Jerusalem

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Dienstag, 5. August 2014

„In der Mitte ihres Lebens“ von Samuel Joseph Agnon

Das fragwürdige Etikett des Nationaldichters dürfte für jeden wahrhaftigen Schrifftsteller eher eine unnötige Bürde als eine genuine Ehre darstellen, zumal ihm diese Bezeichnung in aller Regel nicht nur von einer wenig profunden literaturfernen Position gleichsam von außen aufgeprägt wird, sondern in den meisten Fällen auch eine unzulässige politische Vereinnahmung seines Werkes bedeutet, die bestenfalls einer Verallgemeinerung oder sogar einer bewussten „positiven“ Abwertung gleichkommt. Im Falle von Chaim Nachman Bialik (1873-1934) oder Samuel Joseph Agnon (1888-1970), deren Leistungen zugunsten einer poetischen Wiederbelebung der hebräischen Sprache unbestritten sind, könnte die Lage jedoch komplizierter sein, da beide von vornherein ein hohes Maß an politischem Sendungsbewusstsein entwickeln mussten, um ihre Dichtung ausgerechnet in einer als ebenso heilig wie tot geltenden Sprache zu verfassen, die über viele Jahrhunderte nahezu ausschließlich ein Medium religiöser und philosophischer Unterweisung gewesen war.



Wer jemals versucht hat, einen von Agnons großen Romanen in deutscher Übersetzung nicht nur anzulesen, sondern seine Lektüre auch erfolgreich zu Ende zu bringen, kann anhand der damit verbundenen Mühen sowie der aufzubringenden Geduld kaum erahnen, welche Bedeutungsebenen im hebräischen Original in assoziativer Art und Weise stets mitzuschwingen scheinen. Die tastende Art und Weise des Autors nach einer neuen, unverbrauchten Formulierung zu suchen, die bereits Gesagtes noch konkretisiert oder eine zusätzliche poetische Ebene nachschiebt sowie seine formelhafte, den Duktus der Bibel imitierende Aneinanderreihung scheinbar zusammenhangloser Abschnitte wirkte in den meisten bisherigen Übersetzungen so bemüht, dass am Ende der Eindruck eines überambitionierten Dichters überwog, der die Schaffung einer Nationalsprache über seine literarische Aussage zu stellen schien. Israelische (Schul-)Ausgaben der Werke Agnons weisen oft einen umfangreichen, Erläuterungsapparat von geradezu talmudischen Ausmaßen auf, um dem Leser den Zugang zu sämtlichen möglichen Bezugs- und Bedeutungsebenen zu erleichtern.

Manchmal fragte ich mich, weswegen ich meine Erinnerungen aufschrieb, was hatte ich denn Neues entdeckt und von was wünschte ich, dass es bliebe nach mir? Ich würde sagen: Wegen der Seelenruhe, die ich durch mein Schreiben finde, habe ich alles aufgeschrieben, was in diesem Buch steht.

In dieser Hinsicht bietet die soeben im Jüdischen Verlag erschienene erstmalige Übersetzung von Samuel Joseph Agnons Erzählung „In der Mitte ihres Lebens“ dem interessierten Leser eine großartige überschaubare Möglichkeit, diesen neuhebräischen Klassiker gewissermaßen auf „authentische“ Art und Weise zu entdecken, ohne dabei an der Fülle des Stoffes und seiner Präsentation verzweifeln zu müssen. Die kaum hunderseitige Erzählung entstand während Agnons äußerst produktiver Zeit in Deutschland, die im Jahr 1924 mit der vollständigen Vernichtung seines Hausstands einschließlich einer umfangreichen Bibliothek von 2000 Bänden durch ein Feuer so ausgesprochen tragisch endete. Aufgewachsen in Galizien als Sohn einer wohlhabenden Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie, war Agnon 1908 nach Palästina ausgewandert und 1914 bei Ausbruch des ersten Weltkriegs während einer im Vorjahr begonnen Reise zunächst in Berlin gestrandet, wo er sich schnell – gefördert von Martin Buber und dem Verleger Salman Schocken – als fester Teil des literarischen Lebens der Hauptstadt etablieren konnte.

Nun gab es in unserem Haus einen Bücherschrank, und eines Tages holte mein Vater während der vergeblichen Suche nach schönen Lettern ein Buch heraus. Er bekam glänzende Augen und vertiefte sich in die Bücher. In lieb gewordener Trauer, die unser Heim abschirmte, dachte mein Vater kaum mehr an meine Mutter, als er nach Buchstaben für den Grabstein suchte. Wie ein emsiger Vogel nicht müde wird, Halme für sein Nest zu sammeln, so ermüdete auch mein Vater nicht.

Agnon-Denkmal in Bad Homburg

Die Erzählung „In der Mitte ihres Lebens“ entstand während seiner Jahre in Bad Homburg im hessischen Taunus, die er selbst rückblickend als eine der glücklichsten seines Lebens bezeichnete, in einem Stockwerk der fürstlichen „Villa Imperiale“, ehemaliges Kur-Domizil des Prinzen von Wales, das sein wohlhabender Schwiegervater George Marx (1843-1927) dem jungvermählten Paar verschafft hatte. Agnon erzählt darin aus der Perspektive seiner Protagonistin Tirza die Geschichte eines jungen Mädchens, das nach dem tragischen, frühen Tod ihrer Mutter als Einzelkind in einem wohlhabenden, gebildeten Haushalt aufwächst, der nachhaltig geprägt bleibt von der anhaltenden Trauer ihres Vaters um seine geliebte Frau. Deren Liebe hatte eigentlich dem bescheidenen Poeten Masal gehört, den sie trotz seiner lebhaften Erwiderung ihrer Gefühle im traditionellen jüdischen Familienkontext nicht hatte heiraten dürfen. An der stillen Fügung in dieses scheinbar unvermeidliche Schicksal war sie schließlich nach langen Jahren des Leidens zerbrochen.

Eines der rührendsten Bilder in Agnons Erzählung ist der verzweifelte Wunsch des Ehemanns, Masals zahlreiche über die Jahre an seine Frau gerichteten Gedichte (von denen er ausdrücklich weiß) nach deren Tod in Buchform herauszugeben; jedoch hatte diese am Tag ihres Todes alle Verse verbrannt, und der Dichter selbst hatte keinerlei Kopien davon angefertigt. Die junge Tirza steht nun, nachdem ihr von ihrem Vater in jahrelangem Privatunterricht eine umfassende bürgerliche Bildung ermöglicht wurde und sie als aufgeweckte, lebhafte Beobachterin der Vorgänge in ihrem Umfeld diese bereits mit scharfem Verstand zu hinterfragen gewöhnt ist, unverhofft vor derselben sie in höchstem Maße herausforderden Grundsatzentscheidung wie einst ihre Mutter: muss sie sich der ihr zugedachten Rolle als Ehefrau und Mutter fügen oder kann sie sich in einem modernen Akt der Selbstbestimmung von dem traditionellen Muster befreien? Tirza findet ihre ganz eigene Lösung, mit der sie auf vollkommen unkonventionelle Art und Weise das Andenken ihrer Mutter zu ehren vermag.

Ich blickte in das Gesicht meines Vaters, dann wieder in das Gesicht meines Mannes, von einem zum andern. Ich sah die beiden Männer und mir war zum Weinen zumute, im Schoß meiner Mutter wollte ich weinen. Lag es an der Verstimmung meines Mannes oder an der weiblichen Psyche? Mein Vater und mein Mann strahlten mich an, in ihrer Liebe wie in ihrem Mitleid glichen sie sich, einer war wie der andere. Siebzig Gesichter hat das Böse, die Liebe hat nur ein Gesicht.

Samuel Joseph Agnon

Samuel Joseph Agnon, dem 1966 gemeinsam mit Nelly Sachs als bisher einzigem hebräischen Schriftsteller der prestigeträchtige Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, hat mit seiner eigenartigen Erzählung ein klassisches Motiv auf ebenso moderne wie charakteristische Art und Weise neu ausgestaltet, das auch heute noch Relevanz hat, selbst in einer aufgeklärten Gesellschaft wie der unseren – besonders mit seiner überraschenden filmreifen Pointe. Er bedient sich dafür einer denkwürdigen Mischung aus ungereimter Lyrik, Anklängen biblischer Sprache und dunklen, ebenso konkreten wie metaphorisch nachwirkenden Sprachbildern, deren sperrig-naive Gedankenführung mitunter an Kafka zu erinnern scheint. Auch wenn man viele vom Übersetzer behauptete Bezüge in den Erläuterungen nicht nachvollziehen kann, manches davon als zu beiläufig oder als zu konstruiert verwerfen möchte, kann man sich der Kraft zahlreicher Metaphern sowie der rührend-ernsthaften, empathischen Grundhaltung des Dichters dauerhaft kaum entziehen: viele Bilder aus Agnons Erzählung bleiben noch lange in der Imagination des Lesers haften – hier wird die Bedeutung des Autors für den Mythos der Neuerfindung des Hebräischen wie für das Selbstverständnis des Staates Israel beispielhaft deutlich.

„In der Mitte ihres Lebens“, aus dem Hebräischen von Gerold Necker, erschienen im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp, 124 Seiten, € 19,95

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