Jerusalem

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Freitag, 13. September 2013

"Ein gutes Herz" von Leon de Winter


In seinem möglicherweise besten und unterhaltsamsten Roman bislang verblüfft der streitbare niederländische Schriftsteller Leon de Winter mit zwei höchst erfreulichen erzählerischen Neuerungen, die für sein bisheriges, eher von selbstbezogenem Zynismus geprägtes Werk nicht gerade charakteristisch scheinen: zum einen beweist er darin ein ungewohnt hohes Maß an schmerzensreicher, altersmilder Selbsterkenntnis, was andererseits offensichtlich ursächlich dazu führte, dass er nun – wie er wiederholt im Verlauf seines neuen Buches betont – nicht mehr davor zurückschreckte das zu tun, was er sich insgeheim schon immer gewünscht habe, aber was ein literarisch ambitionierter Autor niemals tun dürfe, nämlich einen (beinahe) lupenreinen Thriller zu schreiben – für dieses Genre habe er, auch in seinem pathologischen Leseverhalten, schon immer ein öffentlich bewusst uneingestandene Schwäche gehabt.



Natürlich ist „Ein gutes Herz“ am Ende doch kein konventioneller Thriller geworden, was wiederum eine gute Nachricht ist: nicht nur für den Leser, sondern ganz besonders auch für die Reputation Leon de Winters. Virtuos schlüpft der aufgrund seiner rechtskonservativen Positionen umstrittene Autor dabei in die Perspektive zahlreicher real existierender und fiktiver Personen und macht sich als frisch von seiner Frau, der bekannten Schriftstellerin Jessica Durlacher, Verlassener selbst zu einer der prominentesten Nebenfiguren seines Buches. Wem wir das alles zu verdanken haben, unterstreicht er dabei unmissverständlich im exklusiven Nachwort zur deutschen Ausgabe:

Ich wollte eigentlich ein anderes Buch schreiben, einen regelrechten Thriller, aber Theo machte mir einen Strich durch die Rechnung. Er dirigierte mich zu dem Roman, der schließlich das Licht der Welt erblickte. Dafür danke ich Theo (wo immer er auch sein mag).

Gemeint ist sein jahrzehntelanger Intimfeind, der ebenfalls höchst umstrittene Filmemacher Theo van Gogh, der am 2. November 2004 auf offener Straße in Amsterdam von dem marrokanisch-niederländischen Islamisten Mohammed Boujeri gleich auf dreifache Weise hingerichtet wurde: denn nachdem dieser den Regisseur des kurz zuvor erschienenen, bewusst polarisierenden, sogenannten „islamkritischen“ Films „Submission“ vom Fahrrad geschossen hatte, schnitt er ihm anschließend die Kehle durch und befestigte sein fünfseitiges Bekennerschreiben mit einem Messer am Körper seines Opfers.

Boujeri rief: „Was guckst du?“
Der Passant war zwar ein bescheidener Salaryman, aber er traute sich, einen Kommentar abzugeben:
Das kannst du doch nicht machen!“
So sagte ein Amsterdamer das. Der rief nicht: Du Schuft, du Nichtswürdiger, du Teufel! Nein, der rief: „Das kannst du doch nicht machen“, als ginge es um einen Akt von Vandalismus, der ihn irritierte.

Van Gogh hatte über Jahrzehnte einen mit großer Vehemenz ausgetragenen öffentlichen Privatkrieg gegen de Winter und Jessica Durlacher geführt, unter anderem im Rahmen einer Fernseh-Talkshow geschmackloserweise behauptet, jener sammele Stracheldraht aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern, ja lasse sich diesen sogar beim „Treblinka-Liebesspiel“ von seiner Frau um den Penis wickeln. Den haltlosen Vorwurf, de Winter vermarkte in seinen Büchern lediglich publikumswirksam sein Judentum, wiederholte er im Verlauf von Jahrzehnten immer wieder.

Es ist Scheiße, aber es ist auch Stoff für ein Buch.“

Nun also, und das ist das erstaunlichste an Leon de Winters Wandlung, ist Theo van Gogh nicht nur der direkte Auslöser eines wirklich gelungenen Romans, sondern auch einer dessen wesentlicher Protagonisten: denn mit seinem Ableben, Aufsteigen der Seele und jahrelangen körperlosen Verharren bei Zigaretten und Whiskey im trostlosen kasernenhaften Wartesaal zum Einlass ins Himmelreich christlich-jüdischer Ausprägung lässt Leon de Winter sein Buch auf unnachahmliche Art und Weise beginnen.

Theo van Gogh


Da enfant terrible Theo sich über Jahre hinweg als absolut resistent dagegen erweist, sein irdisches Leben loszulassen und zu einer neuen Stufe des Bewusstseins vorzudringen, bekommt er im Vorsaal zum Himmel einen persönlichen Coach zugewiesen, der ihm von Gottes Gnaden eine gewisse grundsätzliche Herzensbildung und menschliche Empathie einimpfen soll.

Theos jetziger Berater hieß Jimmy Davis. Er war hartnäckiger als die ganze Batterie von Vorgängern, die Theo schon verschlissen hatte. Jimmy Davis. Ein attraktiver Schwarzer. Immer hübsch postmodern in Schwarz gekleidet – so zumindest hätte Theos Urteil gelautet, wenn er sich denn einen optischen Eindruck von ihm hätte verschaffen können.
Gestern hatte Jimmy Davis gefragt: „Was willst du, Theo?“
Meinen Körper“, hatte Theo geantwortet.
Das schwere Ding mit all dem Fett?“

Der ehrwürdige Engel Jimmy Davis wiederum ist ein erst vor Jahresfrist an einem Hirntumor verstorbener amerikanischer Franziskanermönch, der seinem klösterlichen Gelübde auf sexuelle Abstinenz stets mit libidinöser Leidenschaft untreu gewesen ist und dessen Herz nun im Leib des ehemaligen Gangsters Max Kohn schlägt, welcher einst mit seinem marokkanischen Partner und Handlanger Kicham Ouaziz den gesamten Rauschgifthandel der Niederlande kontrolliert hatte, nach einem Deal mit der niederländischen Regierung aber freies Geleit ins Ausland zugesichert bekam und sich nun, inspiriert durch das in jeder Hinsicht gute Herz seines Organspenders, auf dem Weg der irdischen Läuterung befindet.

So weit, so kompliziert: Kohns große unvergessene Liebe und langjährige Lebensgefährtin Sonja Verstraet ist seit allerneuestem mit dem ersten Finanzier seiner krummen Geschäfte, dem Schriftsteller Leon de Winter liiert, hatte aber – auf der unsteten, panikartigen Flucht vor Max – auf der karibischen Insel Hispaniola auch eine monatelange unbeschwerte Affäre mit Jimmy Davis. Als Max bei der Beerdigung von Jimmys Schwester nun auf diese merkwürdige, allein durch Zufall kaum zu erklärende Dreiecksverbindung aufmerksam wird, begibt er sich unverzüglich in seine alte Heimat, um die verschreckte Sonja um eine Unterredung zu bitten.

Eines wußte Kohn mit Sicherheit: Er hatte das Herz nicht verdient.

Währenddessen wird Amsterdam von einer perfiden Serie von drei zeitlich so präzise synchronisierten islamistisch motivierten Anschlägen heimgesucht, dass die überrumpelten Behörden kaum eine Chance haben, die Fäden selbst wieder in die Hand zu bekommen: die Attentäter, eine komplette Fußballmannschaft von marrokanischstämmigen Jugendlichen, polizeilich bislang nicht auffällig geworden und unumstrittene Tabellenführer ihrer Spielklasse, sprengen zunächst eine Tiefgarage unter der Oper in die Luft, bringen wenig später ein Passagierflugzeug in ihre Gewalt und besetzen anschließend, schwer bewaffnet, eine Grundschule im Amsterdamer Prominentenviertel.

Natürlich gibt es im faszinierenden Kosmos von Leon de Winters geradezu fiebererregend spannendem literarischen Thriller auch eine überraschende Querverbindung in das obskure Milieu der Attentäter: deren Anführer, Mannschaftskapitän und Mastermind Sallie entpuppt sich nämlich als der fehlgeleitete Sohn von Max Kohns Freund und Geschäftspartner Kicham Ouaziz, einem sich vom Islam und allem Arabischen bewusst distanzierenden Berber, der derzeit noch für einen doppelten Rachemord an Konkurrenten im Rauschgiftgeschäft im Gefängnis sitzt.

Würde Sallie mit den Folgen seiner Wut leben können? Denn alles drehte sich um Wut, das wurde ihm jetzt bewusst. [...] Man hatte ihm hier zwar Chancen eröffnet, er hatte eine passable Ausbildung erhalten, aber dieses Land war ihm zutiefst fremd. Die Brücke war prächtig. Er würde sie zerstören.

Da Max' und Sonjas gemeinsamer zehnjähriger Sohn Natan zu den Geiseln in der besetzten Schule gehört, können die Behörden Max und Kicham dazu bewegen, einen verzweifelten, in höchstem Maße riskanten Rettungsversuch zu wagen, der auf wundersame Weise von der nützlichen Tatsache begünstigt zu sein scheint, dass Jimmy Davis den widerspenstigen Theo van Gogh mittlerweile offiziell zum Schutzengel Max Kohns erhoben hat, damit er sich in dieser ungewohnten Position für die höheren Weihen des Eintritts ins Himmelreich bewähren könne.

Aber er liebte! Siddharta lernte durch die Liebe zu seinem Sohn, was Liebe war. Vielleicht hätte Theo ein liebevoller Künstler werden können wie der entfernte Onkel Vincent, wenn ihm etwas mehr Zeit vergönnt gewesen wäre. Aber Boujeri hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Der Scheißmarokkaner mit dem Messer.

Leon de Winter spielt auf virtuose, äußerst humorvolle und deutlich erkennbar gut aufgelegte Art und Weise mit dem Genre des Thrillers. Dabei überrascht er besonders mit seiner neu gewonnenen empathischen Menschenfreundlichkeit und sarkastischen Selbstreflexion, die am Beispiel der meisten seiner zahlreichen, höchst unterschiedlichen Protagonisten gemeinsam zu ebenso fesselnden wie treffenden Charakterzeichnungen führen. Was aber fast ebenso wichtig erscheint: gleichsam geschützt durch die genretypischen Mechanismen kann der Autor ungestört seine berühmt-berüchtigten rechtslastigen Theorien vorm Leser ausbreiten, ohne dass sich dieser davon gestört fühlen muss, kann er sie doch als spannenden Hintergrund und Mittel zum Zweck seiner Unterhaltung abtun, wie man auch die gefährliche Weltsicht eines allerdings in der Tat eindimensionalen Tom Clancy einfach ignoriert.

Leon de Winter


Die größte, möglicherweise sogar beabsichtigte Irritation bei der Lektüre von Leon de Winters neuem Roman ergibt sich jedoch aus dem Missverhältnis zwischen der Charakterisierung der Mitglieder unserer westlichen Gesellschaft auf der einen Seite sowie der islamistischen Täter auf der anderen Seite. Während de Winter die Protagonisten aus unserem Kulturkreis treffend als widersprüchliche, jedoch aufgeklärte Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen beschreibt, bleiben die größtenteils ebenfalls in unserer Kultur aufgewachsenen islamischen Migrantenkinder seltsam blutleer und in ihren Motiven für den Leser kaum verständlich.

Das gilt vor allem für die eifrig-disziplinierten Fußballer des Amsterdamer Vorstadtklubs, die teilweise vor vielversprechenden Profikarrieren stehen und dennoch ihr Leben aufs Spiel setzen, aber auch für den verurteilten van-Gogh-Attentäter Mohammed Boujeri, in dessen Kopf sich de Winter gleich mehrfach dokumentarisch einzunisten versucht: zwar bedient er sich dazu verbürgt-authentischer Formulierungen aus dessen wahnsinnigem Bekennerschreiben, vermag uns dabei tatsächlich auch immer wieder intellektuell zu packen, bleibt aber dennoch im Ergebnis wenig überzeugend. Hier wäre ein wissenschaftlich fundiertes Psychogramm nicht nur hilfreicher, sondern vermutlich auch die einzig zulässige Herangehensweise gewesen.

Allahu akbar. Darum geht es. Darum kreist das Universum. Alles. Das Leben. der Tod. Alles ist dem unterworfen. Allahu akbar.“
Kichie dachte: Er ist verrückt. Boujeri kann nicht leben. Er weiß nicht, wie man lebt. Er weiß nicht, wie man mit Glück und Unglück umgeht. Er weiß nicht, wie man sich zu entscheiden und die Frückte zu ernten und sein Wort einzulösen hat. Er hat ein Buch. Das Buch trifft die Entscheidungen für ihn und hat ihn zu dem Mord an diesem komischen van Gogh angetrieben.

Am Ende überwiegt jedoch der glänzende Eindruck eines überdurchschnittlich spannenden, in hohem Maße ungewöhnlichen, geistreichen und unkonventionellen Thrillers, eines mutigen Gedankenspiels um die aktuellen Herausforderungen unserer westlichen Demokratien – und des möglicherweise ersten überzeugenden Esoterik-Thrillers der Literaturgeschichte. Ist es zuviel gesagt, der ehrgeizige Autor habe hier, indem er von seinen höheren literarischen Ansprüchen einen Schritt zurück tritt, zu seiner eigentlichen schriftstellerischen Bestimmung gefunden? Die Art jedenfalls, wie er seinen einstigen Feind Theo van Gogh, auf dessen Tod er dereinst „ein gutes Glas Wein“ zu trinken versprach, am Ende seines Romans in einer bewegenden, geradezu poetischen Szene literarisch zu umarmen vermag, ist eine große, kaum zu ermessende persönliche Leistung, für die man ihm gar nicht genug Lob ausprechen kann.

„Ein gutes Herz“, aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, erschienen bei Diogenes, 505 Seiten, € 22,90

1 Kommentar:

  1. Ich entschuldige mich bei Leon de Winter - das Leben hat seine literarische Fantasie bestätigt:

    http://www.spiegel.de/politik/ausland/ex-nationalspieler-und-islamist-burak-karan-wurde-in-syrien-getoetet-a-934142.html

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