Angesichts
der unvorstellbaren humanitären Katastrophe im Mittelmeer, die seit
letztem Oktober nach Beendigung der vom italienischen Staat
selbständig getragenen Rettungsmission Mare Nostrum
erwartungsgemäß weiter eskaliert ist, scheint es jenseits der in
viele verschiedene Richtungen beliebig interpretierbaren sogenannten
„Schuldfrage“ absolut unverzichtbar, sich ein wahrheitsgemäßes,
vorurteilsfreies Bild von den politischen, gesellschaftlichen und
ökonomischen Umständen zu machen, die zu dieser untragbaren
Situation geführt haben, sie kontinuierlich begünstigen sowie
direkt oder indirekt weiter dazu beitragen, dass sie nicht nachhaltig
auf bestmögliche Art und Weise bereinigt werden kann. Auch wenn eine
eingehende unvoreingenommene Beschäftigung mit der vielschichtigen
Problematik und ihren Ursachen sowohl in den Herkunftsländern der
Flüchtlinge als auch in den europäischen Staaten grundsätzlich
mehr Fragen aufwirft als praktikable Lösungsansätze anzubieten
scheint, steht es vollkommen außer Zweifel, dass die wesentliche
gegenwärtige Konsequenz sämtlicher Mitgliedsstaaten der EU nichts
anderes sein kann als den Betroffenen schnell und unproblematisch
Hilfe zu leisten.
Es
gibt wohl kaum ein Sachbuch, das die Flüchtlingsproblematik
unmittelbarer, treffender und ausführlicher aus der Perspektive der
Betroffenen zu schildern versteht als Fabrizio Gattis großartige,
bereits Anfang 2010 erschienene und seitdem vielfach ausgezeichnete
literarische Reportage „Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach
Europa“. Der mutige Autor, ein langjähriger Redakteur des Corriere
della Sera
und Chefreporter des L'Espresso,
dessen Arbeitsweise als Enthüllungsjournalist mit unterschiedlichen
falschen Identitäten in vielerlei Hinsicht dem aufklärerischen
Ansatz Günter Wallraffs ähnelt, geht dabei aber in doppelter
Hinsicht sehr viel weiter als sein deutscher Kollege, und es scheint
kaum zu viel versprochen, sein packendes Buch über
die entbehrungsreiche, lebensgefährliche Fluchtroute afrikanischer
Flüchtlinge quer durch den Kontinent sogar in die Tradition der
großen Abenteuerreisenden von Sir Francis Burton bis zu Reinhold
Messner einzuordnen.
Der Kopf ist schon seit
einigen Monaten unterwegs. Der Bauch und seine Ängste auch. Aber
jeder Aufbruch hat seinen Ort in Raum und Zeit. Die Trennlinie
zwischen dem Vorher und Nachher […] Sacht legt sie die rechte Hand
aufs Herz, auf die Lippen und die Stirn in einer fließenden
Bewegung, bis sie schließlich die Handfläche ganz öffnet. Es ist
der eleganteste Abschiedsgruß, den uns die Völker der Wüste
überliefert haben. Du würdest gern noch etwas sagen. Stehen
bleiben. Umkehren. Doch es ist zu spät.
Die Zeit der großen
Expeditionen und individualistischen Abenteurer ist ohne Frage schon
lange vorbei, sämtliche Extreme der Natur sind ausführlich kartiert
und vermessen, wer heute noch an die Grenzen des Menschenmöglichen
gehen will, muss versuchen, sich den vom Menschen selbst geschaffenen
Extremen in Form der zahlreichen sozialen und politischen Brennpunkte
unserer Erde anzunähern. So darf man mit einigem Recht behaupten,
dass Fabrizio Gatti mit seinem packenden, elektrisierenden Buch ein
vollkommen neues literarisches Genre geschaffen hat, nämlich indem
er sein Leben wie seine auf so vollkommen andere Art und Weise
abenteuerlustigen Vorgänger einem kaum abschätzbar hohen
individuellen Risiko aussetzt, aber deren wesentlichen, legitimen
Antrieb der egomanen Selbstbestätigung durch die zeitgemäßere
Motivation des empathischen Mitgefühls und der mitmenschlichen
Solidarität ersetzt und folglich mit umso größerer Berechtigung
von einem ebenso faszinierenden wie nachhaltig verstörenden
„sozialen Abenteuer“ erzählen kann.
Ein Mensch, der weinend
auf der Straße läuft, ist im Stadtbild von Agadez nichts
Besonderes. In der Vergangenheit gab es zahlreiche Hungersnöte und
Staatsstreiche. Menschen, die verhungerten. Jetzt kommen die
Abgeschobenen hinzu, die die Wüste überlebt haben und nichts weiter
besitzen als ihre Armut und ihre Würde.
Fabrizio Gattis über den
eindrucksvollen Zeitraum von mehr als einem Jahr gewissenhaft
vorbereitete, gefährliche Reise nach und quer durch Afrika beginnt
spektakulär, geradezu expositionsartig im Sinne einer klassischen
Sinfonie: sein Flugzeug nach Dakar, der Hauptstadt des Senegal als
Ausgangspunkt seiner viele Monate dauernden Odyssee als
unterprivilegierter namenloser Flüchtling, kann erst mit
dreistündiger Verspätung abheben, da ein abzuschiebender Afrikaner
an Bord seine unwiderruflich letzte Chance auf eine kurzfristige
Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung in Italien nutzt, indem
er einen massiven psychotischen Anfall vortäuscht, nur um
wunschgemäß von der italienischen Polizei verhaftet, wieder von
Bord gebracht und zurück in seine Abschiebezelle gesperrt zu
werden. In Dakar, auf der Fahrt vom Flughafen ins Hotel steigt eine
einheimische Prostituierte in Gattis Taxi und verlangt mit äußerstem
Nachdruck, dass er sie für diese Nacht mit auf sein Zimmer nehmen
solle. Und am zweiten Tag bittet eine Kellnerin den vollkommen
fremden Europäer, sie als Geliebte mit in seine Heimat zu nehmen.
Fabrizio Gatti |
Ebenfalls noch in Dakar
erfährt er, dass die hiesige italienische Botschaft jährlich nur
etwa zweitausend Visa ausstellt, dass ein „Boss“ jedoch gegen die
Zahlung von umgerechnet fünftausend Euro illegale Visa zu
organisieren vermag, eine Investition, die bei einem
durchschnittlichen Jahresgehalt von deutlich weniger als zweitausend
Euro vollkommen utopisch erscheint. Der unwägbarste, gefährlichste
und verzweifeltste Weg nach Europa jedoch, der von Fabrizio Gatti
beschrittene, kostet bestenfalls zweihundertfünfzig Euro für die
Fahrt von Dakar bis Tripolis, zuzüglich tausend Euro für die
Überfahrt nach Italien, im schlimmsten Fall jedoch nicht weniger als
das Leben. Wer es trotz aller vom Autor minutiös geschilderten
Entbehrungen auf überfüllten und schrottreifen Lastwagen über
Sandpisten durch die Gluthitze der Sahara schafft, schikaniert und
beraubt von Räubern, Al-Qaida-Kämpfern sowie korrupten Polizisten
oder Militärs, wer schließlich sogar die gefährliche Fahrt übers
Mittelmeer in dafür völlig ungeeigneten Booten überlebt, muss in
aller Regel die Internierung in überfüllten Auffanglagern erdulden
und die Abschiebung in die alte Heimat über sich ergehen lassen.
Fabrizio Gattis erschütternde Beschreibung des verdrängten
Schattens unserer Zivilisation aus der Perspektive eines unschuldig
darunter Leidenden gehört zweifellos zu den bemerkenswertesten
persönlichen Abenteuern und literarischen Leistungen unserer Zeit.
Für die Auseinandersetzung mit der derzeitigen humanitären
Katastrophe ist sie ein absolut unentbehrliches Dokument.
„Bilal“, aus dem
Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß, erschienen als
Rowohlt Taschenbuch, 536 Seiten, € 11,99
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