Jerusalem

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Montag, 23. September 2013

„Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ von Shani Boianjiu

Immer wieder entpuppen sich scheinbar ambitionierte, an guter Literatur interessierte Verlage leider als das genaue Gegenteil dessen, als was sie sich dem feinsinnigen, interessierten Leser gegenüber nur allzu gern präsentieren, nämlich als knallhart kalkulierende Wirtschaftsunternehmen, die den möglichst schnellen kommerziellen Erfolg eines Buches deutlich über dessen literarische Qualitäten stellen, auf die sie doch mit den Mitteln eines guten Lektorats direkten Einfluss hätten nehmen können.

Anders jedenfalls lässt es sich kaum erklären, warum im Falle der jungen und talentierten, in englischer Sprache debütierenden israelischen Schriftstellerin Shani Boianjiu (geboren 1987) ein in Wahrheit lediglich aus einigen in der Tat sehr gelungenen, in Stimmung und Ton sehr präzise beobachteten, aber eben auch aus zahlreichen allenfalls mittelmäßigen Erzählungen bestehendes Buch mit dem prominenten Rückenwind der „5 Under 35“-Nominierung der New Yorker Autorin Nicole Krauss als Roman veröffentlicht werden musste, das – wenn man es um einiges gekürzt und um andere Themenkreise erweitert hätte – als großartige Sammlung von Kurzgeschichten einer viel versprechenden neuen Autorin hätte durchgehen können.



Am Anfang dieses Tages dachte ich, vielleicht würde etwas passieren, und ich könnte am Ende mit meiner Mutter zu Hause bleiben, aber am Ende passierte nichts. Am Vormittag kauften wir Socken und Schuhcreme. Am Nachmittag fuhren wir mit dem Bus zum Bus, der mich zur Zuteilungsstation fuhr. Wir stritten uns eine Weile. Dann sagte ich, ich würde schon klarkommen. Sie bürstete mir weiter die Haare und hatte die Haarbürste noch in der Hand, als ich in den Bus stieg. Durchs Busfenster sah ich, wie sie auf dem Gehweg stand und ihre dunklen Hände die Bürste festhielten. Dann gab der Fahrer Gas, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Und das war der Anfang.

Shani Boianjius in den USA von Kritik und Publikum begeistert aufgenommenes, nach derzeitigem Stand in nicht weniger als 23 Ländern erscheinendes Buch mit dem anspielungsreichen, möglicherweise zynisch gemeinten, möglicherweise poetischen Titel „Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ erzählt mit von Kapitel zu Kapitel wechselnder Perspektive vom sinnlosen Weg dreier israelischer Mädchen, allesamt Schulfreundinnen aus einem namenlosen Industriestädtchen im Norden Israels, innerhalb der israelischen Armee im Rahmen ihres obligatorischen zweijährigen Militärdienstes nach dem Schulabschluss.

Sie nennen die anderen Soldatinnen „deine Freundinnen“. Ich hasse das. Das sind andere Soldatinnen, nicht meine Freundinnen. Sogar meine Mutter hat gesagt, zur Armee gehst du nicht, um Freundinnen zu finden. Lass dir nichts vormachen. Du siehst ja, was mit Dan passiert ist.

Die Autorin bedient sich dabei einer unverkennbar-eigenständigen, von jugendlichem Slang und Humor gleichermaßen getragenen Sprache, die in den besten Momenten, vor allem zu Beginn des Buches, unverbraucht-authentisch erscheint, sich dann aber bald im sprachlich nicht überzeugend vollzogenen Perspektivwechsel zwischen den einzelnen drei Rekrutinnen schnell abnutzt und sich später, im ständig mühseliger werdenden Leseeindruck, nach etwa hundert Seiten in einem unklaren, ärgerlichen und nicht angemessenen, beklagenswerten Grenzbereich zwischen Infantilität und Debilität einpendelt.

Das ist ausgesprochen schade, denn die Empathie der Autorin für ihre Protagonistinnen, die ohne jeden Zweifel individualisierte Spiegel einer unfreiwilligen kollektiven Erfahrung aller israelischen Frauen darstellen, ist von geradezu entwaffnender Ehrlichkeit und Tiefe. Die Überforderung der jungen Schulabgängerinnen in einem Staat, der charakterlich unreife junge Mädchen, anstatt sie in ein selbstbestimmtes eigenverantwortliches Leben zu entlassen, sie wie selbstverständlich dem militärischen Dienst an Checkpoints, an der Grenze oder in den besetzten Gebieten aussetzt, beginnt schon bei den Vorbereitungen auf die Abschlussprüfung im Fach Geschichte:

Benutzen Panzerfaust-Kinder die kleinen Panzerfäuste, die keinen Granatwerfer brauchen?“, fragt Avishag, bevor wir vom Handymast weggehen.
Nein“, sage ich. „Was du meinst, sind die sowjetischen Handgranaten, die auch Panzerfaust genannt werden, aber im 'Frieden für Galiläa'-Krieg wurden die schon nicht mehr verwendet. Du denkst an die Vergangenheit. Du kannst die ganzen Definitionen nachher bei mir abschreiben.“

Shani Boianjius Buch ist vor allem voller zitatwürdig-gelungener Abschnitte, die auf ebenso beiläufige wie eindrückliche Art und Weise verdeutlichen, wie die israelische Jugend im Rahmen ihres obligatorischen Militärdienstes systematisch mit Erfahrungen sowie mit obskurem militärischem Wissen konfrontiert wird, von denen man sich als geistig wacher und politisch denkender Mensch mit Recht wünscht, dass kein Bürger eines demokratischen Staates jemals damit belastet werden sollte – auch unter der wohl bekannten, richtigen Prämisse nicht, dass Israel ein bedrohtes Land ist. Ein Land aber auch, in dem der überwiegende Teil der Bevölkerung es ausdrücklich begrüßt, dass seit einer Gesetzesänderung im vergangenen Jahr ultraorthodoxe Juden den Militärdienst nicht mehr wie bisher aus religiösen Gründen verweigern dürfen.

Das Aufwachen war jeden Morgen eine Tragödie, als ob man die eigene Mutter umgebracht hatte, oder seine Jungfräulichkeit einem Jungen geschenkt hatte, der nur einmal mit einem schlief, und was man getan hatte, merkte man erst, wenn man gezwungen war, die Augen zu öffnen.

„Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ ist ohne jeden Zweifel ein Buch, das Augen zu öffnen vermag. Und die in dem zitierten Ausschnitt verwendete Metapher der Jungfräulichkeit ist allumfassend anwendbar, denn das israelische Militär ist für die jungen Rekruten eine gefährliche Spielwiese, sich erstmals unter dafür gänzlich ungeeigneten Rahmenbedingungen selbst zu erproben – und eine potenziell tödliche für sie selbst wie für andere. Zum selben Thema hat die israelische Autorin Michal Zamir übrigens unter dem Titel „Das Mädchenschiff“ schon vor sechs Jahren einen sehr viel reiferen und in vielerlei Hinsicht entschiedeneren Roman vorgelegt.

Um einen unmittelbaren Eindruck zu bekommen, was der Militärdienst mit der Psyche und der Persönlichkeit der davon betroffenen jungen Menschen in Israel anzurichten vermag, ist Shani Boianjius Buch eine gute literarische Ergänzung zu politischen Büchern wie dem authentischen „Breaking the Silence“ (2012) gelungen. Bei allen Vorbehalten gegenüber der vom amerikanischen Verlag verantworteten, nicht fertig ausgearbeiteten und sich letztlich mit viel zu wenig zufrieden gebenden Form ihres „Romans“ lässt ihr Debüt dennoch deutlich aufhorchen und darf durchaus als kapitales literarisches Versprechen aufgefasst werden.

„DasVolk der Ewigkeit kennt keine Angst“, aus dem Englischen von Maria Hummitzsch und Ulrich Blumenbach, erschienen bei Kiepenheuer &Witsch, 332 Seiten, € 19,99

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