Am 13.
Juni dieses Jahres jährte sich zum fünfzigsten Mal der Todestag von
Martin Buber. Dass der zu seinen Lebzeiten (zu Recht) weithin
bewunderte und verehrte, 1878 in Wien geborene und in Lemberg
aufgewachsene jüdische Philosoph, ordentlicher Professor in
Frankfurt/Main und Jerusalem, heute auf Facebook immerhin noch 9000
Fans besitzt, hat nicht nur etwas unwillkürlich Rührendes, sondern
beweist auch, dass viele Menschen das umfangreiche, vielschichtige
und beispiellose philosophische und literarische Werk, vor allem aber
die persönliche Strahlkraft dieses einmaligen Geistes- und
Herzensriesen sowie seine zahlreichen bedeutenden, aus heutiger Sicht
scheinbar unzeitgemäß wirkenden Denkanstöße nicht vergessen
haben. Dabei muss man sich unseligerweise immer wieder bewusst vor
Augen führen, dass der große Versöhner und Fürsprecher des
Friedens ohne die (auch akademische und geistige) Welten vernichtende
Katastrophe der Schoah heute vermutlich ganz selbstverständlich in
einem Atemzug mit so allgemein anerkannten Persönlichkeiten wie
Mahatma Gandhi, dem Dalai Lama oder Nelson Mandela genannt werden
müsste.
Es
fällt äußerst schwer, nur eine kleine Anzahl von Martin Bubers
Verdiensten in exemplarischer Kürze aufzuzählen, die vor allem
seine breit gestreuten Interessen und seine zahlreichen Anliegen
widerspiegeln. Für eine menschlich-beseelte Philosophie und reiche,
lebendige Literaturlandschaft, für eine humane akademische Lehre
sowie für das geistige und intellektuelle Niveau im
Vorkriegsdeutschland im allgemeinen kann sein jahrzehntelanger
unermüdlicher Beitrag kaum hoch genug bewertet werden: die Ermordung
und Vertreibung von Akademikern seines Kalibers hat dem geistigen und
ethischen Niveau unserer Gesellschaft unwiederbringlichen Schaden
zugefügt, und eine moralische Instanz wie Martin Buber wäre gerade
heute wieder von unschätzbarem Wert.
In
der Stunde des Zweifels
Es
wird erzählt: „In der Stadt Satanow war ein gelehrter Mann, den
führte sein Denken und Grübeln immer tiefer in die Frage hinein,
warum, was ist, ist, und warum überhaupt etwas ist. Eines Freitags
blieb er nach dem Gebet im Lehrhaus, um weiterzudenken, so versponnen
war er in seinen Gedanken. Er versuchte sie zu entwirren und
vermochte es nicht. Das merkte der heilige Baalschemtow in der Ferne,
setzte sich in seinen Wagen und kam mit seiner wundersamen Macht, die
den Weg ihm entgegenspringen machte, im Nu nach Satanow und ins
Lehrhaus. Da saß der gelehrte Mann in seiner Pein. Der Baalschem
sprach zu ihm: 'Ihr grübelt, ob da ein Gott sei. Ich bin ein Narr
und glaube.' Dass ein Mensch um sein Geheimnis wusste, rührte dem
Zweifler das Herz auf, und es öffnete sich dem Geheimnis.“
Nach
einem umfangreichen, breit angelegten Studium in Wien, Leipzig,
Zürich und Berlin (Nationalökonomie, Philosophie, Germanistik,
Kunstgeschichte, Psychiatrie und Psychologie) übte Martin Buber als
Brotberuf zunächst vorwiegend publizistische Tätigkeiten aus, auch
für Theodor Herzls zionistisches Parteiorgan „Die Welt“, während
er zeitgleich kaum weniger intensiv an seinem eigenen philosophischen
und literarischen Werk arbeitete. Im Jahr 1901 gründete er den
Jüdischen Verlag, ab 1905 war er Lektor beim renommierten Berliner
Verlag Rütten & Loening. Er zählte zu den Mitbegründern des
Sozialistischen Bundes (1908), der Monatszeitschrift „Der Jude“
(gemeinsam mit Salman Schocken, 1916) und des Leo Baeck Instituts
(mit Hannah Arendt und Gershom Scholem, 1955) und war nahezu der
einzige bedeutende zionistische Intellektuelle, der sich vor und nach
der Staatsgründung Israels immer wieder vehement für die Rechte der
Palästinenser einsetzte. Seine gemeinsam mit Franz Rosenzweig
begonnene sprachmächtige Übersetzung der hebräischen Bibel ins
Deutsche gilt bis heute zu Recht als literarische Glanztat.
Grab von Rabbi Nachman in Uman/Ukraine |
Innerhalb
des lebendigen, in vielerlei Hinsicht prägenden Anteils jüdischer
Intellektueller an der deutschsprachigen Kultur Deutschlands und
Österreichs vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nahm
Martin Buber dabei von Anfang an eine Sonderstellung ein. In sogar
noch stärkerem Maße als der im habsburgischen Krakau geborene,
heute nahezu vergessene und ebenfalls vorwiegend in deutscher Sprache
veröffentlichende Schriftsteller, Lyriker und Journalist Salamon
Dembitzer (1888-1964), der seine berühmten assimilierten Kollegen
Döblin, Kerr,
Lessing, Perutz oder Feuchtwanger mit regelrechten
Hasstiraden wegen ihres kulturellen Dünkels überzog, war Martin
Buber als Enkel des bedeutendsten Forschers und Sammlers auf dem
Gebiet der chassidischen Kultur Osteuropas fest von einer bedeutenden
humanitären Mission des osteuropäischen Judentums überzeugt. Diese
Gewissheit hatte sich der junge Student, obwohl während seiner
Kindheit in Galizien selbst oberflächlich mit dieser Tradition in
Berührung gekommen, mit viel Fleiß und wachsender Begeisterung über
Jahre hinweg selbst erarbeitet.
Liebe
Der
Baalschem sprach zu einem seiner Schüler: „Den Geringsten der
Geringen, der dir in den Sinn kommen kann, liebe ich mehr, als du
deinen einzigen Sohn liebst.“
Die
im wesentlichen auf die mystische Weltsicht aus dem wirkungsreichen
Umkreis des berühmten polnischen „Wunderrabbis“ Israel ben
Elieser genannt Baal Schem Tov (um 1700-1760) und seines Urenkels
Rabbi Nachman von Bratslav (1772-1810) gründende Tradition des
Chassidismus hatte das traditionelle Judentum Osteuropas seit Mitte
des 18. Jahrhunderts mit einer neuen Form der Spiritualität belebt,
die aus heutiger Sicht einer umfassenden geistigen Erneuerung
gleichkam. Unter den großen monotheistischen Religionen ist das
Judentum immer die Religion des Gesetzes gewesen, wobei die sich
zuallererst den Prinzipien einer strengen formalen Logik
unterwerfende theologische Interpretation der überlieferten Gesetze,
sie vor allem auch zur jener Religion gemacht haben, die der
weltlichen Philosophie von jeher am nächsten stand – nicht umsonst
genossen viele bedeutende Philosophen und Geistesgrößen wie Moses
Maimonides (um 1135-1204), Baruch de Spinoza (1632-1677) oder Salomon
Maimon (um 1753- 1800) ursprünglich eine traditionelle jüdische
theologische Ausbildung.
Die
kleine Hand
Durch
Rabbi Nachman von Bratzlaw ist uns dieser Spruch seines Urgroßvaters,
des Baalschemtow, überliefert: „Wehe, die Welt ist voll gewaltiger
Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner
kleinen Hand.“
Den
osteuropäischen Chassidismus zeichnet einerseits eine tiefe, den
Gesetzen der Torah unmittelbar verpflichtete Religiosität aus, die
ihn grundsätzlich kaum vom althergebrachten orthodoxen Judentum
unterscheidet. Grundlegend neu aber war die von den zahlreichen
charismatischen Protagonisten der Bewegung vehement verkörperte
mystisch-spirituelle, dabei jedoch auch unmittelbar lebensbejahende
Dimension, die sich im gemeinsamen religiösen Erlebnis sowie in der
individuellen und kollektiven Gotteserfahrung etwa durch Tanz und
Gesang äußert, wobei dessen geradewegs dem Diesseits zugewandte
vitale Lebenslust und bewusste Verweigerung asketischer Traditionen
nach Ansicht vieler heutiger Gelehrter vor allem auch als direkte
Reaktionen auf die bitteren Lebensumstände, insbesondere auf die
zahlreichen Pogrome der Entstehungszeit interpretiert werden müssen.
Grab des Baal Schem Tov in Medschybisch/Ukraine |
Dieser,
wie wir heute sagen würden, ganzheitliche Ansatz des traditionellen
osteuropäischen Chassidismus, der das spirituelle Bedürfnis des
Menschen mit dem sinnlichen zu versöhnen scheint und gleichermaßen
stark auf das Diesseits wie das Jenseits ausgerichtet ist, musste
nicht nur auf viele Zeitgenossen in deren charakteristischem
Lebensumfeld äußerst attraktiv wirken, das wesentlich von Armut,
Mord und Verfolgung geprägt war, sondern erfreut sich auch heute
noch einer großen Anhängerschaft, die man aufgrund ihrer
anachronistisch wirkenden Art sich zu kleiden oftmals zu belächeln
geneigt ist. Dabei durfte sich die direkt aus dem weiteren
spirituellen Umfeld des Chassidismus hervorgegangene esoterische
Kabbalah-Bewegung nicht umsonst Ende der 1990er Jahre großer
Beliebtheit auch in nichtjüdischen Kreisen erfreuen, was man trotz
deren eher oberflächlicher Ausprägung durchaus als Indiz für
Martin Bubers These interpretieren darf, dass der Weltsicht des
Chassidismus aufgrund seines Anspruchs der Versöhnung der
(scheinbaren) Gegensätze von Intellekt und Gefühl auch in einer
durch und durch weltlich geprägten Gesellschaft höchste moralische
Relevanz zukommt: sich um die Bedürfnisse seine Seele zu kümmern,
ohne dass der Körper zu kurz kommt, und um seinen Körper, ohne dass
die Seele dabei zu kurz kommt, ist ein erstaunlich zeitgemäßer
Anspruch.
In
der Welt der Wandlungen
In
den Tagen des Baalschem lebte ein Mann, der sich grausam kasteite, um
den heiligen Geist zu erlangen. Von ihm sprach einmal der Baalschem:
„In der Welt der Wandlungen lacht man über ihn. Man übergibt ihm
höhere und höhere Stufen und narrt ihn damit. Hätte er nicht Hilfe
an mir, er ginge verloren.“
Erste
Versuche, die wesentlichen Zeugnisse des religiösen und menschlichen
Wirkens von Israel ben Elieser und Nachman von Bratslav ins Deutsche
zu übersetzen, unternahm Martin Buber schon sehr früh: seine freien
Nach- und Neudichtungen der Geschichten des Rabbi Nachman
(1906) und der Legende des Baalschem (1907), wurden zu großen
und nachhaltigen kommerziellen Erfolgen in Deutschland, auch wenn
sich der Autor bald aufgrund seiner nach späterer Einschätzung
allzu freier Gestaltung davon distanzierte. Als konstituierende
Grundlagentexte seines über Jahrzehnte auf geradezu biblischen
Umfang angewachsenen literarischen Opus magnum „Die Erzählungen
der Chassidim“ haben sie ihn fast sein ganzes Leben über begleitet
und bereichern und schmücken nun in erheblichem Maße auch die
wunderschön ausgestattete, ausgesprochen verdienstvolle und mit
einer kongenialen Titelillustration Marc Chagalls stilvoll in
farbiges Leinen gebundene Prachtausgabe, die nun anlässlich von
Martin Bubers fünfzigstem Todestag bei Manesse erschienen ist. Dafür
wurde die 1949 vom Autor persönlich für diesen Verlag
zusammengestellte und mit einem umfangreichen Vorwort versehene
Ausgabe von dem Judaisten Michael Brocke
um ein
umfangreiches Register, ausführliche Anmerkungen und ein Glossar
sowie ein überaus erhellendes Nachwort erweitert.
Martin Buber, 1940er Jahre |
„Die
Erzählungen der Chassidim“ sind ein wunderbarer, geradezu
unvergänglicher, mit bloßen erklärenden oder beschreibenden Worten
kaum jemals annähernd zu ermessender literarischer Schatz jüdischer
Weisheit, der als wesentliche Ergänzung der kontemplativen
religiösen Literatur einen festen Platz neben der Bibel und dem
Talmud haben sollte. Dabei sind die streng nach ihrem jeweiligen
Urheberkreis geordneten, manchmal nur aphoristisch kurzen Abschnitte
mit Erlebnissen oder Aussprüchen der großen Protagonisten des
osteuropäischen Chassidismus gleichzeitig von größter universeller
spiritueller Kraft und geradezu überwältigender Lebensnähe und
Diesseitigkeit. Was beim Lesen allerdings immer wieder genauso sehr
zu beeindrucken vermag, sind die herausragenden sprachlichen
Fähigkeiten Martin Bubers: Sätze, die oft so unvermittelt und
treffend eine grundsätzliche Wahrheit auszudrücken vermögen, dass
man verzückt und überrumpelt und gefangen im jeweiligen Gedanken,
manchmal beinahe vergisst weiterzulesen; Sätze somit auch, die einen
wieder zum bewussten und konzentrierten Lesen erziehen. All diese
feinen, einzigartigen, überlegenen Eigenschaften machen „Die
Erzählungen der Chassidim“ zu einem besonders guten Beispiel
wahrhafter Weltliteratur. Gleichzeitig wird vorbildlich deutlich, wie
und in welchem Maß die Beschäftigung mit den Werten des Chassidimus
die Persönlichkeit Martin Bubers und seine Ethik geformt und
beeinflusst hat. In dieser weltbewegenden, revolutionären Hinsicht
sind „Die Erzählungen der Chassidim“ wirklich ein großes,
zeitloses Geschenk für die Menschheit.
„Die Erzählungen der Chassidim“, erschienen bei Manesse, 780 Seiten, €
29,95
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