Jerusalem

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Dienstag, 29. Juli 2014

„Süß und ehrenvoll“ von Avi Primor

In der literarischen Auseinandersetzung mit der europäischen Ur-Katastrophe des Ersten Weltkriegs steht Erich Maria Remarques Weltbestseller „Im Westen nichts Neues“ mit einer geschätzten Gesamtauflage von zwanzig Millionen in fünfzig Sprachen seit über achtzig Jahren als geradezu unerreichbarer Monolith nahezu für sich allein innerhalb der deutschsprachigen Antikriegsliteratur. Der durch seine eigenen Kriegserlebnisse an der Westfront nachhaltig pazifistisch-antimilitaristisch geprägte Schriftsteller hatte wie kaum ein anderer zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung im Jahr 1929 perfekt den Ton seiner Zeit getroffen. Die unverzügliche breite Popularität seines Werkes war so überwältigend, dass etwa der nahezu zeitgleich unter Pseudonym veröffentliche und zuletzt von der Literaturkritik zu Unrecht gefeierte Schelmenroman „Schlump“ des thüringischen Lehrers Hans Herbert Grimm kaum eine nennenswerte Resonanz in Deutschland erzielen konnte.



Er hatte keine Ahnung, wo er war und wie er hier hingekommen war. Er befand sich in einer Art Schwebezustand, fühlte sich wie in Watte gepackt. Manchmal drang ein Schmerz zu ihm durch, den er nicht lokalisieren konnte – sein Körper fühlte sich an, als liege er auf einem Stein. Hin und wieder drangen auch Worte zu ihm durch, meist fern und gedämpft, manchmal auch näher. Worte wie „isolieren“ oder „Exitus“. Ständig vernahm er Schritte, mal neben sich, mal weiter entfernt. Einmal schien ein Gespräch ganz nah, kam ihm aber nicht weniger unwirklich vor. „Amputieren“, sagte eine Männerstimme. „Direkt oberhalb des Kniegelenks. Sehen Sie zu, dass die Kniescheibe erhalten bleibt, und vernähen Sie die Gewebelappen sorgfältig, sonst können Sie sich das Ganze gleich sparen.“

Der langjährige israelische Botschafter in Deutschland und angesehene Politikwissenschaftler Avi Primor (geboren 1935) hat sich für seinen beeindruckenden ersten Roman über den Ersten Weltkrieg aus naheliegenden pragmatischen Gründen für eine eher dokumentarische als allein literarischen Maßstäben verpflichtete Form entschieden. Die Grundidee seines bereits Ende letzten Jahres erschienenen Buches „Süß und ehrenvoll“ ist dabei absolut bestechend: er erzählt darin die Geschichte der Kampfhandlungen und ihrer Auswirkungen auf das politische und soziale Gefüge Frankreichs und Deutschlands aus der sich gegenseitig überlagernden, in vielerlei Hinsicht kongenial ergänzenden und schließlich auch auf tragische Art und Weise direkt berührenden Sicht zweier jüdischer Kriegsteilnehmer, des deutschen Abiturienten Ludwig sowie seines gleichaltrigen und gleichnamigen französischen Konterparts Louis.

Louis hatte anfangs nur das Röcheln vernommen. Doch als er genau hinhörte, konnte er die Worte verstehen. Seine Mutter hatte ihm eingeschärft, er solle diese Worte sagen, wenn er Angst habe oder in Gefahr sei. Er hatte das Schma Israel bei seiner Bar-Mizwa in der Synagoge rezitieren müssen. Damals glaubte er, der Rabbiner habe ihn das Gebet aufsagen lassen, weil er solche Angst vor der schrecklichen Zeremonie in der Synagoge hatte. 'Aber was hat das mit dem feindlichen Soldaten zu tun, der dort, ein paar Meter von mir entfernt, auf dem Boden liegt? Ob er auch Jude ist? Ein deutscher Jude? Hat seine Mutter ihm auch dieses Gebet beigebracht?' Doch Louis fasste sich schnell. Wer immer der Deutsche war, den er getroffen hatte, er lief gewiss nicht allein im Nebel herum. Er musste schnellstens zu seinen Männern zurück.

Yom-Kippur-Militärgottesdienst im Ersten Weltkrieg

Der israelische Dichter Jehuda Amichai hat es in seinem einzigen Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“ bereits vorgemacht – sein in Würzburg aufgewachsener, mit dem Autor weitgehend identischer Protagonist durchlebt in einer Phase persönlicher Krise eine poetische Aufspaltung seiner Persönlichkeit im Dienste der Handlung: während sein erstes Ich im Jerusalem der 1950er Jahre verbleibt und sich in eine intensive, aber vergebliche Liebesaffäre flüchtet, reist seine zweite Verkörperung in einer parallelen Handlung in seine noch vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Heimatstadt, um sich den Geistern seiner von den Nationalsozialisten zerstörten Kindheit zu stellen. Bei Avi Primor indessen vereinigen sich die Erfahrungen der beiden Protagonisten in ihren jeweiligen Heimatländern sowie im traumatischen Erlebnis des Krieges zu einer gewissermaßen kollektiven Erfahrung der (zu überwindenden?) Diaspora, die schließlich dann doch eine dezidiert israelische Sichtweise auf die Ereignisse zu verkörpern scheint.

Mit seiner versierten, schlaglichtartigen Weltkriegschronik aus stetig wechselnder Perspektive seiner beiden begabten Protagonisten gelingen Avi Primor zahlreiche fesselnd-realistische Momentaufnahmen exemplarischer jüdischer Biographien im Kontext ihrer Zeit, aus denen sich im vorgebildeten Leser ein teils erschütterndes, teils beschämendes Gesamtbild zusammensetzt, dessen psychologische Sprengkraft besonders aus dem vorausgesetzten Wissen um die direkten historischen Nachwirkungen entsteht. Insbesondere der Antisemitismus in den beiden sich gegenüberstehenden Heeren wird immer wieder historisch korrekt thematisiert, insbesondere das fatale Instrument der vorgeblich gut gemeinten sogenannte „Judenzählung“ auf deutscher Seite, das besonders in der Zwischenkriegszeit die wachsenden Ressentiments gegen Juden sowie die von nationalistischen Kreisen systematisch instrumentalisierten Behauptungen von jüdischer „Drückebergerei“ und der sogenannten „Dolchstoßlegende“ befeuerte und so einen gefährlichen Nährboden für die spätere stillschweigend-billigende Akzeptanz jüdischer Diskriminierung in der deutschen Bevölkerung legte.

Authentisches Plakat von 1920

Erschreckend aus unserer heutigen, gleichsam „allwissenden“ Perspektive schließlich auch die treffend dargestellte zeitgenössische Überhöhung von vermeintlichen Kriegshelden wie Hindenburg und Pétain, die später jeder auf seine eigene Art und Weise ausgesprochen unrühmliche Rollen bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten bzw. bei deren Machtausweitung im besetzten Frankreich spielen sollten. Das Buch schließt mit einer patriotisch-begeisterten, in hohem Maße authentisch wirkenden Beschreibung von Hindenburgs persönlicher Teilnahme an einem Gedenkgottesdienst zugunsten der im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gefallenen jüdischen Soldaten in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin.

Als Friede und Karoline aus der Synagoge kamen, blieben sie stehen und sahen sich an. „Ich weiß, was du denkst, Karoline“, sagte Friede: „Wenn Ludwig das erlebt hätte...“
...wäre es für ihn der Einzug ins Gelobte Land gewesen“, ergänzte Karoline. Wie bei der Feier traten ihr auch jetzt wieder Tränen in die Augen. [...] Friede sah ihre Eltern und Willi an. Ihr Blick streifte die prächtige, beleuchtete Fassade der Neuen Synagoge, aus der die letzten hochgestimmten Ehrengäste heraustraten, und blieb an den Zwillingen hängen. „Nach viereinhalb Jahren ägyptischer Finsternis“, sagte sie mit einem leisen Seufzer, „sehen wir endlich den Silberstreif am Horizont. Das Aufleuchten einer wahren Hoffnung.“

Avi Primor in Frankfurt/2010

Avi Primor hat uns mit seinem ersten Roman eine ungewohnte, aber umso bestechendere neue Sichtweise auf einen bisher kaum erzählten bedeutsamen Einzelaspekt der jüngeren deutsch-jüdischen Geschichte erschlossen, der unseren Blick auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs als Vorbedingung des größeren Verhängnisses des Zweiten Weltkriegs und der Schoah um eine notwendige, wichtige Dimension höchst wirksam zu erweitern vermag.

„Süß und ehrenvoll“, aus dem Hebräischen von Beate Esther von Schwarze, erschienen bei Quadriga, 383 Seiten, € 19,99

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