Obwohl
selbst Erwachsene an einem schönen Tag in den wechselnden
Wolkenkonstellationen am sommerlichen Himmel mit Hilfe ihres
bildlichen Vorstellungsvermögens noch die erstaunlichsten
gegenständlichen Bildfolgen zu erkennen vermögen, gilt die spontane
kindliche Fantasie doch zu Recht als ungleich größere, geradezu
göttliche Gabe, da sie auf ganz unmittelbare, geradezu schöpferische
Art und Weise jederzeit danach zu streben scheint, selbst noch in den
allerprofansten irdischen Alltagsgegenständen mit aller Macht immer
das Wunderbare (wieder-)zuerkennen und sich deshalb niemals in ihrem
natürlichen Bemühen selbst zu erschöpfen scheint, das
nur-für-sie-Sichtbare zum lebendigen Objekt spielerischer
Welterkundung zu machen.
Dieser
außerordentlichen, allein durch die menschliche Erziehung sowie die
damit einhergehende fortschreitende Persönlichkeitsentwicklung
begrenzten wunderbaren Fähigkeit hat die für ihr
abwechslungsreiches bisheriges zeichnerisches Werk bereits vielfach
ausgezeichnete niederländische Kinderbuchautorin und Illustratorin
Alice Hoogstad (geboren 1957) in ihrem neuen Bilderbuch nun ganz ohne
Worte ein eindrucksvolles künstlerisches Denkmal gesetzt. Der
Schweizer Aracari-Verlag, in dem „Das kunterbunte Monsterbuch“
soeben erschienen ist, hat sich nicht zuletzt durch die poetischen
Bilderbücher von Mies van Hout („Heute bin ich“) einen Namen für
hochwertig gestaltete Bilderbücher gemacht, die neben ihrer
offensichtlichen kindlichen Zielgruppe besonders Erwachsene zu
erfreuen vermögen und deren Inhalt man mit einiger Berechtigung
durchaus „therapeutisch“ nennen darf.
Wenn
wir „Das kunterbunte Monsterbuch“ aufschlagen, befinden wir uns
mitten in einer überaus liebevoll und detailreich gestalteten, von
geschäftigem Leben geradezu überquellend berstenden kleinen Stadt,
deren kaum zu erahnende Ausmaße allein vom Format der zeichnerisch
komplett ausgefüllten Doppelseiten begrenzt werden. Das emsig
belebte Stadtpanorama ist vollständig in Schwarzweiß gehalten, so
dass ein kleines Mädchen, das im selbstvergessenen Spiel mit roter
Kreide zuerst einen mehrere Meter langen Strich auf die Straße und
dann in dessen Verlängerung ein leuchtendes Herz an eine blässliche
Hauswand malt, als Auslöserin dieses intensiven Farbkontrasts
besonders heraussticht.
Doch
das Mädchen hat anscheinend nicht nur rote Malkreide dabei, sondern
zaubert aus den Tiefen ihrer Rocktasche mühelos zahllose weitere
bunte Kreidestücke in allen Regenbogenfarben hervor – auf der
zweiten Doppelseite sehen wir sie bereits einen gutmütig
dreinblickenden, mehrfarbigen Dinosaurier auf die Straße malen,
während ein kleiner Hund, der ihren gestalterischen Antrieb als
Symbol des Unbewussten intuitiv verstanden zu haben scheint, der
zauberhaften kleinen Protagonistin mit dem roten Herz im Maul
vertrauensselig und freudig hinterher rennt. Die in ihren zahlreichen
unterschiedlichen alltäglichen Beschäftigungen abgelenkten Bewohner
der Stadt haben unterdessen noch nichts von den unerhörten Dingen
bemerkt, die sich direkt vor ihren Augen abspielen.
Es ist
bemerkenswert, dass Alice Hoogstad nicht dem naheliegenden Impuls
nachgibt, die farblose Stadt und ihre Bewohner in einen noch
stärkeren Kontrast zur farbigen Fantasiewelt des Mädchens zu
setzen, etwa indem sie sie als schroffe, auf Ordnung bedachte
Miesepeter inszeniert, die sofort Zeter und Mordio schreien und die
Polizei herbeirufen – so wirkt das Szenario umso realistischer,
ehrlicher und überzeugender, als auf der nächsten Doppelseite der
fröhliche bunte Dinosaurier bereits ein unverkennbares Eigenleben
entwickelt hat und quicklebendig durch die Straßen torkelt, während
das Mädchen an der nächste Hauswand ein weiteres sympathisches
Monster zeichnerisch zum Leben erweckt und erste aufmerksame
Stadtbewohner mit neugierigem Interesse die denkwürdigen Ereignisse
zu betrachten beginnen.
Alice Hoogstad |
Erst
als die Stadt schließlich vollends in allen Farben des Regenbogens
erstrahlt und von zahlreichen wundersamen Zauberwesen bewohnt wird,
werden das Auge des Gesetzes und der Brandschutz doch noch auf die
außerordentlichen Vorkommnisse aufmerksam und verlangen dem kleinen
Mädchen und ihren zahlreichen gleichaltrigen Freunden, die
inzwischen gemeinsam mit ihr die Stadt verschönern und beleben, eine
konzertierte Reinigungsaktion ab. Da beginnt es plötzlich zu regnen,
und schon bald scheint die anfängliche Ordnung wieder hergestellt –
aber nur fast, denn wer einmal seinen natürlichen Gestaltungswillen
und die Schönheit der Farben entdeckt hat, kann mit diesem
aufregenden neuen Spiel nicht mehr aufhören: so sehen wir die Kinder
auf der letzten Doppelseite ihr Werk unbehelligt voll Freude erneut
beginnen. Und das kleine rote Herz, mit dem alles begann, hat den
reinigenden Regen auch vollkommen unversehrt überstanden...
„Das
kunterbunte Monsterbuch“ erzählt ganz ohne Worte und mit
überwältigender Poesie und tiefgründiger Universalität eine
wunderbare kleine Geschichte von den unzähligen Möglichkeiten des
selbständigen Gestaltens seiner eigenen Realität, die für Kinder
wie für Erwachsene gleichermaßen attraktiv scheint und intuitiv
unmittelbar begreifbar ist. Alice Hoogstads kunstvolle, präzise und
ausgereifte Bildsprache ist dabei so voller liebevoller Nuancen, dass
man trotz oder vielleicht gerade wegen des Fehlens einer eindeutig
verbalisierten Handlung immer wieder gerne zu ihrem entzückenden
Bilderbuch zurückkehrt, sich dankbar darin verliert und dabei stets
neue liebevolle Details entdecken kann.
„Das kunterbunte Monsterbuch“, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, €
14,90
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