Jerusalem

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Samstag, 28. März 2015

„Das kunterbunte Monsterbuch“ von Alice Hoogstad

Obwohl selbst Erwachsene an einem schönen Tag in den wechselnden Wolkenkonstellationen am sommerlichen Himmel mit Hilfe ihres bildlichen Vorstellungsvermögens noch die erstaunlichsten gegenständlichen Bildfolgen zu erkennen vermögen, gilt die spontane kindliche Fantasie doch zu Recht als ungleich größere, geradezu göttliche Gabe, da sie auf ganz unmittelbare, geradezu schöpferische Art und Weise jederzeit danach zu streben scheint, selbst noch in den allerprofansten irdischen Alltagsgegenständen mit aller Macht immer das Wunderbare (wieder-)zuerkennen und sich deshalb niemals in ihrem natürlichen Bemühen selbst zu erschöpfen scheint, das nur-für-sie-Sichtbare zum lebendigen Objekt spielerischer Welterkundung zu machen.

Dieser außerordentlichen, allein durch die menschliche Erziehung sowie die damit einhergehende fortschreitende Persönlichkeitsentwicklung begrenzten wunderbaren Fähigkeit hat die für ihr abwechslungsreiches bisheriges zeichnerisches Werk bereits vielfach ausgezeichnete niederländische Kinderbuchautorin und Illustratorin Alice Hoogstad (geboren 1957) in ihrem neuen Bilderbuch nun ganz ohne Worte ein eindrucksvolles künstlerisches Denkmal gesetzt. Der Schweizer Aracari-Verlag, in dem „Das kunterbunte Monsterbuch“ soeben erschienen ist, hat sich nicht zuletzt durch die poetischen Bilderbücher von Mies van Hout („Heute bin ich“) einen Namen für hochwertig gestaltete Bilderbücher gemacht, die neben ihrer offensichtlichen kindlichen Zielgruppe besonders Erwachsene zu erfreuen vermögen und deren Inhalt man mit einiger Berechtigung durchaus „therapeutisch“ nennen darf.


Wenn wir „Das kunterbunte Monsterbuch“ aufschlagen, befinden wir uns mitten in einer überaus liebevoll und detailreich gestalteten, von geschäftigem Leben geradezu überquellend berstenden kleinen Stadt, deren kaum zu erahnende Ausmaße allein vom Format der zeichnerisch komplett ausgefüllten Doppelseiten begrenzt werden. Das emsig belebte Stadtpanorama ist vollständig in Schwarzweiß gehalten, so dass ein kleines Mädchen, das im selbstvergessenen Spiel mit roter Kreide zuerst einen mehrere Meter langen Strich auf die Straße und dann in dessen Verlängerung ein leuchtendes Herz an eine blässliche Hauswand malt, als Auslöserin dieses intensiven Farbkontrasts besonders heraussticht.

Doch das Mädchen hat anscheinend nicht nur rote Malkreide dabei, sondern zaubert aus den Tiefen ihrer Rocktasche mühelos zahllose weitere bunte Kreidestücke in allen Regenbogenfarben hervor – auf der zweiten Doppelseite sehen wir sie bereits einen gutmütig dreinblickenden, mehrfarbigen Dinosaurier auf die Straße malen, während ein kleiner Hund, der ihren gestalterischen Antrieb als Symbol des Unbewussten intuitiv verstanden zu haben scheint, der zauberhaften kleinen Protagonistin mit dem roten Herz im Maul vertrauensselig und freudig hinterher rennt. Die in ihren zahlreichen unterschiedlichen alltäglichen Beschäftigungen abgelenkten Bewohner der Stadt haben unterdessen noch nichts von den unerhörten Dingen bemerkt, die sich direkt vor ihren Augen abspielen.

Es ist bemerkenswert, dass Alice Hoogstad nicht dem naheliegenden Impuls nachgibt, die farblose Stadt und ihre Bewohner in einen noch stärkeren Kontrast zur farbigen Fantasiewelt des Mädchens zu setzen, etwa indem sie sie als schroffe, auf Ordnung bedachte Miesepeter inszeniert, die sofort Zeter und Mordio schreien und die Polizei herbeirufen – so wirkt das Szenario umso realistischer, ehrlicher und überzeugender, als auf der nächsten Doppelseite der fröhliche bunte Dinosaurier bereits ein unverkennbares Eigenleben entwickelt hat und quicklebendig durch die Straßen torkelt, während das Mädchen an der nächste Hauswand ein weiteres sympathisches Monster zeichnerisch zum Leben erweckt und erste aufmerksame Stadtbewohner mit neugierigem Interesse die denkwürdigen Ereignisse zu betrachten beginnen.

Alice Hoogstad

Erst als die Stadt schließlich vollends in allen Farben des Regenbogens erstrahlt und von zahlreichen wundersamen Zauberwesen bewohnt wird, werden das Auge des Gesetzes und der Brandschutz doch noch auf die außerordentlichen Vorkommnisse aufmerksam und verlangen dem kleinen Mädchen und ihren zahlreichen gleichaltrigen Freunden, die inzwischen gemeinsam mit ihr die Stadt verschönern und beleben, eine konzertierte Reinigungsaktion ab. Da beginnt es plötzlich zu regnen, und schon bald scheint die anfängliche Ordnung wieder hergestellt – aber nur fast, denn wer einmal seinen natürlichen Gestaltungswillen und die Schönheit der Farben entdeckt hat, kann mit diesem aufregenden neuen Spiel nicht mehr aufhören: so sehen wir die Kinder auf der letzten Doppelseite ihr Werk unbehelligt voll Freude erneut beginnen. Und das kleine rote Herz, mit dem alles begann, hat den reinigenden Regen auch vollkommen unversehrt überstanden...

„Das kunterbunte Monsterbuch“ erzählt ganz ohne Worte und mit überwältigender Poesie und tiefgründiger Universalität eine wunderbare kleine Geschichte von den unzähligen Möglichkeiten des selbständigen Gestaltens seiner eigenen Realität, die für Kinder wie für Erwachsene gleichermaßen attraktiv scheint und intuitiv unmittelbar begreifbar ist. Alice Hoogstads kunstvolle, präzise und ausgereifte Bildsprache ist dabei so voller liebevoller Nuancen, dass man trotz oder vielleicht gerade wegen des Fehlens einer eindeutig verbalisierten Handlung immer wieder gerne zu ihrem entzückenden Bilderbuch zurückkehrt, sich dankbar darin verliert und dabei stets neue liebevolle Details entdecken kann.

„Das kunterbunte Monsterbuch“, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 14,90

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