In
seinem möglicherweise besten und unterhaltsamsten Roman bislang
verblüfft der streitbare niederländische Schriftsteller Leon de
Winter mit zwei höchst erfreulichen erzählerischen Neuerungen, die
für sein bisheriges, eher von selbstbezogenem Zynismus geprägtes
Werk nicht gerade charakteristisch scheinen: zum einen beweist er
darin ein ungewohnt hohes Maß an schmerzensreicher, altersmilder
Selbsterkenntnis, was andererseits offensichtlich ursächlich dazu
führte, dass er nun – wie er wiederholt im Verlauf seines neuen
Buches betont – nicht mehr davor zurückschreckte das zu tun, was
er sich insgeheim schon immer gewünscht habe, aber was ein
literarisch ambitionierter Autor niemals tun dürfe, nämlich einen
(beinahe) lupenreinen Thriller zu schreiben – für dieses Genre
habe er, auch in seinem pathologischen Leseverhalten, schon immer ein
öffentlich bewusst uneingestandene Schwäche gehabt.
Natürlich
ist „Ein gutes Herz“ am Ende doch kein konventioneller Thriller
geworden, was wiederum eine gute Nachricht ist: nicht nur für den
Leser, sondern ganz besonders auch für die Reputation Leon de
Winters. Virtuos schlüpft der aufgrund seiner rechtskonservativen
Positionen umstrittene Autor dabei in die Perspektive zahlreicher
real existierender und fiktiver Personen und macht sich als frisch
von seiner Frau, der bekannten Schriftstellerin Jessica Durlacher,
Verlassener selbst zu einer der prominentesten Nebenfiguren seines
Buches. Wem wir das alles zu verdanken haben, unterstreicht er dabei
unmissverständlich im exklusiven Nachwort zur deutschen Ausgabe:
Ich
wollte eigentlich ein anderes Buch schreiben, einen regelrechten
Thriller, aber Theo machte mir einen Strich durch die Rechnung. Er
dirigierte mich zu dem Roman, der schließlich das Licht der Welt
erblickte. Dafür danke ich Theo (wo immer er auch sein mag).
Gemeint
ist sein jahrzehntelanger Intimfeind, der ebenfalls höchst
umstrittene Filmemacher Theo van Gogh, der am 2. November 2004 auf
offener Straße in Amsterdam von dem marrokanisch-niederländischen
Islamisten Mohammed Boujeri gleich auf dreifache Weise hingerichtet
wurde: denn nachdem dieser den Regisseur des kurz zuvor erschienenen,
bewusst polarisierenden, sogenannten „islamkritischen“ Films
„Submission“ vom Fahrrad geschossen hatte, schnitt er ihm
anschließend die Kehle durch und befestigte sein fünfseitiges
Bekennerschreiben mit einem Messer am Körper seines Opfers.
Boujeri
rief: „Was guckst du?“
Der
Passant war zwar ein bescheidener Salaryman, aber er traute sich,
einen Kommentar abzugeben:
„Das
kannst du doch nicht machen!“
So
sagte ein Amsterdamer das. Der rief nicht: Du Schuft, du
Nichtswürdiger, du Teufel! Nein, der rief: „Das kannst du doch
nicht machen“, als ginge es um einen Akt von Vandalismus, der ihn
irritierte.
Van
Gogh hatte über Jahrzehnte einen mit großer Vehemenz ausgetragenen
öffentlichen Privatkrieg gegen de Winter und Jessica Durlacher
geführt, unter anderem im Rahmen einer Fernseh-Talkshow
geschmackloserweise behauptet, jener sammele Stracheldraht aus den
ehemaligen deutschen Konzentrationslagern, ja lasse sich diesen sogar
beim „Treblinka-Liebesspiel“ von seiner Frau um den Penis
wickeln. Den haltlosen Vorwurf, de Winter vermarkte in seinen Büchern
lediglich publikumswirksam sein Judentum, wiederholte er im Verlauf
von Jahrzehnten immer wieder.
„Es
ist Scheiße, aber es ist auch Stoff für ein Buch.“
Nun
also, und das ist das erstaunlichste an Leon de Winters Wandlung, ist
Theo van Gogh nicht nur der direkte Auslöser eines wirklich
gelungenen Romans, sondern auch einer dessen wesentlicher
Protagonisten: denn mit seinem Ableben, Aufsteigen der Seele und
jahrelangen körperlosen Verharren bei Zigaretten und Whiskey im
trostlosen kasernenhaften Wartesaal zum Einlass ins Himmelreich
christlich-jüdischer Ausprägung lässt Leon de Winter sein Buch auf
unnachahmliche Art und Weise beginnen.
Theo van Gogh |
Da
enfant terrible Theo sich über Jahre hinweg als absolut
resistent dagegen erweist, sein irdisches Leben loszulassen und zu
einer neuen Stufe des Bewusstseins vorzudringen, bekommt er im
Vorsaal zum Himmel einen persönlichen Coach zugewiesen, der ihm von
Gottes Gnaden eine gewisse grundsätzliche Herzensbildung und
menschliche Empathie einimpfen soll.
Theos
jetziger Berater hieß Jimmy Davis. Er war hartnäckiger als die
ganze Batterie von Vorgängern, die Theo schon verschlissen hatte.
Jimmy Davis. Ein attraktiver Schwarzer. Immer hübsch postmodern in
Schwarz gekleidet – so zumindest hätte Theos Urteil gelautet, wenn
er sich denn einen optischen Eindruck von ihm hätte verschaffen
können.
Gestern
hatte Jimmy Davis gefragt: „Was willst du, Theo?“
„Meinen
Körper“, hatte Theo geantwortet.
„Das
schwere Ding mit all dem Fett?“
Der
ehrwürdige Engel Jimmy Davis wiederum ist ein erst vor Jahresfrist
an einem Hirntumor verstorbener amerikanischer Franziskanermönch,
der seinem klösterlichen Gelübde auf sexuelle Abstinenz stets mit
libidinöser Leidenschaft untreu gewesen ist und dessen Herz nun im
Leib des ehemaligen Gangsters Max Kohn schlägt, welcher einst mit
seinem marokkanischen Partner und Handlanger Kicham Ouaziz den
gesamten Rauschgifthandel der Niederlande kontrolliert hatte, nach
einem Deal mit der niederländischen Regierung aber freies Geleit ins
Ausland zugesichert bekam und sich nun, inspiriert durch das in jeder
Hinsicht gute Herz seines Organspenders, auf dem Weg der
irdischen Läuterung befindet.
So
weit, so kompliziert: Kohns große unvergessene Liebe und langjährige
Lebensgefährtin Sonja Verstraet ist seit allerneuestem mit dem
ersten Finanzier seiner krummen Geschäfte, dem Schriftsteller Leon
de Winter liiert, hatte aber – auf der unsteten, panikartigen
Flucht vor Max – auf der karibischen Insel Hispaniola auch eine
monatelange unbeschwerte Affäre mit Jimmy Davis. Als Max bei der
Beerdigung von Jimmys Schwester nun auf diese merkwürdige, allein
durch Zufall kaum zu erklärende Dreiecksverbindung aufmerksam wird,
begibt er sich unverzüglich in seine alte Heimat, um die
verschreckte Sonja um eine Unterredung zu bitten.
Eines
wußte Kohn mit Sicherheit: Er hatte das Herz nicht verdient.
Währenddessen
wird Amsterdam von einer perfiden Serie von drei zeitlich so präzise
synchronisierten islamistisch motivierten Anschlägen heimgesucht,
dass die überrumpelten Behörden kaum eine Chance haben, die Fäden
selbst wieder in die Hand zu bekommen: die Attentäter, eine
komplette Fußballmannschaft von marrokanischstämmigen Jugendlichen,
polizeilich bislang nicht auffällig geworden und unumstrittene
Tabellenführer ihrer Spielklasse, sprengen zunächst eine Tiefgarage
unter der Oper in die Luft, bringen wenig später ein
Passagierflugzeug in ihre Gewalt und besetzen anschließend, schwer
bewaffnet, eine Grundschule im Amsterdamer Prominentenviertel.
Natürlich
gibt es im faszinierenden Kosmos von Leon de Winters geradezu
fiebererregend spannendem literarischen Thriller auch eine
überraschende Querverbindung in das obskure Milieu der Attentäter:
deren Anführer, Mannschaftskapitän und Mastermind Sallie entpuppt
sich nämlich als der fehlgeleitete Sohn von Max Kohns Freund und
Geschäftspartner Kicham Ouaziz, einem sich vom Islam und allem
Arabischen bewusst distanzierenden Berber, der derzeit noch für
einen doppelten Rachemord an Konkurrenten im Rauschgiftgeschäft im
Gefängnis sitzt.
Würde
Sallie mit den Folgen seiner Wut leben können? Denn alles drehte
sich um Wut, das wurde ihm jetzt bewusst. [...] Man hatte ihm hier
zwar Chancen eröffnet, er hatte eine passable Ausbildung erhalten,
aber dieses Land war ihm zutiefst fremd. Die Brücke war prächtig.
Er würde sie zerstören.
Da
Max' und Sonjas gemeinsamer zehnjähriger Sohn Natan zu den Geiseln
in der besetzten Schule gehört, können die Behörden Max und Kicham
dazu bewegen, einen verzweifelten, in höchstem Maße riskanten
Rettungsversuch zu wagen, der auf wundersame Weise von der nützlichen
Tatsache begünstigt zu sein scheint, dass Jimmy Davis den
widerspenstigen Theo van Gogh mittlerweile offiziell zum Schutzengel
Max Kohns erhoben hat, damit er sich in dieser ungewohnten Position
für die höheren Weihen des Eintritts ins Himmelreich bewähren
könne.
Aber
er liebte! Siddharta lernte durch die Liebe zu seinem Sohn, was Liebe
war. Vielleicht hätte Theo ein liebevoller Künstler werden können
wie der entfernte Onkel Vincent, wenn ihm etwas mehr Zeit vergönnt
gewesen wäre. Aber Boujeri hatte ihm einen Strich durch die Rechnung
gemacht. Der Scheißmarokkaner mit dem Messer.
Leon
de Winter spielt auf virtuose, äußerst humorvolle und deutlich
erkennbar gut aufgelegte Art und Weise mit dem Genre des Thrillers.
Dabei überrascht er besonders mit seiner neu gewonnenen empathischen
Menschenfreundlichkeit und sarkastischen Selbstreflexion, die am
Beispiel der meisten seiner zahlreichen, höchst unterschiedlichen
Protagonisten gemeinsam zu ebenso fesselnden wie treffenden
Charakterzeichnungen führen. Was aber fast ebenso wichtig erscheint:
gleichsam geschützt durch die genretypischen Mechanismen kann der
Autor ungestört seine berühmt-berüchtigten rechtslastigen Theorien
vorm Leser ausbreiten, ohne dass sich dieser davon gestört fühlen
muss, kann er sie doch als spannenden Hintergrund und Mittel zum
Zweck seiner Unterhaltung abtun, wie man auch die gefährliche
Weltsicht eines allerdings in der Tat eindimensionalen Tom Clancy
einfach ignoriert.
Leon de Winter |
Die
größte, möglicherweise sogar beabsichtigte Irritation bei der
Lektüre von Leon de Winters neuem Roman ergibt sich jedoch aus dem
Missverhältnis zwischen der Charakterisierung der Mitglieder unserer
westlichen Gesellschaft auf der einen Seite sowie der islamistischen
Täter auf der anderen Seite. Während de Winter die Protagonisten
aus unserem Kulturkreis treffend als widersprüchliche, jedoch
aufgeklärte Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen
beschreibt, bleiben die größtenteils ebenfalls in unserer Kultur
aufgewachsenen islamischen Migrantenkinder seltsam blutleer und in
ihren Motiven für den Leser kaum verständlich.
Das
gilt vor allem für die eifrig-disziplinierten Fußballer des
Amsterdamer Vorstadtklubs, die teilweise vor vielversprechenden
Profikarrieren stehen und dennoch ihr Leben aufs Spiel setzen, aber
auch für den verurteilten van-Gogh-Attentäter Mohammed Boujeri, in
dessen Kopf sich de Winter gleich mehrfach dokumentarisch einzunisten
versucht: zwar bedient er sich dazu verbürgt-authentischer
Formulierungen aus dessen wahnsinnigem Bekennerschreiben, vermag uns
dabei tatsächlich auch immer wieder intellektuell zu packen, bleibt
aber dennoch im Ergebnis wenig überzeugend. Hier wäre ein
wissenschaftlich fundiertes Psychogramm nicht nur hilfreicher,
sondern vermutlich auch die einzig zulässige Herangehensweise
gewesen.
„Allahu
akbar. Darum geht es. Darum kreist das Universum. Alles. Das Leben.
der Tod. Alles ist dem unterworfen. Allahu akbar.“
Kichie
dachte: Er ist verrückt. Boujeri kann nicht leben. Er weiß nicht,
wie man lebt. Er weiß nicht, wie man mit Glück und Unglück umgeht.
Er weiß nicht, wie man sich zu entscheiden und die Frückte zu
ernten und sein Wort einzulösen hat. Er hat ein Buch. Das Buch
trifft die Entscheidungen für ihn und hat ihn zu dem Mord an diesem
komischen van Gogh angetrieben.
Am
Ende überwiegt jedoch der glänzende Eindruck eines
überdurchschnittlich spannenden, in hohem Maße ungewöhnlichen,
geistreichen und unkonventionellen Thrillers, eines mutigen
Gedankenspiels um die aktuellen Herausforderungen unserer westlichen
Demokratien – und des möglicherweise ersten überzeugenden
Esoterik-Thrillers der Literaturgeschichte. Ist es zuviel gesagt, der
ehrgeizige Autor habe hier, indem er von seinen höheren
literarischen Ansprüchen einen Schritt zurück tritt, zu seiner
eigentlichen schriftstellerischen Bestimmung gefunden? Die Art
jedenfalls, wie er seinen einstigen Feind Theo van Gogh, auf dessen
Tod er dereinst „ein gutes Glas Wein“ zu trinken versprach, am
Ende seines Romans in einer bewegenden, geradezu poetischen Szene
literarisch zu umarmen vermag, ist eine große, kaum zu ermessende
persönliche Leistung, für die man ihm gar nicht genug Lob
ausprechen kann.
„Ein gutes Herz“, aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, erschienen
bei Diogenes, 505 Seiten, € 22,90
Ich entschuldige mich bei Leon de Winter - das Leben hat seine literarische Fantasie bestätigt:
AntwortenLöschenhttp://www.spiegel.de/politik/ausland/ex-nationalspieler-und-islamist-burak-karan-wurde-in-syrien-getoetet-a-934142.html