Seit
den ebenso aufregenden wie sensiblen, auch im direkten
internationalen Vergleich außergewöhnlich tiefschürfenden
kriminalistischen Milieustudien der verstorbenen Literatur- und
Filmwissenschaftlerin Batya Gur (1947-2005), in denen die langjährige
streitbare Kolumnistin der liberalen Tagesezeitung Ha'aretz
auf bis dahin beispiellose Art und Weise in die unterschiedlichsten,
zum Teil hermetischen sozialen und beruflichen Sphären der
israelischen Gesellschaft eingedrungen ist, hat sich der
Kriminalroman in Israel zu einem anspruchsvollen, vielseitigen und
abwechslungsreichen literarischen Genre entwickelt, deren
aufregendste junge Protagonisten in den letzten Jahren zunehmend und
mit wachsender Begeisterung auch von einem deutschsprachigen Publikum
entdeckt werden können.
Wenn
wir diese durch Batya Gur maßgeblich mit angestoßene erfreuliche
Fortentwicklung des israelischen Kriminalromans genauer betrachten,
scheint es sogar kaum zu hoch gegriffen zu behaupten, dass uns zwei
junge, in den 1970er Jahren geborene begabte Autoren wie Liad Shoham
und Dror Mishani, die den Kriminalroman vor allem als literarisch
hoch entwickeltes, eigenständiges Genre und weniger als
oberflächliche Erscheinungsform der Unterhaltungsliteratur
begreifen, mittlerweile einen sehr viel direkteren, realistischeren
und somit auch schmerzvolleren Blick auf die israelische Gesellschaft
und ihre zum Teil unlösbar scheinenden (Dauer-)Konflikte anbieten
als so hoch angesehene „ernsthafte“ Schriftsteller wie Amos Oz,
David Grossman oder Abraham B. Jehoschua, die sich trotz ihrer
rückwärtsgewandten, streng zionistischen Weltsicht bis heute gern
in der wohlkalkulierten Pose des Friedensschriftstellers gefallen.
Die
Leute wollten das einfach nicht kapieren. Rassismus und Vorurteile
waren zu tief in den Menschen verwurzelt und wurden vom Staat und
diesem gräßlichen Knesseth-Abgeordneten, Ehud Regev, mit einer
ununterbrochenen Hetzkampagne gegen die „gefährlichen
Flüchtlinge“, die „Alkoholabhängig“ und „Gewalttätig“
seien und „Seuchen“ ins Land bringen würden, noch geschürt. Wie
sollte man denen begreiflich machen, dass es sich um Menschen
handelte, die von einem normalen, ruhigen Leben träumten, die ihr
Zuhause und ihre Heimat nicht zuletzt verlassen hatten, um der Gewalt
zu entkommen?
Dieser
ungewohnte Ansatz trifft in besonders vorbildlichem Maße auch auf
Liad Shohams neuesten Roman „Stadt der Verlorenen“ zu, in dem der
praktizierende Rechtsanwalt nach der großen, berechtigten
Aufmerksamkeit für seinen ersten ins Deutsche übersetzten Thriller„Tag der Vergeltung“ in einer hoffnungslos fehlgeleiteten,
offiziell im Grunde gar nicht existierenden Flüchtlingspolitik einen
weiteren schwarzen Fleck der israelischen Gesellschaft identifiziert
und aus den stetig wechselnden Perspektiven seiner zahlreichen
unterschiedlichen Protagonisten kenntnisreich und erzählerisch
virtuos von allen verschiedenen Seiten zu beleuchten versteht.
Hintergrund seines hoch spannenden neuen Buches ist der regelmäßige
illegale Zustrom von ostafrikanischen Flüchtlingen über die
ägyptische Grenze, die sich – vor allem aus Eritrea und dem Sudan
kommend – im wirtschaftlich hochentwickelten Israel ein besseres
Leben ohne die in ihren Herkunftsländern herrschende Gewalt und
Armut erhoffen.
Warum?
Weil es um Geld ging. Die Flüchtlinge verließen ihre Staaten aus
Geldnot, und in Israel fanden sie Aufnahme, weil die einheimische
Wirtschaft sie nötig hatte. Der Staat brauchte die Holzhacker und
Wasserträger als Knechte. Die Wirtschaft schrie um Hilfe nach
Leuten, die in den Restaurants das Geschirr spülten, die Straßen
säuberten, Erdbeeren ernteten, eben all jene Arbeiten erledigten,
mit denen die Israelis sich nicht abgeben wollten. Entwickelte
Volkswirtschaften gründeten auf Sklaven und die gab e in der Dritten
Welt im Überfluss.
Rund
um den einstmals legendären, ehemaligen zentralen Busbahnhof der
Metropole Tel-Aviv ist innerhalb der letzten zwanzig Jahre ein
Elendsquartier unvorstellbaren Ausmaßes entstanden, das notgedrungen
von all jenen bewohnt wird, die in Israel aufgrund ihrer
nichtjüdischen Herkunft als Bürger zweiter oder dritter Klasse
gelten. Nachdem die streitbare politische Aktivistin Michal Poleg,
eine aufgrund ihres cholerischen Temperaments stets übermotivierte
ehrenamtliche Mitarbeiterin einer wohltätigen
Nichtregierungsorganisation, die sich selbstlos um die Belange der
afrikanischen Flüchtlinge kümmert, bereits wiederholt von
Handlangern der Mafia mit dem Tod bedroht worden ist, wird die
alleinstehende Mittdreißigerin eines Morgens in ihrer kleinen
Wohnung ermordet aufgefunden. Der Tatverdacht fällt aufgrund
rassistischer Ressentiments bei Polizei und Bevölkerung zunächst
auf einen ihrer erklärten Schützlinge, den sensiblen, künstlerisch
begabten Eritreer Gabriel Takela, der von einem Nachbarn Michals beim
Verlassen ihrer Wohnung beobachtet worden war.
Tel Aviv, ehemaliger zentraler Busbahnhof/Foto: Udi Steinwell |
Itai
Fischer, dem besonnenen Direktor der unabhängigen
Flüchtlingsorganisation, ist von Anfang an klar, dass Gabriel nicht
der Täter gewesen sein kann, da dessen einziger Antrieb die Suche
nach seiner während der Flucht im Sinai von Beduinen verschleppten
und mit großer Wahrscheinlichkeit in die Prostitution gezwungenen
jüngeren Schwester Lidi ist. Während Itai aus eigenem Impuls
Kontakt zur Polizei aufnimmt, um Gabriel zu entlasten, darf die
linkische junge Ermittlerin Anat Nachmias, stellvertretende Leiterin
einer Sonderkommission, aufgrund einer Dienstreise ihres Vorgesetzten
und gegen zahlreiche interne Widerstände zum ersten Mal eine
Morduntersuchung leiten und stürzt sich mit großer Energie,
bewundernswerter geistiger Unabhängigkeit und unkonventionellen
Methoden in die undurchsichtig scheinenden Mordermittlungen. Für den
Leiter der obersten Polizeibehörde wie für die meisten ihrer
machohaften männlichen Kollegen scheint der Fall jedoch bereits
eindeutig: nur der flüchtige „kleine Nigger“ komme als Täter in
Frage – sobald dieser verhaftet werden könne, sei der Fall gelöst.
„Nachmias,
versteh doch. Ein Mord versetzt den gesamten Apparat in Aufruhr. Vor
allem unsere Herren Direktoren. Ihnen sitzen alle im Nacken: der
Bereichsleiter, der oberste Polizeichef, der Minister, die Medien,
die Familie des Opfers. Speziell bei einem Fall wie diesem, da
Politiker wie Regev sich permanent in die Ermittlungen einmischen, um
daraus politisches Kapital zu schlagen. Der einzige Weg, um ihnen den
Druck zu nehmen, besteht darin, einen Verdächtigen zu präsentieren.
Sobald man den möglichen Täter in Gewahrsam nimmt, glätten sich
die Wogen. Der Druck lässt nach. Haben sich die Gemüter beruhigt,
kann man mit den Ermittlungen beginnen. Du hast exakt das Gegenteil
gemacht. Statt die Wogen zu glätten, hast du einen Sturm ausgelöst.“
Uns
Lesern bietet Liad Shoham in einer weiteren Nebenhandlung aber auch
die maßlosen Selbstzweifel des karrierebewussten Staatsanwalts Jariv
Ninio an, des freiwilligen Erfüllungsgehilfen eines schamlos gegen
die angebliche Zerstörung des jüdischen Charakters seines Staates
hetzenden nationalistischen Politikers. Der moralisch zerrüttete
Jariv, ein ehemaliger Liebhabers der Ermordeten, hatte diese in
volltrunkenem Zustand in der Mordnacht aufgesucht, um sie wegen ihrer
kürzlich gegen ihn eingereichten Anzeige zur Rede zu stellen. In
dieser hatte sie ihn zu Recht beschuldigt, ein geheimes Gutachten des
Außenministeriums unterschlagen zu haben, das abgeschobenen
Flüchtlingen in ihren Heimatländern nur äußerst geringe
Überlebenschancen attestiert. Jariv war am nächsten Morgen mit
massiven Gesichtsverletzungen aufgewacht und konnte sich an keinerlei
Details mehr erinnern. War er selbst womöglich der Täter? Und
welche Rolle spielt der joviale „Banker“ Boaz Javin, der
Finanzchef des allmächtigen und stets den Überblick bewahrenden
Mafiapaten Schimon Faro, mit dem sich die Ermordete kurz vor ihrem
Tod ausdrücklich angelegt hatte?
Liad Shoham/Foto: Oren Day |
„Stadt
der Verlorenen“ ist besonders im virtuosen und ausgesprochen
überzeugend gestalteten stetigen Wechsel der Erzählperspektiven ein
überdurchschnittlich fesselnder, atemlos zu lesender, glänzender
Kriminalroman, bei dem es dem Autor scheinbar mühelos gelingt, die
psychologischen Eigenarten und inneren Konflikte sowohl der positiven
Identifikationsfiguren wie auch der zahlreichen Tatverdächtigen
gleichermaßen überzeugend zu skizzieren und hervorzuheben. Er
zeichnet dabei das Bild eines von zahlreichen Ressentiments
behafteten und von den aktuellen Realitäten überforderten Staates,
dem es – wenn auch aus teilweise nachvollziehbaren Gründen –
angesichts der zahlreichen Herausforderungen der Moderne nicht
gelingt, eine nachhaltige Abkehr vom klassischen Nationalstaat zu
vollziehen, welche den Herausforderungen der Gegenwart in vollem
Umfang Rechnung zu tragen vermag. Bemerkenswert, dass der Autor dabei
nicht Partei für eine bestimmte Sichtweise ergreift, sondern
lediglich für die Sache an sich: einen angemesseneren politischen
und gesellschaftlichen Umgang mit der Flüchtlingsproblematik.
„Stadt der Verlorenen“, aus dem Hebräischen von Ulrike Harnisch,
erschienen bei DuMont, 412 Seiten, € 9,99
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.