Die wichtigsten Voraussetzungen, um den
vielfältigen Herausforderungen des Alltags erfolgreich zu begegnen und
angesichts der zahlreichen unsinnigen, tagtäglich an uns herangetragenen
Postulate das eigene Selbst nicht aus den Augen zu verlieren, sind
Urteilskraft, ein starker Charakter sowie die nützliche Fähigkeit, sich selbst
und seine eigenen Bedürfnisse auf positive Art und Weise wirksam nach außen hin
abzugrenzen. Die resolute über achtzigjährige Titelheldin in Vladimir Vertlibs
neuem doppelbödigen, heiter-satirischem Roman, der diesen Monat vollkommen zu
Recht für die Longlist zum Deutschen Buchpreis nominiert wurde, hat ihr
gesamtes Leben in ihrem Geburtshaus in der zentral gelegenen Großen Mohrengasse
in Wien verbracht.
Die Wohnung, in der sie sich eines Tages
auch zu sterben wünscht, war bereits Ende des vorletzten Jahrhunderts von ihren
Großeltern gemietet worden, kurz nachdem das Vorgängerhaus, genannt „Gasthof
zur Läuseschaukel“, das jahrzehntelang als Wohnheim und Durchgangsstation für
orthodoxe Juden aus Osteuropa gedient hatte, niedergerissen und durch ein neues
schmuckes Gebäude ersetzt worden war. Auch in dem neuen stattlichen Stadthaus
mit Medusenköpfen, Girlanden und Halbsäulen aus Stuck sollten bis zum Anschluss
Österreichs hauptsächlich Juden wohnen. Lucia Binar erinnert sich, dass man
damals als Bewohner der Großen Mohrengasse automatisch für einen Juden gehalten
wurde:
Als
unsere Straße mit Hakenkreuzfahnen beflaggt wurde, war ich fünf Jahre alt. Als
die letzten Juden unseres Viertels deportiert wurden, war ich neun, als die
ersten Bomben fielen, war ich zehn, als der Kampf um Wien tobte und der Krieg
bald danach zu Ende ging, war ich zwölf, als Österreich wieder frei wurde, war
ich zweiundzwanzig, als die ersten Gastarbeiter in unsere Gegend kamen, war ich
dreiunddreißig. Dann wiederholte sich manches, was ich von früher kannte. […]
Vieles ist nun so, wie es früher war, auch wenn Ausdrücke wie „Läuseschaukel“
heute nicht mehr wie selbstverständlich verwendet werden, weil sie – wie junge
Leute zu sagen pflegen – nicht mehr „Piißii“ sind.
Lucia Binar ist ihr ganzes Leben lang
unabhängig gewesen, als kindlich-distanzierte Beobachterin des
Nationalsozialismus und ehemalige Lehrerin besitzt sie ein ausgeprägtes
politisches Bewusstsein und eine noch entschiedenere Meinung zu allem und
jedem. Ihre große Leidenschaft ist die Lyrik; einzelne Verse ihrer
Lieblingsdichter stellt sie nach Belieben gern auf kreative und passende Weise
um, gerade so, wie es ihre jeweilige Lebenssituation erfordert. Nach einem
schmerzvollem, nur wenige Wochen zurückliegenden Unfall ist sie in ihrer Beweglichkeit
allerdings stark eingeschränkt, ihre größte Motivation ist es, schon bald
wieder auf die Leiter ihrer Privatbibliothek zu steigen, um endlich wieder an
den lange entbehrten Band von Wisława Szymborska gelangen zu können: „Dafür
lohnt es sich, wieder gesund zu werden.“
Große Mohrengasse/Foto: Erich Schmid |
Da brechen sich plötzlich die Absurditäten
des modernen Alltags Bahn in ihre fest umrissene, vertraute Lebenswelt: zuerst
klingelt ein junges, androgynes Wesen an ihrer Wohnungstür, dessen Geschlecht
absolut unbestimmbar scheint, und das sie als aktives Mitglied des Vereins
„Straßennamen gegen Rassismus“ bittet, eine Petition zugunsten der Umbenennung
der Großen Mohrengasse zu unterschreiben. Bis zur Entscheidung über einen neuen
Namen (Vorschlag des Vereins sei „Große-Nelson-Mandela-Gasse“) bitte man sie
außerdem, die unverfängliche Bezeichnung „Große Möhrengasse“ zu verwenden. Als
Lucia wenig später das an diesem Freitag ärgerlicherweise ausgebliebene „Essen
auf Rädern“ für die nächsten drei Tage reklamiert, erwidert ihr die für ihre
Belange angeblich nicht zuständige Mitarbeiterin des Callcenters schnippisch,
sie solle sich halt bis Dienstag von Mannerschnitten ernähren. Die
herausforderndste Kampfansage an die ebenso schlagfertige wie unbeugsame
Seniorin sind jedoch die schändlichen Versuche des Hausbesitzers Willi Neff,
eines gewissenlosen Immobilienhais, sämtliche Mieter mit Hilfe unfairer Tricks aus
ihren Wohnungen zu ekeln, damit sie der lang anstehende Sanierung nicht länger
im Wege stehen. So quartiert er, angeblich aus sozialer Fürsorge, eine Gruppe
von Obdachlosen in einer bereits leerstehenden Wohnung ein.
„Ich
schick dich gkeich dorthin, wo du hingehörst, Oma: auf den Kompost.“
Früher
konnte ich in vergleichbaren Situationen schlagfertig sein, insebsondere dann,
wenn ich mit meinen Kindern unterwegs war und es jemand wagte, eine
doppeldeutige Bemerkung über mein Aussehen oder eine Anspielung zu machen, die
ich als Übergriff empfand. Diesmal jedoch verschlägt es mir die Sprache, weil
ich zu müde bin und noch zu aufgewühlt von dem, was ich an diesem Tag erlebt
habe. Nach einigen Augenblicken des Schweigens in denen seltsamerweise sogar
der Lärm aus der Viererwohnung nachlässt, sage ich schließlich leise, aber
bestimmt: „Jemanden wie Sie brauche ich nicht klug anzuschauen, junger Mann.
Dummheit zieht keine klugen Blicke auf sich, sondern alles auf ihr Niveau
herunter. Wenn Sie ein Mundwerk haben, als wäre es eine verstopfte Toilette,
können Sie nicht erwarten, dass man Ihnen freundlich begegnet. Vielmehr wird
jeder geneigt sein, mit der Klobürste hineinzustoßen und dann schnell die Spülung
zu betätigen.“
Doch Lucia ist nicht die einzige Zeitgenossin,
die mit mangelnder Rücksichtnahme, Unverständnis und Lieblosigkeit seitens
ihrer Mitmenschen zurechtkommen muss. So lernen wir den baschkirischen
Ex-Lehrer Alexander kennen, der er nach einer desillusionierenden ersten
Lebenshälfte in seiner Heimat für seinen undurchsichtigen russischen
Auftraggeber, den Magier, Illusionisten und selbsterklärten Scharlatan Viktor
Viktorowitsch Vint Zaubershows in Österreich organisiert. Oder die unglückliche Call-Center-Agentin
Elisabeth, die sich nach dem Unfalltod ihres Mannes nichts sehnlicher wünscht,
als dass der anonyme Todesfahrer dereinst (und möglichst bald) an der selben
Stelle den selben Tod findet wie ihr Mann.
Vladimir Vertlib/Foto: Ursus Samaga |
Vladimir Vertlib gelingt durch die
zunächst nur lose scheinende, im Leser mitfühlendes Wiedererkennen auslösende
Verknüpfung der einzelnen Lebenswege im Stil eines Episodenfilms eine wunderbar
zu lesende, hellsichtige literarische Vergegenwärtigung der unbewussten und
mutwillig geschaffenen Hemmnisse innnerhalb unserer Gesellschaft. Er zeigt
gleichzeitig aber auch auf absolut hinreissende Art und Weise, was man gewinnen
kann, wenn man sich gegen die eigene, allzu oft als selbstverständlich
hingenommene Vereinnahmung durch die Außenwelt zur Wehr setzt. Der Roman
gipfelt in einer haarsträubenden Zaubershow des Absurden, die dem Andenken
Michail Bulgakows alle Ehre macht und in deren Rahmen dem natürlichen
Gerechtigkeitsempfinden der scheinbaren Verlierer unseres Systems auf ebenso
überraschende wie umfassende Art und Weise Genugtuung verschafft wird. Mit
seinem neuen, überraschend vielschichtigen und unterhaltsam zu lesenden Roman
hat Vladimir Vertlib eine neue Stufe seines literarischen Schaffens erreicht. Sein
Buch ist ein ebenso gelungenes wie entzückendes Porträt von Menschen, die am
unverdienten Rand der Gesellschaft um Glück und Unabhängigkeit ringen.
„Lucia Binar und die russische Seele“, erschienen bei Deuticke, 319 Seiten, € 19,90
Eine leicht veränderte Fassung dieses
Artikels erschien in der Septemberausgabe der Jüdischen Rundschau.
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