Die alte Streitfrage unter
Historikern und Philosophen, ob sich Geschichte wiederhole: unter
totalitären Bedingungen, wie sie im Iran nicht erst seit der
islamischen Revolution gegen das Schah-Regime im Jahr 1979 herrschen,
werden besonders in der von Inkompetenz und Korruption ausgelösten
eskalierenden wirtschaftlichen Depression der letzten Jahre und unter
dem angesichts der reichen Bodenschätze des Landes und einer
außergewöhnlich gut ausgebildeten breiten Mittelschicht vollkommen
unnötigen Elend der Bevölkerung nicht nur allgemeine Grundzüge der
Funktionsweisen von Diktaturen sichtbar. Die sich in blinder
Selbstüberschätzung grausam-blöde gegen die eigenen Ressourcen
richtende staatlich santionierte Gewalt bringt auch immer wieder
Helden hervor, die sich der unausweichlich scheinenden Resignation
und Fügung in die Verhältnisse auch unter Todesgefahr mit aller
Kraft verweigern.
Es ist also keine Überraschung,
dass Wolf Biermann – als Ikone des unschuldig verfolgten,
unerschrockenen Sängers – am 15. Juni 2012 zu den fünfzig
prominenten Erstunterzeichnern eines Solidaritätsaufrufs deutscher
Kulturschaffender mit dem seit 2005 in Deutschland lebenden
iranischen Sänger und Lyriker Shahin Najafi zählte, der zuvor, nur
wenige Tage nach der Veröffentlichung seines satirischen Songs
„Naghi“ im Internet, einer im Vergleich mit anderen seiner Lieder
eher harmlos-humoristischen Anrufung des für seinen Humor bekannten
zehnten Imams der Schiiten aus dem Neunten Jahrhundert, von der
iranischen Geistlichkeit mit einem Todesurteil sowie einem Kopfgeld
von 100.000 Dollar belegt worden war.
Naghi, ich beschwör dich beim
Ausmaß der Sanktionen
Dem steigenden Dollarkurs und
dem Gefühl der Demütigung
Bei dem Imam aus Pappe
Bei dem Kind, das schon im
Mutterleib nach dem heiligen Ali schreit
Beim Religionsunterricht
während der Nasen-OP
Beim Imam, bei allen
Gebetsketten und Gebetsteppichen made in China
Beim Finger von Sheys Rezaei
Beim religiösen Fußball und
der Religion im Aus
Oh Naghi, nun da Mahdi
schläft, rufen wir dich
Oh Naghi, mögest du
wiederauferstehen
Oh Naghi, wir stehen bereit
für dich, in Leichentüchern
Naghi, ich beschwör dich bei
der Liebe und Viagra
Bei den weit gespreizten
Beinen der Ergebenen
Bei Fladenbrot, Hühnchen,
Fleisch und Fisch
Bei den Brüsten aus Silikon
und geflickten Jungfernhäutchen
Naghi, bei Golshiftehs Titten
Bei der verlorenen Ehre, die
wir eigentlich nie hatten...
Es hat immer etwas Wunderbares,
fundamental Erhellendes, wenn man ganz unverhofft und mit den
verfeinerten Mitteln der Kunst, die dankbare Gelegenheit bekommt, ein
Land samt seiner Kultur und seiner Bewohner auf gänzlich andere Art
und Weise kennenlernen zu dürfen als man es aus dem üblichen, von
den Medien vermittelten Zerrbild bereits zu kennen vermeint. Seit der
Islamischen Revolution vor mehr als dreißig Jahren ist der Iran im
Bewusstsein des Westens vor allem als gern beschworenes
Negativbeispiel für wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit
sowie insbesondere für religiösen Fanatismus missbraucht worden,
als finster-mittelalterliche Umkehrung der sogenannten
Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Das scheinbar
schlimmste jedoch: die Islamische Republik will die Atombombe!
Dieses gefährliche kulturelle
Ängste gebündelt schürende Feindbild setzt allerdings vollkommen
illegitimerweise Anschauungen der Führungsriege des totalitären
Regimes mit den im pluralistischen Sinne unzähligen
unterschiedlichsten möglichen Auffassungen seiner Bürger gleich,
wodurch die Existenz einer eigenständigen denkenden und bewusste
individuelle Entscheidungen treffenden Persönlichkeit kategorisch
verneint wird. Diese Vorstellung aber ist vollkommen absurd.
Wenn du die Augen öffnest und
dich umschaust
Siehst du nur Leichen, die
alle auf dich einschlagen
Auch von deinen Eltern hast du
eines Tages genug
Weil sie wollen, dass du ein
Schaf wirst wie sie
Aber durch meine Adern strömt
das Blut einer wilden Generation
Die an das, was du uns
anbietest, nicht mehr glaubt [...]
Hadji, an dir hängt eine
Menge Bart wie Wolle herum
Mit der Gebetskette in der
Hand kriegst du jede für die Zeit-Ehe rum
Einen guten
unverstellt-lebenshungrigen Einblick in den wilden unangepassten Iran
bekommt man hingegen durch den halbdokumentarischen Spielfilm
„Perserkatzen kennt doch keiner“ von Bahman Ghobadi über zwei
illegale Rockmusiker in Teheran, der bei den Filmfestspiellen von
Cannes im Jahr 2009 völlig zu Recht mit einen Spezialpreis der Jury
ausgezeichnet wurde. Aber auch in dem überraschenden Roman „Der geheime Basar“ des israelischen Schriftstellers Ron Leshem, dem
vielleicht ersten mittels Facebook-Freundschaften entstandenen Buch
der Literaturgeschichte, erhalten wir tiefe Einblicke in die
zahlreichen Wunder des unbekannten Iran – mit seinen geheimen
Partys, illegalen Konzerten, Sex und Drogen.
Der Kölner Verlag Kiepenheuer &
Witsch hat dem seit vielen Jahren in der Rheinmetropole lebenden
Sänger und Lyriker Shahin Najafi und seinem musikalisch-politischen
Kampf unter dem Titel „Wenn Gott schläft“ nun ein Taschenbuch
gewidmet, das zahlreiche Songtexte, Gedichte sowie biographische
Prosatexte des verfolgten Musikers erstmals in deutscher Sprache
versammelt, übersetzt von dem Soziologen M.H.Allafi und
sachkundig-erhellend kommentiert von Omid Nouripour, dem langjährigen
Sprecher für Sicherheitspolitik der Grünen-Fraktion im deutschen
Bundetag.
Der Werdegang Shahin Najafis
überrascht dabei am meisten: denn obwohl der Islam in seiner Familie
traditionell keine besondere Rolle spielte, entwickelte der begabte
Jugendliche, wie er in einem längeren Text am Anfang des Buches sehr
eindrücklich beschreibt, ein so intensives Interesse an religiösen
Dingen, dass er bereits als Siebzehnjähriger nicht nur als
begnadeter Koran-Rezitator, sondern auch als große zukünftige
Hoffnung der lokalen Geistlichkeit seiner Heimatstadt Bandar Anzali
am Kaspischen Meer galt. Dass er dennoch kein Mullah geworden ist,
verdankt er dem beißenden Uringeruch im Gewand eines extra aus
Teheran angereisten hohen Geistlichen, der ihn, begeistert von seiner
„himmlischen“ und „göttlichen“ Rezitation, zur Belohnung zu
sich nach vorne gerufen hatte, dass er „neben ihm sitze“.
Nachdem er bei
Renovierungsarbeiten in der Moschee durch Zufall auf eine
Zeitungsnotiz mit dem Grabspruch des Dichters Sohrap Sepehri
(1928-1980) gestoßen war: „Wenn ihr nach mir sucht, sollt ihr das
sanft und behutsam tun, nicht dass das Porzellan meiner Einsamkeit
Risse bekommt“, begann er sich intensiv mit persischer Lyrik zu
beschäftigen, was eine graduelle und schließlich endgültige Abkehr
von Gott und der Religion zur Folge hatte. Seine weitere persönliche
und künstlerische Entwicklung beschreibt Najafi unter den gegebenen
politischen Umständen als geradezu zwangsläufig für einen geistig
hellwachen, lebenshungrigen Menschen im Iran, der mit offenen Augen
und kritischem Verstand sein Land betrachtet.
In seinen Texten und Gedichten
ist einerseits die unverstellt-rotzige, rebellische Sprache des Rap
sehr präsent, andererseits finden sich auch deutliche Anklänge an
die uralte persische Lyriktradition, die die intensive
Auseinandersetzung des Autors mit dieser altehrwürdigen Schule
verraten. Aber auch seine intensiven Kenntnisse der religiösen
Traditionen des Islam verleihen den Texten eine besondere
Wahrhaftigkeit und Authentizität, denn die Perspektive des
Sinnsuchers ist geblieben. Wo aber soll man noch Sinn finden, wenn
die kollektive Realität von Armut, Mord und Unterdrückung bestimmt
wird, das totalitäre Regime selbst vor Mord und Vergewaltigung nicht
zurückschreckt und insbesondere die gut ausgebildeten Frauen
systematisch unterdrückt und ihnen ein selbstbestimmtes Leben
vorenthält?
Als die Reformer plötzlich
Reformisten waren
Als die Revolutionäre klein
beigaben oder weniger geworden sind
Als die Bärte zu Bärtchen
wurden und die Wurzeln unter die Axt kamen
Als die Revolutionswächter
politische Geschäfte machten
Als Musiker wie Fereidoon an
einer Überdosis starben
Als zwanzig Millionen Stimmen
vom Winde verweht wurden
Als die Gewänder
schokoladenbraune, weiße und gelbe Farbe hatten
Als wir frei waren und die
Freiheit die Form von Schmerzen hatte
Als die Filmemacher
Schlagstöcke trugen
Es war kein Kino, es war ein
Zirkus, voller Geschenke und Blumen
Als du und die Trauer und die
Ironie, die traurige Ironie da waren
Als du und eine Herde von
durchgefallenen Gelehrten da waren
Als du und die Reue und
vorsichtige Gedichte da waren
Als du und der Gedanke auf
diese Welt zu pissen da waren
„Wenn Gott schläft“ – das
jedoch bleibt unausgesprochen – müssen wir selbst für gerechte
Verhältnisse sorgen. Die verfeinerte politische Anspielung, wie sie
die klassischen persischen Dichter früherer Jahrhunderte
notwendigerweise meisterhaft beherrschen mussten, wenn sie nicht die
Gunst ihrer fürstlichen Mäzene, ihr Einkommen und ihr Publikum
verlieren wollten, lehnt Najafi mit aller Entschiedenheit ab – und
er hat gute Gründe dafür: im Zeitalter des Internets können
Künstler und ihr Publikum auch über geographische Entfernungen von
tausenden von Kilometern mühelos zueinander finden.
Was an Shahin Najafis
mitreißend-engagierter, unmittelbar wesentlicher Lyrik jedoch am
meisten zu beeindrucken vermag, ist die wunderbare Tatsache, dass in
ihr die Sphäre der Politik, der umfangreiche Bereich des Privaten
und Persönlichen sowie die romantische und brüderliche Liebe
ähnlich wie in der Dichtung Nazim Hikmets eine kaum voneinander
abzugrenzende Einheit bilden. „Wenn Gott schläft“ ist ein
wichtiges, kaum hoch genug zu lobendes Buch, das unsere Wahrnehmung
des Iran und seiner Menschen nachhaltig zu verändern vermag.
„Wenn Gott schläft“, aus dem
Persischen von M.H. Allafi, mit einem Geleitwort von Günter Wallraff
sowie einem Vorwort und zahlreichen Erläuterungen von Omid
Nouripour, erschienen als KiWi Paperback, 160 Seiten, € 8,99
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