Es
gibt derzeit kaum eine andere Schriftstellerin, die in ihren ebenso
vielschichtigen wie schwer einzuordnenden, im positiven Sinne
eigenartigen Büchern immer wieder eine so kongeniale Ur-Sprache für
die fremdartig-vertrauten Landschaften der menschlichen Seele sowie
des individuellen und kollektiven Unbewussten zu finden versteht, wie
die auf dem englischsprachigen Buchmarkt zumeist zu Recht mit
ehrfürchtigem Respekt als außergewöhnlicher literarischer Glücks-
und Sonderfall betrachtete Australierin Margo Lanagan. In Deutschland
erscheinen ihre auf märchenhafte Art und Weise abstrakten, dem
magischen Realismus nahestehenden, jedoch oftmals allzu vordergründig
und unzutreffend als Fantasy apostrophierten umfangreichen Romane
unter dem Rotfuchs-Jugendbuchlabel des Rowohlt-Verlags, was dem
universellen Anspruch und der allgemeingültigen Aussagekraft ihrer
Bücher den größtmöglichen verdienten Leserkreis leider
unnötigerweise vorenthält.
Ihr
vor einem guten Jahr erstes in deutscher Übersetzung erschienenes,
dem Entstehungsprozess nach jüngstes Werk „Seeherzen“, eine Art
Grimmsches Märchen in vielstimmigem, epischem Gewand, emotional
fesselnd und intellektuell berührend erzählt aus den ständig
wechselnden Perspektiven der verschiedenen, auf höchst
unterschiedliche Art und Weise beteiligten Zeugen der darin mit
erstaunlicher literarischer Experimentierfreude und bemerkenswerter
Empathie erkundeten rätselhaften Vorgänge auf einer kleinen,
abgeschiedenen nordischen Insel in rauer See, darf wohl ohne
Abstriche als eine der wenigen außerordentlichen literarischen
Entdeckung des letzten Jahres bezeichnet werden. In der archaischen
Landschaft ihres mit schmerzhaftem Realismus geschilderten
unwirtlich-schroffen Schauplatzes hat die Autorin eine beeindruckende
Vielzahl berückend schöner, angemessener und hoch poetischer
Metaphern für das menschliche Leben und Lieben gefunden, die jedem
unvoreingenommenen Leser unvergesslich bleiben müssen.
„Was
war das vorhin?“, raunte ich Annie zu, während ich halb auf ihrem
Schoß hockte, „was haste da mit mir gemacht?“
„Na,
wenn du das nicht weißt, stimmt was nicht mit Dir!“, lachte sie.
„Nein,
das danach. Auf meiner Stirn. Das, was mich weggeschickt hat.“
„Weiß
nich“, sagte sie. „Bin seit 'n paar Monaten voll von dem Zeug.
Komisch, was? Hat's dir denn gefallen?“
Gleichzeitig
aber verdeutlicht Margo Lanagan darin auch auf vorbildliche Art und
Weise ihren vollkommen eigenständigen literarischen Standpunkt:
Während die klassische Fantasy sich aus der im eigenen Narrativ
vollkommen ausgeklammert bleibenden Realität des Lesers in eine
formelhaft-standardisierte historistische Traumwelt flüchtet, um
dort auf oft banale und meist unzulänglich-stereotype Art und Weise
lediglich pseudo-realistische Konflikte zu reinszenieren, und somit
nichts anderes tut, als Altbekanntes und Vertrautes für den Leser
mit exotischen Schauplätzen und bizarren Protagonisten anzureichern,
versucht der fantastische Realismus, das Unerklärliche, schwer zu
Fassende und für den Einzelnen zuweilen kaum Annehmbare in unserer
Lebensrealität mit Hilfe von gezielt eingesetzten märchenhaften
oder wunderbaren Handlungselementen solchermaßen hervorzuheben, dass
diese für den Leser als gelungene, tragfähige Metaphern einen
erheblichen Erkenntnisgewinn und Akzeptanzpunkt für sein eigenes
Leben ausmachen.
Waldweg/ F. Hunger |
Der
magische Realismus bleibt dabei trotz allem stets vollkommen im
Diesseits verortet. Margo Lanagan jedoch gelingt es mit ihrem feinen
Gespür für die subtilen Prozesse der menschlichen Seele und ihrer
genauen, von ehrlichem Mitgefühl geprägten Kenntnis der Abgründe
menschlichen Tuns, diese dankbare Perspektive noch um den
tiefgründigeren, umfassenderen Blickwinkel des menschlichen
Unbewussten zu ergänzen. Es spricht nicht wenig dafür zu behaupten,
dass ihre ureigene Lesart des magischen Realismus sich erfolgreich
darum bemühe, unsere oftmals bewusst vernachlässigte, jedoch kaum
weniger ausgeprägte, gleichsam „andere“, „unsichtbare“
Seite der individuellen Weltdurchdringung ausdrücklich zu
integrieren, nämlich die nicht weniger reale Parallelwelt unseres
Unbewussten, wie sie sich auf kongeniale Art und Weise auch in vielen
Märchen der Brüder Grimm äußert. Dabei gelingt es Margo Lanagan
scheinbar ganz mühelos, sich eine vollkommen neue Perspektive
anzueignen: nämlich als würde unser Unbewusstes versuchen zu
begreifen, welche seltsamen, ihm unverständlichen Dinge wir bei
vollem Bewusstsein tun. Und gerade mit dieser vollkommen neuen
stringenten Sichtweise vermag die Autorin den magischen Realismus und
unsere poetische Wahrnehmung ganz ungemein zu bereichern.
„Nun
mach schon Kleines! Stirb! Das hier ist kein Ort für dich!“
Doch
das Baby fiel nicht; um es herum breitete sich das Licht aus, und aus
dem immer greller leuchtenden Mittelpunkt entrollten sich Schlaufen
und Bögen aus gekräuseltem Licht wie lose Windelbahnen.
Ermutigt
von der zwar wirtschaftlich noch bescheidenen, aber durchweg
positiven inhaltlichen Resonanz auf ihren ersten in deutscher Sprache
veröffentlichten Roman ist nun ihre überraschende, kaum weniger
beeindruckende und mehr als 500 Seiten starke, höchst eigenständige
Adaption des „Schneeweißchen-und-Rosenrot“-Stoffes der Gebrüder
Grimm aus dem Jahr 2008 in deutscher Übersetzung erschienen, die den
im besten Sinne überwältigten Leser in ihrer beeindruckenden
Gefühls- und Gedankentiefe ebenso Staunen wie Träumen macht, aber
ihn in ihrer dunklen, das Unbewusste aufwühlenden Metaphorik tief zu
erschüttern, vielleicht sogar nachhaltig zu deprimieren vermag.
„Aber
mit einem Sohn“, sagte sie, „mit einem Sohn hättest du aber
nicht - „, ein weiteres Funkeln seiner Augen brachte sie ins
Stocken, „das machen können, was du mit mir gemacht hast. Was du
mit mir machst.“
Er
sah sie aus zusammengekniffenen Augen an, dann riss er sie plötzlich
auf. „Nee“, sagte er, als wäre sie schwer von Begriff, „für
so was hat man ja 'ne Frau.“
Er
lachte, schnaubte, spuckte es ihr beinahe ins Gesicht, als wäre sie
geradezu unfassbar dämlich. Dann wandte er sich wieder seinem Messer
zu und wetzte weiter.
Liga,
die unglückliche titelstiftende Protagonistin in Margo Lanagans
ebenso klugem wie mitreißendem Märchenroman, lebt mit ihrem
verwitweten Vater in einem einsam gelegenen Haus am Waldrand. Seit
dem ersten Einsetzen ihrer Periode wird sie von ihrer einzigen
erwachsenen Bezugsperson über Jahre hin sexuell missbraucht, so dass
sie bereits im Alter von dreizehn eine Fehlgeburt und zwei
schmerzhafte und mit den lebensgefährlich-brutalen Methoden des
Mittelalters durchgeführte Abtreibungen leidvoll hinter sich
gebracht hat. Als ihr grausamer Vater eines frühen Morgens
unverhofft von einer Kutsche überfahren wird, beginnt für Liga eine
kurze Zeit friedlicher, unbeschwerter Selbstbestimmung, und nur wenig
später bringt sie zu ihrem seligen Entzücken eine gesunde Tochter
zur Welt, der sie den Namen Branza gibt. Die unbekümmerte Zeit
glücklicher Mutterschaft währt allerdings nicht lange, denn schon
bald fällt eine Horde von im Wald herumstreifenden Dorfjungen über
sie her, die sie nacheinander brutal vergewaltigen.
Alexander Zick: "Schneeweißchen und Rosenrot" |
In der
folgenden Nacht nimmt Liga ihr kleines Baby und flieht mit ihm in den
Wald. Als sie im Zustand schmerzvollster Verzweiflung und
Selbstaufgabe plötzlich vor einem tiefen Felsabgrund steht, der ihr
auf breiter Linie den Weg und jede weitere Fluchtmöglichkeit
abschneidet, lässt sie innerlich los. In der verzweifelten Absicht
ihrem traurigen Leben ein selbstbestimmtes Ende zu setzen, wirft sie
zunächst ihre Tochter in die Schlucht, um anschließend selbst zu
springen, als im jäh aufgleißenden Licht des Vollmonds vollkommen
Undenkbares geschieht: der kleine Körper bleibt in der Luft
schweben, wundersam gehalten und aufgehoben, während die natürliche
Schwerkraft gänzlich außer Kraft gesetzt scheint. Wie verzaubert
bleibt Liga am Rande der Schlucht stehen, ehe sie es endlich wagt,
auch selbst einen zaghaften Schritt über den tückischen Abgrund zu
setzen: doch er trägt sie, und sie kann ihr Baby wohlbehalten in die
Sicherheit der Felsklippe zurücktragen. Ermutigt von diesem
mächtigen Zeichen, der Ablehnung ihres Opfers, kehrt sie zurück zum
Haus ihres Vaters, das sie zu ihrem großen Erstaunen frisch
renoviert vorfindet.
Doch
als sie auf die Lichtung trat, war alles verändert: Das Haus, das
sich immer stark zur Seite geneigt hatte, als hätte nur die
gewaltige Wut ihres Vaters es am Umkippen gehindert, stand
rechtwinklig und solide vor Liga auf dem Rasen. Der herausgerissene
Fensterrahmen war wieder in die Wand verankert, die zertrampelten
Fensterläden aus Flechtwerk neu verwebt; verschwunden waren die
Stiefelspuren und zersplitterten Stellen an der Tür, die Liga am
Abend zuvor im Licht der Mondlampe bemerkt hatte; die Tür stand auch
nicht mehr sperrangelweit offen, wurde nur von einem abgerundeten
Stück Holz einen Spaltbreit offen gehalten. Auf der Südseite der
Eingangsstufe wuchs ein rotblättriger Busch, der Liga bis zum Knie
reichte. Auf der Nordseite stand ein grüner Busch, der ebenso groß
und rund war. Das Strohdach wies keine Löcher oder fadenscheinige
Stellen auf, und der Schornstein neigte sich nicht länger gen
Westen.
Kaum
neun Monate später bringt Liga zu ihrer großen Freude ein zweites
gesundes Mädchen zur Welt: Urdda. Von nun an lebt sie mit ihren
beiden Töchtern in ungetrübter familiärer Eintracht, vollkommen
unbehelligt von anderen Menschen und in äußerster Harmonie mit der
Natur in einer märchenhaften, geradezu überirdischen Idylle, die
allzu schön scheint, als dass sie lange halten könnte: eine
unwahrscheinliche Parallelwelt des Guten, vollkommen befreit von den
antagonistischen Kräften des Bösen. Doch Ligas Welt hält, hält
zum wachsenden Misstrauen des Lesers und bleibt über Jahrzehnte in
gleichförmiger Heiterkeit bestehen – und gerade darin besteht, wie
sich im weiteren Verlaufe des handlungsreich-fantasievollen und
bildmächtigen Romans zeigt, die eigentliche Bürde für die drei
Frauen. Denn für ihre beiden Töchter wird Ligas bequeme Zauberwelt
ohne Eros, Sex und Gewalt, die sich aus der Seelenqual ihre Mutter zu
deren Schutz materialisiert hat, mehr und mehr zum elysischen
Gefängnis, das sie ungewollt in ihrer eigenen individuellem
Entwicklung und Menschwerdung blockiert.
Parallel
zu den Ereignissen in Ligas Welt erzählt Margo Lanagan, angeregt vom
pittoresken Bärenfest „Journée de l'ours“, das alljährlich zum
Frühlingsanfang in der französischen Gemeinde
Prats-de-Mollo-la-Preste in den Pyrenäen gefeiert wird, wie vier vom
Magistrat der fiktiven Kleinstadt St. Olafred ausgewählte und in
Bärenkostüme gewandete junge Männer im Rahmen ihres eigenen
Frühlings- und Fruchtbarkeitsfests im turbulenten Verlauf eines
Tages möglichst viele Frauen und Mädchen küssen und mit schwarzem
Ruß markieren müssen. Durch eine Art flexible Zeitspalte geraten
verschiedene dieser Männer im Abstand mehrerer Jahre in leibhaftiger
Bärengestalt in Ligas Parallelwelt, verlieben sich in eine oder
mehrere der drei Frauen und gehen, entsprechend ihres jeweiligen
Charakters vollkommen unterschiedlich mit ihren Gefühlen und mit
ihrer sexuellen Lust um. Doch auch Liga, Branza und Urdda müssen
sich ihren durchaus widersprüchlichen, sie selbst nicht wenig
irritierenden und auf ungeahnte Art aufwühlenden Gefühlen stellen.
Wie Margo Lanagan all das schildert, vollkommen natürlich und
unbefangen, ganz ohne aufdringliche Zweideutigkeiten oder
Peinlichkeiten, ist absolut beeindruckend und unterstreicht
eindrucksvoll ihre literarische Meisterschaft.
In
ihren Pranken. Ich erschauderte. Er ist verrückt, weil er in ihren
Pranken war und jetzt nicht mehr da sein darf. Er ist verrückt, weil
man ihn „gerettet“ hat. Er ist verrückt vor Trauer und Wut und
weil er die Stadt- und Hausluft einatmen muss, die Menschenfurze, den
muffigen Bettgeruch und den der erkalteten Asche. Gestern noch war er
im Wald, über ihm der Himmel und die Blätter, um ihn herum nichts
als Grün; Baumstümpfe stützten das Himmelszelt, damit Vögel und
Luft ungehindert hindurchfliegen konnten. Gestern noch war er in
ihren Pranken, von ihren Bernsteinaugen verzaubert, und heute ist sie
tot und hat seinen Verstand mitgenommen.
„Ich
geh ihn besuchen“, sagte ich.
„Meinst
du, das ist eine gute Idee?“, fragte Mutter.
Außerdem
gibt es einen habgierigen, ebenso einfühlsam wie überzeugend
charakterisierten, von seinem harten Leben desillusionierten
Kleinwüchsigen, der durch die vollkommen unzulängliche Hilfe einer
mit vagen Zauberkräften weitläufig begabten ehemaligen Liebhaberin
immer wieder in die trügerische Frauen-Idylle eindringt, um
Tannenzapfen und Froschlaich in Gold und Juwelen zu verwandeln und
sie zur Mehrung seines armseligen Reichtums in die reale Welt zu
überführen. Schließlich kommt es durch die unbeabsichtigte
Pfuscherei seiner dilettierenden Freundin zu einem ernsthaften
Zwischenfall im Zeitgefüge, der die beiden unterschiedlichen Ebenen
unumkehrbar ineinander verschränkt und endgültig bewirkt, dass
sämtliche Protagonisten des Buches sich in der Realität
wiederfinden und sich plötzlich auf ungeahnte Art den zahlreichen
Herausforderungen und Widersprüchlichkeiten des wirklichen Lebens
stellen müssen, das viele ungeahnte positive Überraschungen
bereithält, aber auch manche schmerzvolle Erfahrung.
Margo Lanagan/Foto: Steven Dunbar |
Margo
Lanagan hat einen ganz und gar überwältigenden Roman geschrieben,
ein großes, beeindruckendes Werk, dessen einzige mögliche Schwäche
vielleicht in der verschmerzbaren Tatsache besteht, dass die begabte
Autorin – anders noch als in ihrem späteren, meisterhaft
durchdachten und perfekt konstruierten „Seeherzen“ – im
späteren Verlauf der umfangreichen Handlung gleichzeitig eine
dezente psychologisierende Interpretation der beschriebenen Vorgänge
mitliefert. Das ist für den aufmerksamen Leser vollkommen unnötig,
da es ihn von der ebenso wichtigen wie wertvollen Arbeit des
innerlich-auf-der-Höhe-der-Handlung Bleibens befreit, die er zu
leisten nicht nur gerne imstande ist, sondern die der Erzählung
gewöhnlich auch einen großen Teil ihres zusätzlichen Zaubers
verleiht: gerade eben durch das Sehen der inneren Bilder, die Margo
Lanagan in großer Anzahl sorgfältig und gekonnt erarbeitet. Eine
allzu enge psychologische Einordnung innerhalb der Fiktion muss aber
zwangsläufig für den Leser immer ein bisschen enttäuschend sein,
da sie das intuitiv Erkennbare vollkommen überflüssigerweise
rationalisiert und versachlicht. Wenn es überhaupt eine ureigene
Aufgabe der Literaturwissenschaft gibt, sollte sie ihr von der
Literatur großzügig überlassen werden. Margo Lanagan gehört ohne
Zweifel zu den begabtesten Schriftstellerinnen ihrer Generation, ihre
Bücher sind auch für den deutschen Buchmarkt eine echte
Bereicherung von hohem poetischem Wert.
„LigasWelt“, aus dem Englischen von Mayela Gerhardt, erschienen bei
Rowohlt, 524 Seiten, € 16,99
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