Jerusalem

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Mittwoch, 8. Mai 2013

“Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?” von Anne Sinclair

Es ist ebenso aufschlussreich wie betrüblich, dass die französische Topjournalistin, Leiterin der französischen Ausgabe der prämierten Internet-Postille Huffington Post und gefeierte Buchautorin Anne Sinclair, geboren 1948 in New York als Tochter eines hochdekorierten Soldaten und Weltkriegshelden der France Libre Charles de Gaulles, dessen rückwirkend legalisierten militärischen Decknamen sie bis heute trägt, außerhalb ihrer Heimat Frankreich fast ausschließlich als gehörnte Noch-Ehefrau des skandalträchtigen ehemaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn bekannt ist.

Auf dessen Rücktritt infolge der medienträchtigen Affäre um die ihm zur Last gelegte Vergewaltigung einer New Yorker Hotelangestellten (sämtliche damit in Zusammenhang stehende Verfahren wurden mittlerweile eingestellt) nimmt Anne Sinclair im Epilog ihres neuen Buches lediglich in einem Nebensatz Bezug:

Im Mai 2011 sah ich mich wegen schmerzlicher Umstände wieder gezwungen, in New York zu leben, plötzlich gewissermaßen eine Gefangene Amerikas. Die Stadt New York, die mir in meiner Kindheit verzaubert erschien, wurde für mich und die Meinen auf einmal gleichbedeutend mit Gewalt und Ungerechtigkeit.

Zum Zeitpunkt der Verhaftung ihres Ehemanns, der sich bis dahin berechtigte Hoffnungen auf eine erfolgreiche Präsidentschaftskanditatur in seinem Heimatland machen durfte, hatte sie ihr hoch spannendes, die eigene Familiengeschichte bravourös erforschendes, jetzt in deutscher Übersetzung unter dem neugierig machenden Titel “Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine” erschienenes Buchprojekt längst begonnen.



Der Auslöser für diese in weiten Teilen begeisternde, ebenso persönliche wie sachlich umfassende Recherche über Leben und Werk ihres Großvaters Paul Rosenberg (1881-1959), einem der einflussreichsten und bedeutendsten französischen Kunsthändler des Zwanzigsten Jahrhunderts, war – wie die versierte Autorin in ihrem mitreißendem Vorwort schreibt – ein schicksalhafter Vorfall aus der bürokratisch streng reglementierten Parallelwelt des französischen behördlichen Meldewesens, der die Autorin unverhofft in eine lange überwunden geglaubte Zeit zurückkatapultierte, in der menschenverachtend-despotische Systeme sich nach lächerlich irrationalen, selbst aufgestellten Kriterien nicht nur über die nationale, sondern auch die persönliche Identität, ja letztlich über das nackte Leben ihrer Bürger an sich zu bestimmen wie selbstverständlich anmaßten:

Sind ihre vier Großeltern in Frankreich geboren oder nicht?”
Das letzte Mal, als man derartige Fragen gestellt hat, ließ man die Menschen anschließend in einen Zug nach Drancy steigen!”, sage ich erstickt. [...]
Erbittert gehe ich. Ohne es diesem pflichtbewussten Beamten wirklich übel zu nehmen, aber mit dem Gefühl, dass meine Geburt verdächtig ist, als gäbe es zwei Kategorien von Franzosen und einige wären es mehr als andere.

Der von Kindheit an kunstbegeisterte Paul Rosenberg eröffnete nach ersten beruflichen Schritten in der Antiquitäten- und Kunsthandlung seines in Bratislava geborenen Vaters Alexandre Rosenberg (ca. 1850-1913) bereits im Jahr 1911 seine erste eigene Galerie in der repräsentativen Rue La Boétie, wo er nicht nur Werke von so etablierten Meistern wie Edgar Degas, Auguste Rodin oder Pierre-Auguste Renoir ausstellte und verkaufte, sondern vor allem auch seine Begeisterung für die modernen Strömungen der Pariser Kunstszene, vor allem für den Kubismus und für junge kreative, von ihren Zeitgenossen noch verkannte Künstlerpersönlichkeiten wie Pablo Picasso, Georges Braque, Fernand Léger, Henri Matisse sowie die von ihm bereits seit 1913 exklusiv vertretenen Marie Laurencin einbringen konnte und so einen kaum hoch genug einzuschätzenden Beitrag zur Etablierung der modernen Kunst leistete; die jahrzehntelangen freundschaftlichen Geschäftsbeziehungen zu den von ihm vertretenen Künstlern, wurden gewöhnlich erst durch den Tod eines der Geschäftspartner beendet.

Paul Rosenberg, der neu erworbenen Kunstwerken oftmals mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmete als seiner Familie, war jedoch nicht nur ein visionärer Entdecker und Förderer der modernen Kunst, sondern trotz eines zuweilen weltfremd anmutenden, in die Farbwelten seiner Künstler verlagerten Innenlebens auch ein politisch hellwacher Beobachter der nationalistischen Verwerfungen im Mitteleuropa der 1930er Jahre, der mit glasklarem Verstand die sich daraus ergebenden verhängnisvollen Entwicklungen vorauszusehen im Stande war.

Gegen die von den Nationalsozialisten mit aller Macht zu Rüstungszwecken betriebene Veräußerung von requirierten oder aus dem Besitz staatlicher Museen Nazi-Deutschlands stammenden Werken der sogenannten „entarteten Kunst“, zu denen unfassbarerweise selbst heute so unwidersprochene Klassiker wie van Gogh zählten, hatte er sich nicht nur vehement verweigert (wofür ihn die Nazis schon frühzeitig auf ihre Schwarze Liste setzten), sondern auch alle potenziellen Käufer aktiv davor gewarnt, dass jegliche Devisen, die das Deutsche Reich dadurch einnehme, „uns in Gestalt von Bomben auf den Kopf fallen werden“.

Obwohl Rosenberg einen Teil seiner Kunstwerke durch großzügige Schenkungen (etwa an das New Yorker Museum of Modern Art) in Sicherheit bringen konnte, während wenige andere Werke den Krieg unangetastet in einem auf den Namen seines Chauffeurs eingetragenen Lagerhaus überdauerten, fiel der absolute Großteil seiner Sammlung von über vierhundert Gemälden und sonstigen Kunstgegenständen in die Hände der Nazis, von denen nur ein geringer Teil restituiert wurde, zuletzt Claude Monets Werk “Seerosen 1904” im Jahr 1999.

Dank seiner ausgezeichneten Kontakte zum MoMA gelang Rosenberg im Jahr 1940 gerade noch rechtzeitig mit seiner gesamten Familie die Flucht nach New York, wo er erneut eine florierende Galerie eröffnen konnte, während in seine ehemaligen Räume in Paris ausgerechnet das antisemitische Institut d'Etudes des Questions Juives, das nationalzozialistische Institut für Judenforschung, einzog.

Anne Sinclair gelingt aus der Sicht der erwachsenen Enkelin ein absolut fesselndes, ebenso menschlich-liebevolles wie analytisch-tiefgreifendes Porträt eines ungewöhnlichen Menschen und außergewöhnlichen Kunsthändlers mit hochinteressanten Einblicken nicht nur in die faszinierende Kunstszene der Welthauptstadt der Kunst Paris vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch in die zahlreichen Verhängnisse der nationalsozialistischen Kunstauffassung sowie die absurden ideologischen Angriffe und räuberischen Beutezüge der Nazis im von ihnen besetzten Europa.

Dass Anne Sinclair dieses äußerst verdienstvolle und lobenswerte Unternehmen einer ersten fundierten Biographie über Paul Rosenberg erst fünfzig Jahre nach dessen Tod in Angriff nehmen konnte, verwundert umso mehr, als sie als Kind in dessen illustrem Haushalt nach dem Krieg nicht nur Künstler wie Picasso kennenlernen durfte, sondern sogar im Alter von vier Jahren von Marie Laurencin in unverwechselbarer Art und Weise porträtiert wurde.

Ganz nebenbei – und das ist eine besonders schöne kleine Pointe – gelingt es der Autorin dabei auch in besonders hohem Maße, sich mit ihrem ganz persönlichen Buch über ihren Großvater gewissermaßen selbst “freizuschreiben”, um vielleicht in Zukunft noch ein bisschen weniger als Ex-Frau von Dominique Strauss-Kahn wahrgenommen zu werden, sondern wenn schon, dann lieber als Tochter von Paul Rosenberg, oder noch besser: als Anne Sinclair, eine weltgewandte, kluge, dem Leben zugewandte Frau und hinreissende, humorvolle, analytisch-scharfsinnige Erzählerin und Autorin.

“Lieber Picasso, wo bleiben meine Harlekine?”, aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, erschienen bei Antje Kunstmann, 208 Seiten, € 19,95

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