Auch beinahe siebzig Jahre nach
Kriegsende erscheint auf dem internationalen Buchmarkt immer noch
Jahr für Jahr eine beträchtliche Anzahl von neuen, bisher
unbekannten literarischen Berichten von unmittelbaren Zeugen des
organisierten Massenmords an den europäischen Juden durch
Nazi-Deutschland: zum Teil sind es Kinder und Enkel der direkten
Opfer, die das Schweigen über deren Leiden brechen, in manchen
Fällen werden versteckte Aufzeichnungen bei privaten
Renovierungsarbeiten oder in noch nicht ausgewerteten Archiven
gefunden, aber auch unmittelbar Betroffene entschließen sich
mitunter noch am Ende ihres Lebens dazu, gleichsam aus erster Hand
über den ihnen aufgezwungenen Weg Zeugnis abzulegen.
Wer allerdings angesichts der
enormen Fülle an detaillierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über
die Schoah allen Ernstes die Frage aufwirft, wozu wir noch weitere
Zeitzeugenberichte brauchen, sollte sich noch einmal dringend die
unbequeme, unleugbare Tatsache vor Augen führen, dass im Weltenbrand
des Zweiten Weltkriegs die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer
(39.000.000) die der militärischen nicht nur um fast zwei Drittel
übersteigt, sondern vor allem dass allein die Anzahl der ermordeten
Juden nach Zusammenführung sämtlicher heute zu Verfügung stehender
Quellen 6.000.000 vermutlich sogar noch übertreffen dürfte.
Um diese verstandesmäßig kaum
zu fassende Zahl dennoch wenigstens annähernd begreifen zu können,
ist es nicht nur nützlich, sondern geradezu unverzichtbar, sich mit
den persönlichen Zeugnissen der Betroffenen zu beschäftigen: es
geht hier um nicht weniger als 6.000.000 sinnlos ausgelöschte Leben,
viele davon fraglos unspektakulär, unauffällig, unambitioniert –
ganz gewöhnliche Lebensentwürfe von ganz gewöhnlichen
„Menschen-wie-du-und-ich“, deren einziges Ziel es war, in Liebe
und Einklang mit sich und der Welt zu leben.
Das Unfassbare am fabrikmäßig
organisierten Judenmord ist ja gerade die jedem humanistischen
Grundgedanken vehement zuwiderlaufende Konsequenz, mit der die
absurd-geisteskranke pseudophilosophische Herleitung der angeblichen
jüdischen Minderwertigkeit aus dem Ungeist des mitteleuropäischen
Nationalismus des Neunzehnten Jahrhunderts zunächst über die
theoretische Infragestellung jüdischen Lebens bis zur unmittelbaren
totalen physischen Vernichtung tatsächlich von den
Nationalsozialisten und ihren zahlreichen Handlangern durchgezogen
wurde.
Besonders aus der bitteren
Erkenntnis der jeglicher Definition von Menschlichkeit entzogenen
Perspektive der Nationalsozialisten als selbsternannte Richter über
Tod und Leben, Falsch und Richtig, Gut und Böse, muss man umso
deutlicher bekräftigen, dass jedes dieser mutwillig zerstörten
6.000.000 Leben es vor allem ohne jede Einschränkung verdient gehabt
hätte weitergelebt zu werden, in aller möglichen Unvollkommenheit
und Banalität, und demzufolge auch heute noch gehört zu werden. So
dürfen wir jeden Zeitzeugenbericht getrost als physisch-sichtbaren
Beitrag zur schönen, in Judentum und Christentum gleichermaßen
verbreiteten Vorstellung vom Buch des Lebens betrachten, in
das die Namen und Taten der Gerechten „bis in alle Ewigkeit“
eingeschrieben seien.
Der Name der tschechischen
bildende Künstlerin Helga Weissová-Hosková, geb. 1929 in
Prag, ist interessierten Lesern
bereits durch eine nachhaltig beeindruckende Buchveröffentlichung
aus dem Jahr 1998 bekannt, in der unter dem programmatischen Titel
„Zeichne, was du siehst“, der Aufforderung ihres mit großer
Wahrscheinlichkeit in Auschwitz ermordeten Vaters an die künstlerisch
begabte und intellektuell aufgeweckte Tochter anlässlich der
gemeinsamen Internierung im Konzentrationslager Theresienstadt im
Dezember 1941, nahezu sämtliche ihrer dort entstandenen
Kinderzeichnungen versammelt sind, auf denen die damalige Schülerin
mit beeindruckend-wachem Blick für die Details des Lageralltags das
alltägliche Grauen im von den Nazis bewusst beschönigend „Ghetto“
genannten Durchgangslager auf dem Weg in die Todeslager Auschwitz,
Treblinka, Sobibor und Majdanek wiedergibt. Ihr kindlich-naiver
Zeichenstrich erschreckt und beeindruckt den Betrachter dabei umso
mehr, da für ihn darin unmittelbar erfahrbar wird, dass dies alles,
was doch kein Kind jemals auch nur mit eigenen Augen bezeugen sollte,
Abertausenden von Kindern in der Schoah tatsächlich widerfahren ist.
Doch Helga Weissová-Hosková
führte seit dem Beginn der deutschen Okkupation in Prag und später
in Theresienstadt auch ein höchst aussagekräftiges persönliches
Tagebuch, welches sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz ihrem
aufgrund seiner exponierten Tätigkeit im Geschäftszimmer der
sogenannten „Ghettoverwaltung“ relativ weitreichende Protektion
genießenden Onkel übergab, der es gemeinsam mit ihren Zeichnungen
und Skizzen in einem geheimen Versteck im Lager einmauerte und nach
dem Krieg unversehrt wieder bergen konnte.
Ihre weitere Leidenszeit in
Auschwitz-Birkenau, im Messerschmidt-Flugzeugwerk Freiberg/Sachsen
sowie im zehntägigen unwahrscheinlichen Verlauf einer
kafkaesk-absurden Odyssee mit dem Zug, kurz hinter der sich stetig
vorwärtsschiebenden Frontlinie, und schließlich die letzten
Kriegstage im berüchtigten Lager Mauthausen, wo nur wenige Tage vor
Eintreffen ihres Transports die Vergasungen auf Druck des Roten
Kreuzes endgültig eingestellt worden waren, schrieb sie als
Vierzehnjährige nur wenige Wochen nach der Befreiung ebenfalls im
Tagebuchstil auf.
Diese Aufzeichnungen sind nun
erstmals gemeinsam mit einem Teil ihrer Zeichnungen in einem Buch
zusammengeführt worden: „Und doch ein ganzes Leben – Ein
Mädchen, das Auschwitz überlebt hat“. Darin ergibt sich umso mehr
das Bild eines talentierten, geistig hellwachen, mutigen jungen
Mädchens das sich seines so umfassend niemals ausgesprochenen
väterlichen „Auftrags“ vollkommen bewusst zu sein scheint und
das während aller Kränkungen, Demütigungen und im Verlaufe seines
verzweifelten, ihr von den Nazis grausam aufgezwungenen Kampfs ums
Überleben dennoch niemals den Kern ihrer Persönlichkeit
preiszugeben bereit ist, immer an die Möglichkeit der Rettung glaubt
und auf rührende Art und Weise selbst den Gedanken ans
unwahrscheinliche Überleben des geliebten Vaters nicht aufgeben mag:
Wenn wir wenigstens im Zug
[nach Auschwitz] die
Pastete gegessen hätten; wir hatten sie für Papa aufgehoben, damit
wir ihm gleich etwas geben können. Mein Gott, wie haben wir
Dummköpfe uns das überhaupt vorgestellt? „Ihr fahrt zu euren
[bereits deportierten]
Männern in das neue Ghetto.“ Und wir haben ihnen das geglaubt.
Manche Frauen haben sich sogar freiwillig gemeldet.
Im aufschlussreichen Interview im
Anhang des Buches bekennt die Dreiundneunzigjährige:
Ich habe das nur für mich
selbst geschrieben und hatte damit, glaube ich, eigentlich keine
weiteren Absichten. Na ja, ob ich nun welche hatte oder nicht, weiß
ich nicht genau. Ich habe ja auch gezeichnet. Auch diese Zeichnungen
habe ich für mich gemacht, aber es kann sein, dass ich ein klein
wenig daran dachte, dass ich alles für spätere Zeiten festhalten
will, denn aus heutiger Sicht betrachtet, steckte schon eine gewisse
Regelmäßigkeit dahinter. Vor allem aber schrieb ich für mich. Es
kann allerdings sein, dass ich damals schon ein kleines bisschen
diesen Gedanken verfolgte.
Ein wesentlicher Unterschied von
Helgas Tagebuch zu den zahlreichen uns heute bekannten anderen
kindlichen Schilderungen als aussagekräftige Zeugnisse des
NS-Terrors besteht vor allem in der wunderbaren Tatsache des
glücklichen Überlebens der jungen Autorin: denn das Grauen vieler
anderer Kindertagebücher, die in der Regel schon deshalb mit dem
Zeitpunkt der Deportation abbrechen, weil die SS in den
Konzentrationslagern anders als im Ghetto keinerlei persönlichen
Besitz mehr duldete, ergibt sich schließlich vor allem aus unserem
detaillierten Wissen über das vielfältige Grauen, das den innerlich
unnötig früh Gereiften noch bevorstehen sollte und das so
zahlreiche hoffnungsvolle, vielversprechende Lebenswege, mit denen
wir uns so vorbehaltlos identifizieren, mit kalter Berechnung einfach
endgültig kappte.
In Helga Weissovás Tagebuch
steigert sich das Grauen stetig, bis es allgegenwärtig ist und die
Autorin nicht sicher sein kann, ob sie den jeweils beschriebenen Tag
überleben wird: von ersten Einschränkungen aufgrund der von den
Nationalsozialisten auch in der Tschechoslowakei umgehend
implementierten menschenunwürdigen deutschen „Rassegesetzen“,
über die ersten, lediglich Bekannte oder Verwandte betreffenden
Deportationen nach Theresienstadt, den dortigen physischen und vor
allem massiven psychischen Terror, bis hin zu ersten Gerüchten im
Lager über den Einsatz von Gas und die Transporte nach Auschwitz,
die Selektion, Zwangsarbeit, Hunger und die absolute physische
Vernichtung.
Ja, das ist das letzte System.
Wochen, womöglich Monate ohne Essen und Trinken haben sie hinter
sich, diese – Menschen? Ja, das waren einstmals Menschen. Gesund,
stark, mit eigenem Willen und eigenen Gedanken, mit Gefühlen,
Neigungen und Liebe. Mit Liebe zum Leben, zum Guten und zur
Schönheit, mit dem Glauben an eine bessere Zukunft. Übrig geblieben
sind Schemen, Körper, Gerippe ohne Seelen.
Man mag darüber streiten, ob es
legitim sei, einem organisch entstandenen Tagebuch über die Zeit im
vergleichsweise „privilegierten“ Durchgangslager Theresienstadt
eine im selben Stil geschriebene tagebuchartige Rekapitulation der
späteren Ereignisse in den Todeslagern hintanzustellen. Daran
jedoch, dass eine Weiterführung der begonnenen Geschichte in
irgendeiner Form zwingend notwenig war, dürfte allerdings niemand
auch nur den geringsten Zweifel hegen. Die von der Autorin bereits
kurz nach der Befreiung gefundene Form führt ohnehin gerade im
Zusammenspiel mit ihren präzise beobachteten Zeichnungen dazu, dass
das vorliegende Buch aufgrund seiner schmerzhaften Authentizität und
ausgesprochenen Detailfülle wie kaum ein anderes Dokument geradezu
ideal dazu geeignet ist, um die darin beschriebenen Ereignisse
intellektuell wie emotional gleichermaßen nachvollziehen zu können
und diese somit in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen.
Die Waggons sind da, der
zweite Transport [nach
Auschwitz] geht in die Schleuse. Mama macht schnell das
Abendbrot, Papa soll sich noch einmal zum letzten Mal ordentlich satt
essen. [...] Hier haben wir drei gesessen, jeden Abend, das letzte
Dreivierteljahr. Das war für uns die beste Zeit in Theresienstadt,
hier hatten wir unsere glücklichsten Stunden. Wenn gerade jetzt der
Krieg zu Ende wäre... Das wäre zu schön. [...] Den Kopf an Papas
Brust gepresst, höre ich deutlich seinen Herzschlag, wie von ferne,
traurig, wie die Stimmung des heutigen Abends. Ach Papa, wären deine
Arme doch so stark, dass mich niemals etwas aus ihrer Umarmung reißen
könnte.
Wer die Bedeutung und den Wert
des Lebens vollends begreifen will, sollte dieses Buch lesen.
„Und doch ein ganzes Leben“,
aus dem Tschechischen von Elke Čermáková,
erschienen bei Lübbe, 223 Seiten, € 18,-
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.