene Vereinnahmung durch die Außenwelt zur Wehr setzt. Der Roman gipfelt in einer haarsträubenden Zaubershow des Absurden, die dem Andenken Michail Bulgakows alle Ehre macht und in deren Rahmen dem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden der scheinbaren Verlierer unseres Systems auf ebenso überraschende wie umfassende Art und Weise Genugtuung verschafft wird. Mit seinem neuen, überraschend vielschichtigen und unterhaltsam zu lesenden Roman hat Vladimir Vertlib eine neue Stufe seines literarischen Schaffens erreicht. Sein Buch ist ein ebenso gelungenes wie entzückendes Porträt von Menschen, die am unverdienten Rand der Gesellschaft um Glück und Unabhängigkeit ringen.

 „Lucia Binar und die russische Seele“, erschienen bei Deuticke, 319 Seiten, € 19,90

Eine leicht veränderte Fassung dieses Artikels erschien in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau.

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