Es ist ebenso aufschlussreich wie betrüblich, dass die französische
Topjournalistin, Leiterin der französischen Ausgabe der prämierten
Internet-Postille Huffington Post und gefeierte Buchautorin
Anne Sinclair, geboren 1948 in New York als Tochter eines
hochdekorierten Soldaten und Weltkriegshelden der France Libre
Charles de Gaulles, dessen rückwirkend legalisierten militärischen
Decknamen sie bis heute trägt, außerhalb ihrer Heimat Frankreich
fast ausschließlich als gehörnte Noch-Ehefrau des skandalträchtigen
ehemaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn bekannt ist.
Auf dessen Rücktritt infolge der medienträchtigen Affäre um die
ihm zur Last gelegte Vergewaltigung einer New Yorker
Hotelangestellten (sämtliche damit in Zusammenhang stehende
Verfahren wurden mittlerweile eingestellt) nimmt Anne Sinclair im
Epilog ihres neuen Buches lediglich in einem Nebensatz Bezug:
Im Mai 2011 sah ich mich wegen schmerzlicher Umstände wieder
gezwungen, in New York zu leben, plötzlich gewissermaßen eine
Gefangene Amerikas. Die Stadt New York, die mir in meiner Kindheit
verzaubert erschien, wurde für mich und die Meinen auf einmal
gleichbedeutend mit Gewalt und Ungerechtigkeit.
Zum Zeitpunkt der Verhaftung ihres Ehemanns, der sich bis dahin
berechtigte Hoffnungen auf eine erfolgreiche
Präsidentschaftskanditatur in seinem Heimatland machen durfte, hatte
sie ihr hoch spannendes, die eigene Familiengeschichte bravourös
erforschendes, jetzt in deutscher Übersetzung unter dem neugierig
machenden Titel “Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine”
erschienenes Buchprojekt längst begonnen.
Der Auslöser für diese in weiten Teilen begeisternde, ebenso
persönliche wie sachlich umfassende Recherche über Leben und Werk
ihres Großvaters Paul Rosenberg (1881-1959), einem der
einflussreichsten und bedeutendsten französischen Kunsthändler des
Zwanzigsten Jahrhunderts, war – wie die versierte Autorin in ihrem
mitreißendem Vorwort schreibt – ein schicksalhafter Vorfall aus
der bürokratisch streng reglementierten Parallelwelt des
französischen behördlichen Meldewesens, der die Autorin unverhofft
in eine lange überwunden geglaubte Zeit zurückkatapultierte, in der
menschenverachtend-despotische Systeme sich nach lächerlich
irrationalen, selbst aufgestellten Kriterien nicht nur über die
nationale, sondern auch die persönliche Identität, ja letztlich
über das nackte Leben ihrer Bürger an sich zu bestimmen wie
selbstverständlich anmaßten:
“Sind ihre vier Großeltern in Frankreich geboren oder nicht?”
“Das letzte Mal, als man derartige Fragen gestellt hat, ließ
man die Menschen anschließend in einen Zug nach Drancy steigen!”,
sage ich erstickt. [...]
Erbittert gehe ich. Ohne es diesem pflichtbewussten Beamten
wirklich übel zu nehmen, aber mit dem Gefühl, dass meine Geburt
verdächtig ist, als gäbe es zwei Kategorien von Franzosen und
einige wären es mehr als andere.
Der von Kindheit
an kunstbegeisterte Paul Rosenberg eröffnete nach ersten beruflichen
Schritten in der Antiquitäten- und Kunsthandlung seines in
Bratislava geborenen Vaters Alexandre Rosenberg (ca. 1850-1913)
bereits im Jahr 1911 seine erste eigene Galerie in der
repräsentativen Rue La Boétie, wo er nicht nur Werke von so
etablierten Meistern wie Edgar Degas, Auguste Rodin oder
Pierre-Auguste Renoir ausstellte und verkaufte, sondern vor allem
auch seine Begeisterung für die modernen Strömungen der Pariser
Kunstszene, vor allem für den Kubismus und für junge kreative, von
ihren Zeitgenossen noch verkannte Künstlerpersönlichkeiten wie
Pablo Picasso, Georges Braque, Fernand Léger,
Henri Matisse sowie die von ihm bereits seit 1913 exklusiv
vertretenen Marie Laurencin einbringen konnte und so einen kaum hoch
genug einzuschätzenden Beitrag zur Etablierung der modernen Kunst
leistete; die jahrzehntelangen freundschaftlichen
Geschäftsbeziehungen zu den von ihm vertretenen Künstlern, wurden
gewöhnlich erst durch den Tod eines der Geschäftspartner beendet.
Paul Rosenberg, der neu erworbenen Kunstwerken oftmals mehr Zeit und
Aufmerksamkeit widmete als seiner Familie, war jedoch nicht nur ein
visionärer Entdecker und Förderer der modernen Kunst, sondern trotz
eines zuweilen weltfremd anmutenden, in die Farbwelten seiner
Künstler verlagerten Innenlebens auch ein politisch hellwacher
Beobachter der nationalistischen Verwerfungen im Mitteleuropa der
1930er Jahre, der mit glasklarem Verstand die sich daraus ergebenden
verhängnisvollen Entwicklungen vorauszusehen im Stande war.
Gegen die von den Nationalsozialisten mit aller Macht zu
Rüstungszwecken betriebene Veräußerung von requirierten oder aus
dem Besitz staatlicher Museen Nazi-Deutschlands stammenden Werken der
sogenannten „entarteten Kunst“, zu denen unfassbarerweise selbst
heute so unwidersprochene Klassiker wie van Gogh zählten, hatte er
sich nicht nur vehement verweigert (wofür ihn die Nazis schon
frühzeitig auf ihre Schwarze Liste setzten), sondern auch alle
potenziellen Käufer aktiv davor gewarnt, dass jegliche Devisen, die
das Deutsche Reich dadurch einnehme, „uns in Gestalt von Bomben auf
den Kopf fallen werden“.
Obwohl Rosenberg einen Teil seiner Kunstwerke durch großzügige
Schenkungen (etwa an das New Yorker Museum of Modern Art) in
Sicherheit bringen konnte, während wenige andere Werke den Krieg
unangetastet in einem auf den Namen seines Chauffeurs eingetragenen
Lagerhaus überdauerten, fiel der absolute Großteil seiner Sammlung
von über vierhundert Gemälden und sonstigen Kunstgegenständen in
die Hände der Nazis, von denen nur ein geringer Teil restituiert
wurde, zuletzt Claude Monets Werk “Seerosen 1904” im Jahr 1999.
Dank
seiner ausgezeichneten Kontakte zum MoMA gelang Rosenberg im Jahr
1940 gerade noch rechtzeitig mit seiner gesamten Familie die Flucht
nach New York, wo er erneut eine florierende Galerie eröffnen
konnte, während in seine ehemaligen Räume in Paris ausgerechnet das
antisemitische Institut d'Etudes des Questions
Juives, das nationalzozialistische Institut für Judenforschung,
einzog.
Anne Sinclair gelingt aus der Sicht der erwachsenen Enkelin ein
absolut fesselndes, ebenso menschlich-liebevolles wie
analytisch-tiefgreifendes Porträt eines ungewöhnlichen Menschen und
außergewöhnlichen Kunsthändlers mit hochinteressanten Einblicken
nicht nur in die faszinierende Kunstszene der Welthauptstadt der
Kunst Paris vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch in die
zahlreichen Verhängnisse der nationalsozialistischen Kunstauffassung
sowie die absurden ideologischen Angriffe und räuberischen Beutezüge
der Nazis im von ihnen besetzten Europa.
Dass Anne Sinclair dieses äußerst verdienstvolle und lobenswerte
Unternehmen einer ersten fundierten Biographie über Paul Rosenberg
erst fünfzig Jahre nach dessen Tod in Angriff nehmen konnte,
verwundert umso mehr, als sie als Kind in dessen illustrem Haushalt
nach dem Krieg nicht nur Künstler wie Picasso kennenlernen durfte,
sondern sogar im Alter von vier Jahren von Marie Laurencin in
unverwechselbarer Art und Weise porträtiert wurde.
Ganz nebenbei – und das ist eine besonders schöne kleine Pointe –
gelingt es der Autorin dabei auch in besonders hohem Maße, sich mit
ihrem ganz persönlichen Buch über ihren Großvater gewissermaßen
selbst “freizuschreiben”, um vielleicht in Zukunft noch ein
bisschen weniger als Ex-Frau von Dominique Strauss-Kahn wahrgenommen
zu werden, sondern wenn schon, dann lieber als Tochter von Paul
Rosenberg, oder noch besser: als Anne Sinclair, eine weltgewandte,
kluge, dem Leben zugewandte Frau und hinreissende, humorvolle,
analytisch-scharfsinnige Erzählerin und Autorin.
“Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?”, aus dem
Französischen von Barbara Heber-Schärer, erschienen bei Antje Kunstmann, 208 Seiten, € 19,95
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