Am 9. August 1943 verstarb im Alter
von fünfzig Jahren in Paris der seit der Besetzung Frankreichs durch
hitlerdeutsche Truppen im Untergrund lebende jüdisch-russische Maler
und bedeutende Vertreter des französischen Expressionismus Chaim
Soutine nach einer kurzerhand von seiner Lebensgefährtin
Marie-Berthe Aurenche mit Hilfe der Résistance
organisierten Notoperation,
die infolge eines schweren Magendurchbruchs des bereits seit mehr als
zwanzig Jahren an einem schmerzhaften Magengeschwür leidenden
Künstlers als einzige lebensrettende Maßnahme noch Hoffnung auf
Erfolg zu versprechen schien.
Um die trotz bürokratischer
Auflagen und erheblicher medizinischer Einschränkungen durch die
Besatzungsmacht dennoch eine bessere ärztliche Versorgung
versprechende französische Hauptstadt zu erreichen, war der als
untergetauchter Jude von der Polizei zur Fahndung ausgeschriebene
Soutine gezwungen, die relative Sicherheit seines derzeitigen
Verstecks in Chinon im heutigen Département
Indre-et-Loire zu verlassen,
um sich in einer vierundzwanzigstündigen Irrfahrt auf weitgehend
unbeaufsichtigten Nebenstraßen und sediert von harten Schmerzmitteln
ausgerechnet in einem Leichenwagen nach Paris transportieren zu
lassen:
Nur hin in die Hauptstadt des Schmerzes, hatte nicht einer
dieser verrückten Surrealisten sie so genannt, mit denen er nichts
zu tun haben wollte? [...] Sie wollten nur den Traum und ihre trüben
Spielchen. Er aber hasste Träume seit seiner Kindheit, nie gab es
Trost in ihnen, sie ließen ihn am Morgen gekrümmt und zerschlagen
zurück. Nie hatte er schöne Träume gehabt, er misstraute ihnen,
den scheinheiligen Unglücksboten. Kosakenstiefel, die im
Stechschritt durch sein Atelier hämmerten, glatte schwarze
Lederhandschuhe, die zerfetzte Leinwände von der Staffelei rissen,
laute Fanfaren, aus denen plötzlich geschossen wurde. [...] Die
Surrealen liebten das Chaos, aber ein Pogrom hatten sie nie gesehen,
die Namen Berditschew, Schitomir, Nikolajew sagten ihnen nichts, sie
genossen die Verachtung der bourgeois,
aber sie hatten nie in die Wälder fliehen müssen, um die eigene
Haut zu retten.
Chaim Soutine, das zehnte von elf Kindern einer armen Jiddisch
sprechenden jüdischen Familie, geboren und aufgewachsen im elenden
400-Seelen-Dorf Smilowitschi bei Minsk, war zweifelsohne eine jener
urtümlichen, gleichsam “von Natur aus” zum Malen und Zeichnen
begabten Künstlerpersönlichkeiten, dessen Fähigkeiten bereits in
seiner Jugend nahezu voll ausgereift waren und der des klassischen
Konservatoriums vielleicht lediglich zur Vervollkommnung seiner
Technik oder zur Komplettierung seiner Persönlichkeit bedurfte.
Schon als Vierzehnjähriger, so die Legende, bekritzelte der junge
Maler nicht nur jeden einzelnen verfügbaren Fetzen Papier mit seinen
spontanen Skizzen, sondern auch die Wände der heimischen
Kellertreppe.
Zu seinem Leben und zu seiner Kunst jedoch hat sich Soutine, der
“Maler des Schmerzes”, als den ihn der Schriftsteller, vollendete
Lyriker und kongeniale Übersetzer und Herausgeber der gesammelten
Werke Ossip Mandelstams, Ralph Dutli, in seinem großartigen, im
März erschienenen Roman “Soutines letzte Fahrt” so überaus
einfühlsam und kenntnisreich porträtiert, zu keinem Zeitpunkt
seines wechselhaften Lebens gerne geäußert.
So darf es als ausgesprochener Glücksfall gelten, dass sich nun
ausgerechnet ein hoch versierter Denk- und Sprachkünsler wie der
1954 geborene Schweizer Ralph Dutli im Rahmen einer ebenso
begeisternden wie sprachmächtigen literarischen Recherche und mit
allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in diesen einzigartigen
Künstler einzufühlen versucht und so tatsächlich, mit den
umsichtig-platzierten Worten eines Dichters, das nachhaltig
beeindruckende Kunststück vollbringt, dem Unausprechlichen in der
unverwechselbaren Kunst Soutines eine ebenso eindringliche Sprache zu
verleihen, die uns als Leser nicht nur empathischen Anteil an einem
Künstlerschicksal des Zwanzigsten Jahrhunderts gewähren lässt,
sondern auch einen Kern des tieferen Begreifens der Kunst an sich und
dem individuellen künstlerischen Schaffensdrang zu setzen vermag.
Es ist die Fixierung des einzigen Bildes, des alles entscheidenden
Augenblicks. Die unermessliche Scham, die anwachsende Befremdung, auf
der Welt zu sein. Die Verwaistheit aller Figuren, das Taumeln der
Dinge in einer heillosen Welt. Lakonische Lyrismen. Der genau
fixierte, farbig schillernde Tod am Werk. Und die unfehlbare
Vitalität desselben Augenblicks.
Soutine hatte 1909 sein Heimatdorf verlassen, war zunächst nach
Minsk gegangen, wo er Privatstunden nahm, ein Jahr später nach
Wilna. Nach Abschluss seines Kunststudiums an der dortigen Akademie
im Jahr 1913 setzte er buchstäblich alles auf eine Karte – die
Fahrkarte nach Paris, der lang ersehnten, verheißungsvoll
schillernden Welthauptstadt der Kunst, dem in seiner Imagination
einzig möglichen Ort für einen Künstler wie ihn. Nach zehn Jahren
des Elends und des Hungers kaufte der amerikanische Mäzen Albert C.
Barnes 1923 schließlich eine ansehnliche Anzahl seiner Bilder und
verschaffte Soutine so ganz unverhofft eine kaum noch für möglich
gehaltene Popularität, die seine elementarsten Existenzsorgen bis
zum Einmarsch der Deutschen beseitigen konnte.
Insbesondere der schmerzgesättigte, immer wieder gleich einem
intimen Grundbedürfnis wiederkehrende wütende Schaffensrausch
Soutines, aber auch der selbstzerstörerische Drang auf Vernichtung
seiner eigenen Werke werden von Dutli auf absolut beeinruckende Art
und Weise immer wieder kongenial eingefangen:
Es geht um Farbe oder Nicht-Farbe. Um das Weiß mit den blauen und
roten Schlieren. Um Veronesegrün, Türkis, Scharlachrot und die
Farbe des Blutes. Um den Tod der Farbe, die nicht sterben kann, die
Auferstehung der Farbe. Um die zu üppig aufgetrafene, aufgewellte,
geschraffte, borstige, gepeinigte, triumphierende Farbe. Die Farbe
versöhnt nicht mit der Wirklichkeit [...] . Die unversöhnliche
Farbe beugt sich keinem Gesetz, sie ist selber die Rebellion und die
Auferstehung der Materie und des Fleisches. [...] Aber couleur
und douleur kapiert er
sofort, als seien es Signale nur für ihn. Farben und Schmerzen sind
Schwestern, ja gewiss. Sie sind unheilbar, selbst wenn aus Farben
schließlich Narben werden. Nein, die Farbe hatte beides zugleich zu
verkörpern, den pochenden Schmerz und die bleibende Narbe. Und
zuletzt das Sterben. Alles hinterlässt Narben, verstehen Sie,
sichtbare Spuren. Alles. Den makellosen Körper mag es bei
griechischen Statuen geben, im alten Ägypten oder bei Modigliani.
Für Soutine gibt es keinen makellosen Körper, nur versehrte,
knotige, geschundene Leiber. Nichts im Leben ist heil geblieben,
nichts ist wiedergutzumachen. Das sind die einzigen Prinzipien, die
er akzeptieren will. Er lässt die Farben sich aneinander reiben,
schürfen, sich verehren, verdammen und verfluchen, erhöhen und
niederstrecken, bis sie stammelnd ihr vernarbtes Glück hergeben.
Schmerz erscheint in Dutlis Roman lange als einziger wesentlicher
Antrieb für Soutines Malerei. Was aber, wenn der körperliche
Schmerz in Form des Magengeschwürs wider jede Wahrscheinlichkeit
endgültig geheilt würde? Wird der “Maler des Schmerzes” auch
ohne die vermeintliche wesentliche Triebfeder seines künstlerischen
Schaffens bestehen können? Zumal wenn er – wie vom Arzt ermahnt –
nur dann physisch überleben kann, wenn er sich des Malens in Zukunft
gänzlich enthält? Dieser faustischen Frage geht Dutli in einer
absolut bestechenden kafkaesken Vision vom “Weißen Paradies”
nach, einem schmerzlos-eintönigen Klinik-Gefängnis, in dem keine
Farbe mehr existiert und allen Insassen absolutes Schweigen verordnet
ist.
Der
Schmerz des Erlebten und Gesehenen jedoch birgt auch Momente nahezu
grenzenloser Zärtlichkeit: so die Schilderung der von Soutine
porträtierten Kinder, denen er im “Weißen Paradies”
wiederbegegnet und die ihn dringend dazu ermahnen, das ärztliche
Verbot zu übertreten. Oder die unvergessliche Szene vom vezweifelten
Selbstmord Jeanne Hébuternes,
der Verlobten seines Freundes und Förderers Amedeo Modigliani
(1884-1920), die kaum inniger gestaltet sein könnte und Dutlis
sprachliche und gestalterische Meisterschaft noch unterstreicht.
Ralph Dutli ist sich der Problematik möglicher Fallstricke einer
halbfiktiven Romanbiografie dabei nur allzu bewusst und relativiert
seine großartige imaginative biografische Arbeit gleich auf
zweierlei Weise: zum einen ist die Erzählzeit seines großartigen
Buches identisch mit der Dauer der endlos scheinenden Fahrt in die
Pariser Klinik, in der die avisierte Notoperation stattfinden soll.
Während dieser Fahrt erinnert sich der in einem Schwebezustand
zwischen schmerzgepeinigtem Halbschlaf und morphiumgetränktem
visionären Wachsein gefangene Künstler auf eine gleichzeitig
realitätsbezogen-konkrete, poetisch-traumwandlerische und zuweilen
auch alptraumhafte Art und Weise an die zahlreichen Stationen seines
Lebens, die alle möglichen Vorbehalte gegenüber vermeintlich
unzulässiger literarischer Erfindung gleich von Vornherein wirksam
zu entkräften vermag. Denn Ralph Dutlis subjektive poetische
Recherche ist ohne Zweifel eine ganz außerordentliche, allein mit
wissenschaftlichen Mitteln kaum zu erreichende Leistung der
Durchdringung einer Künstlerpersönlichkeit und ihres
gestalterischen Werkes, die an Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit
kaum zu übertreffen ist.
Eine zweite Einschränkung im Konjunktiv liefert der Erzähler erst
im letzten Kapitel des Buches, in dem er eine merkwürdige Begegnung
mit einem greisen mutmaßlichen Gestapospitzel an Soutines Grab im
Montparnasse schildert, der behauptet als einziger Zeuge neben Pablo
Picasso, Jean Cocteau und Max Jacob sowie den letzten
Lebensgefährtinnen Chaime Soutines, Gerda Groth und Marie-Berthe
Aurenche, beim heimlichen Begräbnis des Malers anwesend gewesen zu
sein:
Bilden Sie sich nichts ein. Halten Sie sich nicht für etwas
Besseres als die fleißigen Agenten der Geheimpolizeien der Welt. Nur
die sind der Wahrheit verpflichtet, nicht Sie. [...] Sie können sich
nicht in einen Menschen hineinbegeben und in seinem Namen
losplappern, das wäre das größte Verbechen. Und noch etwas: Er war
ein großer Schweiger. Dichten Sie einem Schweiger nichts an. Er will
es nicht. Wenn Sie von den Schnörkeln der Poesie nicht lassen
können, suchen Sie sie anderswo. Sie werden Ihr Scheitern erkennen
und werden das Buch noch einmal schreiben müssen.
Zu diesem Zeitpunkt hat Dutli allerdings schon längst auf
beeindruckende Art und Weise bewiesen, dass in diesem ewig-ungleichen
Ringen um Wahrheit am Ende immer der Dichter, immer der genuine
Künstler gegen den kleingeistigen Beamten und reinen Verwalter von
Informationen obsiegen muss, da er allein die geeigneten Mittel zur
Weltdurchdringung besitzt. “Soutines letzte Fahrt” ist der
faszinierendste und wahrhaftigste Roman über das Wesen der Malerei
sowie die Macht und Ohnmacht der Farben seit langem.
“Soutines letzte Fahrt”, erschienen bei Wallstein, 272 Seiten, €
19,90
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