Jerusalem

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Donnerstag, 27. Juni 2013

„Wenn Gott schläft“ von Shahin Najafi


Die alte Streitfrage unter Historikern und Philosophen, ob sich Geschichte wiederhole: unter totalitären Bedingungen, wie sie im Iran nicht erst seit der islamischen Revolution gegen das Schah-Regime im Jahr 1979 herrschen, werden besonders in der von Inkompetenz und Korruption ausgelösten eskalierenden wirtschaftlichen Depression der letzten Jahre und unter dem angesichts der reichen Bodenschätze des Landes und einer außergewöhnlich gut ausgebildeten breiten Mittelschicht vollkommen unnötigen Elend der Bevölkerung nicht nur allgemeine Grundzüge der Funktionsweisen von Diktaturen sichtbar. Die sich in blinder Selbstüberschätzung grausam-blöde gegen die eigenen Ressourcen richtende staatlich santionierte Gewalt bringt auch immer wieder Helden hervor, die sich der unausweichlich scheinenden Resignation und Fügung in die Verhältnisse auch unter Todesgefahr mit aller Kraft verweigern.



Es ist also keine Überraschung, dass Wolf Biermann – als Ikone des unschuldig verfolgten, unerschrockenen Sängers – am 15. Juni 2012 zu den fünfzig prominenten Erstunterzeichnern eines Solidaritätsaufrufs deutscher Kulturschaffender mit dem seit 2005 in Deutschland lebenden iranischen Sänger und Lyriker Shahin Najafi zählte, der zuvor, nur wenige Tage nach der Veröffentlichung seines satirischen Songs „Naghi“ im Internet, einer im Vergleich mit anderen seiner Lieder eher harmlos-humoristischen Anrufung des für seinen Humor bekannten zehnten Imams der Schiiten aus dem Neunten Jahrhundert, von der iranischen Geistlichkeit mit einem Todesurteil sowie einem Kopfgeld von 100.000 Dollar belegt worden war.

Naghi, ich beschwör dich beim Ausmaß der Sanktionen
Dem steigenden Dollarkurs und dem Gefühl der Demütigung
Bei dem Imam aus Pappe
Bei dem Kind, das schon im Mutterleib nach dem heiligen Ali schreit
Beim Religionsunterricht während der Nasen-OP
Beim Imam, bei allen Gebetsketten und Gebetsteppichen made in China
Beim Finger von Sheys Rezaei
Beim religiösen Fußball und der Religion im Aus

Oh Naghi, nun da Mahdi schläft, rufen wir dich
Oh Naghi, mögest du wiederauferstehen
Oh Naghi, wir stehen bereit für dich, in Leichentüchern

Naghi, ich beschwör dich bei der Liebe und Viagra
Bei den weit gespreizten Beinen der Ergebenen
Bei Fladenbrot, Hühnchen, Fleisch und Fisch
Bei den Brüsten aus Silikon und geflickten Jungfernhäutchen
Naghi, bei Golshiftehs Titten
Bei der verlorenen Ehre, die wir eigentlich nie hatten...

Es hat immer etwas Wunderbares, fundamental Erhellendes, wenn man ganz unverhofft und mit den verfeinerten Mitteln der Kunst, die dankbare Gelegenheit bekommt, ein Land samt seiner Kultur und seiner Bewohner auf gänzlich andere Art und Weise kennenlernen zu dürfen als man es aus dem üblichen, von den Medien vermittelten Zerrbild bereits zu kennen vermeint. Seit der Islamischen Revolution vor mehr als dreißig Jahren ist der Iran im Bewusstsein des Westens vor allem als gern beschworenes Negativbeispiel für wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit sowie insbesondere für religiösen Fanatismus missbraucht worden, als finster-mittelalterliche Umkehrung der sogenannten Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Das scheinbar schlimmste jedoch: die Islamische Republik will die Atombombe!

Dieses gefährliche kulturelle Ängste gebündelt schürende Feindbild setzt allerdings vollkommen illegitimerweise Anschauungen der Führungsriege des totalitären Regimes mit den im pluralistischen Sinne unzähligen unterschiedlichsten möglichen Auffassungen seiner Bürger gleich, wodurch die Existenz einer eigenständigen denkenden und bewusste individuelle Entscheidungen treffenden Persönlichkeit kategorisch verneint wird. Diese Vorstellung aber ist vollkommen absurd.

Wenn du die Augen öffnest und dich umschaust
Siehst du nur Leichen, die alle auf dich einschlagen
Auch von deinen Eltern hast du eines Tages genug
Weil sie wollen, dass du ein Schaf wirst wie sie
Aber durch meine Adern strömt das Blut einer wilden Generation
Die an das, was du uns anbietest, nicht mehr glaubt [...]
Hadji, an dir hängt eine Menge Bart wie Wolle herum
Mit der Gebetskette in der Hand kriegst du jede für die Zeit-Ehe rum

Einen guten unverstellt-lebenshungrigen Einblick in den wilden unangepassten Iran bekommt man hingegen durch den halbdokumentarischen Spielfilm „Perserkatzen kennt doch keiner“ von Bahman Ghobadi über zwei illegale Rockmusiker in Teheran, der bei den Filmfestspiellen von Cannes im Jahr 2009 völlig zu Recht mit einen Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Aber auch in dem überraschenden Roman „Der geheime Basar“ des israelischen Schriftstellers Ron Leshem, dem vielleicht ersten mittels Facebook-Freundschaften entstandenen Buch der Literaturgeschichte, erhalten wir tiefe Einblicke in die zahlreichen Wunder des unbekannten Iran – mit seinen geheimen Partys, illegalen Konzerten, Sex und Drogen.

Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch hat dem seit vielen Jahren in der Rheinmetropole lebenden Sänger und Lyriker Shahin Najafi und seinem musikalisch-politischen Kampf unter dem Titel „Wenn Gott schläft“ nun ein Taschenbuch gewidmet, das zahlreiche Songtexte, Gedichte sowie biographische Prosatexte des verfolgten Musikers erstmals in deutscher Sprache versammelt, übersetzt von dem Soziologen M.H.Allafi und sachkundig-erhellend kommentiert von Omid Nouripour, dem langjährigen Sprecher für Sicherheitspolitik der Grünen-Fraktion im deutschen Bundetag.

Der Werdegang Shahin Najafis überrascht dabei am meisten: denn obwohl der Islam in seiner Familie traditionell keine besondere Rolle spielte, entwickelte der begabte Jugendliche, wie er in einem längeren Text am Anfang des Buches sehr eindrücklich beschreibt, ein so intensives Interesse an religiösen Dingen, dass er bereits als Siebzehnjähriger nicht nur als begnadeter Koran-Rezitator, sondern auch als große zukünftige Hoffnung der lokalen Geistlichkeit seiner Heimatstadt Bandar Anzali am Kaspischen Meer galt. Dass er dennoch kein Mullah geworden ist, verdankt er dem beißenden Uringeruch im Gewand eines extra aus Teheran angereisten hohen Geistlichen, der ihn, begeistert von seiner „himmlischen“ und „göttlichen“ Rezitation, zur Belohnung zu sich nach vorne gerufen hatte, dass er „neben ihm sitze“.

Nachdem er bei Renovierungsarbeiten in der Moschee durch Zufall auf eine Zeitungsnotiz mit dem Grabspruch des Dichters Sohrap Sepehri (1928-1980) gestoßen war: „Wenn ihr nach mir sucht, sollt ihr das sanft und behutsam tun, nicht dass das Porzellan meiner Einsamkeit Risse bekommt“, begann er sich intensiv mit persischer Lyrik zu beschäftigen, was eine graduelle und schließlich endgültige Abkehr von Gott und der Religion zur Folge hatte. Seine weitere persönliche und künstlerische Entwicklung beschreibt Najafi unter den gegebenen politischen Umständen als geradezu zwangsläufig für einen geistig hellwachen, lebenshungrigen Menschen im Iran, der mit offenen Augen und kritischem Verstand sein Land betrachtet.

In seinen Texten und Gedichten ist einerseits die unverstellt-rotzige, rebellische Sprache des Rap sehr präsent, andererseits finden sich auch deutliche Anklänge an die uralte persische Lyriktradition, die die intensive Auseinandersetzung des Autors mit dieser altehrwürdigen Schule verraten. Aber auch seine intensiven Kenntnisse der religiösen Traditionen des Islam verleihen den Texten eine besondere Wahrhaftigkeit und Authentizität, denn die Perspektive des Sinnsuchers ist geblieben. Wo aber soll man noch Sinn finden, wenn die kollektive Realität von Armut, Mord und Unterdrückung bestimmt wird, das totalitäre Regime selbst vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckt und insbesondere die gut ausgebildeten Frauen systematisch unterdrückt und ihnen ein selbstbestimmtes Leben vorenthält?

Als die Reformer plötzlich Reformisten waren
Als die Revolutionäre klein beigaben oder weniger geworden sind
Als die Bärte zu Bärtchen wurden und die Wurzeln unter die Axt kamen
Als die Revolutionswächter politische Geschäfte machten
Als Musiker wie Fereidoon an einer Überdosis starben
Als zwanzig Millionen Stimmen vom Winde verweht wurden
Als die Gewänder schokoladenbraune, weiße und gelbe Farbe hatten
Als wir frei waren und die Freiheit die Form von Schmerzen hatte
Als die Filmemacher Schlagstöcke trugen
Es war kein Kino, es war ein Zirkus, voller Geschenke und Blumen

Als du und die Trauer und die Ironie, die traurige Ironie da waren
Als du und eine Herde von durchgefallenen Gelehrten da waren
Als du und die Reue und vorsichtige Gedichte da waren
Als du und der Gedanke auf diese Welt zu pissen da waren

„Wenn Gott schläft“ – das jedoch bleibt unausgesprochen – müssen wir selbst für gerechte Verhältnisse sorgen. Die verfeinerte politische Anspielung, wie sie die klassischen persischen Dichter früherer Jahrhunderte notwendigerweise meisterhaft beherrschen mussten, wenn sie nicht die Gunst ihrer fürstlichen Mäzene, ihr Einkommen und ihr Publikum verlieren wollten, lehnt Najafi mit aller Entschiedenheit ab – und er hat gute Gründe dafür: im Zeitalter des Internets können Künstler und ihr Publikum auch über geographische Entfernungen von tausenden von Kilometern mühelos zueinander finden.

Was an Shahin Najafis mitreißend-engagierter, unmittelbar wesentlicher Lyrik jedoch am meisten zu beeindrucken vermag, ist die wunderbare Tatsache, dass in ihr die Sphäre der Politik, der umfangreiche Bereich des Privaten und Persönlichen sowie die romantische und brüderliche Liebe ähnlich wie in der Dichtung Nazim Hikmets eine kaum voneinander abzugrenzende Einheit bilden. „Wenn Gott schläft“ ist ein wichtiges, kaum hoch genug zu lobendes Buch, das unsere Wahrnehmung des Iran und seiner Menschen nachhaltig zu verändern vermag.

„Wenn Gott schläft“, aus dem Persischen von M.H. Allafi, mit einem Geleitwort von Günter Wallraff sowie einem Vorwort und zahlreichen Erläuterungen von Omid Nouripour, erschienen als KiWi Paperback, 160 Seiten, € 8,99

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