Jerusalem

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Mittwoch, 1. Juli 2015

„Die Erzählungen der Chassidim“ von Martin Buber

Am 13. Juni dieses Jahres jährte sich zum fünfzigsten Mal der Todestag von Martin Buber. Dass der zu seinen Lebzeiten (zu Recht) weithin bewunderte und verehrte, 1878 in Wien geborene und in Lemberg aufgewachsene jüdische Philosoph, ordentlicher Professor in Frankfurt/Main und Jerusalem, heute auf Facebook immerhin noch 9000 Fans besitzt, hat nicht nur etwas unwillkürlich Rührendes, sondern beweist auch, dass viele Menschen das umfangreiche, vielschichtige und beispiellose philosophische und literarische Werk, vor allem aber die persönliche Strahlkraft dieses einmaligen Geistes- und Herzensriesen sowie seine zahlreichen bedeutenden, aus heutiger Sicht scheinbar unzeitgemäß wirkenden Denkanstöße nicht vergessen haben. Dabei muss man sich unseligerweise immer wieder bewusst vor Augen führen, dass der große Versöhner und Fürsprecher des Friedens ohne die (auch akademische und geistige) Welten vernichtende Katastrophe der Schoah heute vermutlich ganz selbstverständlich in einem Atemzug mit so allgemein anerkannten Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, dem Dalai Lama oder Nelson Mandela genannt werden müsste.




Es fällt äußerst schwer, nur eine kleine Anzahl von Martin Bubers Verdiensten in exemplarischer Kürze aufzuzählen, die vor allem seine breit gestreuten Interessen und seine zahlreichen Anliegen widerspiegeln. Für eine menschlich-beseelte Philosophie und reiche, lebendige Literaturlandschaft, für eine humane akademische Lehre sowie für das geistige und intellektuelle Niveau im Vorkriegsdeutschland im allgemeinen kann sein jahrzehntelanger unermüdlicher Beitrag kaum hoch genug bewertet werden: die Ermordung und Vertreibung von Akademikern seines Kalibers hat dem geistigen und ethischen Niveau unserer Gesellschaft unwiederbringlichen Schaden zugefügt, und eine moralische Instanz wie Martin Buber wäre gerade heute wieder von unschätzbarem Wert.

In der Stunde des Zweifels
Es wird erzählt: „In der Stadt Satanow war ein gelehrter Mann, den führte sein Denken und Grübeln immer tiefer in die Frage hinein, warum, was ist, ist, und warum überhaupt etwas ist. Eines Freitags blieb er nach dem Gebet im Lehrhaus, um weiterzudenken, so versponnen war er in seinen Gedanken. Er versuchte sie zu entwirren und vermochte es nicht. Das merkte der heilige Baalschemtow in der Ferne, setzte sich in seinen Wagen und kam mit seiner wundersamen Macht, die den Weg ihm entgegenspringen machte, im Nu nach Satanow und ins Lehrhaus. Da saß der gelehrte Mann in seiner Pein. Der Baalschem sprach zu ihm: 'Ihr grübelt, ob da ein Gott sei. Ich bin ein Narr und glaube.' Dass ein Mensch um sein Geheimnis wusste, rührte dem Zweifler das Herz auf, und es öffnete sich dem Geheimnis.“

Nach einem umfangreichen, breit angelegten Studium in Wien, Leipzig, Zürich und Berlin (Nationalökonomie, Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte, Psychiatrie und Psychologie) übte Martin Buber als Brotberuf zunächst vorwiegend publizistische Tätigkeiten aus, auch für Theodor Herzls zionistisches Parteiorgan „Die Welt“, während er zeitgleich kaum weniger intensiv an seinem eigenen philosophischen und literarischen Werk arbeitete. Im Jahr 1901 gründete er den Jüdischen Verlag, ab 1905 war er Lektor beim renommierten Berliner Verlag Rütten & Loening. Er zählte zu den Mitbegründern des Sozialistischen Bundes (1908), der Monatszeitschrift „Der Jude“ (gemeinsam mit Salman Schocken, 1916) und des Leo Baeck Instituts (mit Hannah Arendt und Gershom Scholem, 1955) und war nahezu der einzige bedeutende zionistische Intellektuelle, der sich vor und nach der Staatsgründung Israels immer wieder vehement für die Rechte der Palästinenser einsetzte. Seine gemeinsam mit Franz Rosenzweig begonnene sprachmächtige Übersetzung der hebräischen Bibel ins Deutsche gilt bis heute zu Recht als literarische Glanztat.

Grab von Rabbi Nachman in Uman/Ukraine

Innerhalb des lebendigen, in vielerlei Hinsicht prägenden Anteils jüdischer Intellektueller an der deutschsprachigen Kultur Deutschlands und Österreichs vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nahm Martin Buber dabei von Anfang an eine Sonderstellung ein. In sogar noch stärkerem Maße als der im habsburgischen Krakau geborene, heute nahezu vergessene und ebenfalls vorwiegend in deutscher Sprache veröffentlichende Schriftsteller, Lyriker und Journalist Salamon Dembitzer (1888-1964), der seine berühmten assimilierten Kollegen Döblin, Kerr, Lessing, Perutz oder Feuchtwanger mit regelrechten Hasstiraden wegen ihres kulturellen Dünkels überzog, war Martin Buber als Enkel des bedeutendsten Forschers und Sammlers auf dem Gebiet der chassidischen Kultur Osteuropas fest von einer bedeutenden humanitären Mission des osteuropäischen Judentums überzeugt. Diese Gewissheit hatte sich der junge Student, obwohl während seiner Kindheit in Galizien selbst oberflächlich mit dieser Tradition in Berührung gekommen, mit viel Fleiß und wachsender Begeisterung über Jahre hinweg selbst erarbeitet.

Liebe
Der Baalschem sprach zu einem seiner Schüler: „Den Geringsten der Geringen, der dir in den Sinn kommen kann, liebe ich mehr, als du deinen einzigen Sohn liebst.“

Die im wesentlichen auf die mystische Weltsicht aus dem wirkungsreichen Umkreis des berühmten polnischen „Wunderrabbis“ Israel ben Elieser genannt Baal Schem Tov (um 1700-1760) und seines Urenkels Rabbi Nachman von Bratslav (1772-1810) gründende Tradition des Chassidismus hatte das traditionelle Judentum Osteuropas seit Mitte des 18. Jahrhunderts mit einer neuen Form der Spiritualität belebt, die aus heutiger Sicht einer umfassenden geistigen Erneuerung gleichkam. Unter den großen monotheistischen Religionen ist das Judentum immer die Religion des Gesetzes gewesen, wobei die sich zuallererst den Prinzipien einer strengen formalen Logik unterwerfende theologische Interpretation der überlieferten Gesetze, sie vor allem auch zur jener Religion gemacht haben, die der weltlichen Philosophie von jeher am nächsten stand – nicht umsonst genossen viele bedeutende Philosophen und Geistesgrößen wie Moses Maimonides (um 1135-1204), Baruch de Spinoza (1632-1677) oder Salomon Maimon (um 1753- 1800) ursprünglich eine traditionelle jüdische theologische Ausbildung.

Die kleine Hand
Durch Rabbi Nachman von Bratzlaw ist uns dieser Spruch seines Urgroßvaters, des Baalschemtow, überliefert: „Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand.“

Den osteuropäischen Chassidismus zeichnet einerseits eine tiefe, den Gesetzen der Torah unmittelbar verpflichtete Religiosität aus, die ihn grundsätzlich kaum vom althergebrachten orthodoxen Judentum unterscheidet. Grundlegend neu aber war die von den zahlreichen charismatischen Protagonisten der Bewegung vehement verkörperte mystisch-spirituelle, dabei jedoch auch unmittelbar lebensbejahende Dimension, die sich im gemeinsamen religiösen Erlebnis sowie in der individuellen und kollektiven Gotteserfahrung etwa durch Tanz und Gesang äußert, wobei dessen geradewegs dem Diesseits zugewandte vitale Lebenslust und bewusste Verweigerung asketischer Traditionen nach Ansicht vieler heutiger Gelehrter vor allem auch als direkte Reaktionen auf die bitteren Lebensumstände, insbesondere auf die zahlreichen Pogrome der Entstehungszeit interpretiert werden müssen.

Grab des Baal Schem Tov in Medschybisch/Ukraine

Dieser, wie wir heute sagen würden, ganzheitliche Ansatz des traditionellen osteuropäischen Chassidismus, der das spirituelle Bedürfnis des Menschen mit dem sinnlichen zu versöhnen scheint und gleichermaßen stark auf das Diesseits wie das Jenseits ausgerichtet ist, musste nicht nur auf viele Zeitgenossen in deren charakteristischem Lebensumfeld äußerst attraktiv wirken, das wesentlich von Armut, Mord und Verfolgung geprägt war, sondern erfreut sich auch heute noch einer großen Anhängerschaft, die man aufgrund ihrer anachronistisch wirkenden Art sich zu kleiden oftmals zu belächeln geneigt ist. Dabei durfte sich die direkt aus dem weiteren spirituellen Umfeld des Chassidismus hervorgegangene esoterische Kabbalah-Bewegung nicht umsonst Ende der 1990er Jahre großer Beliebtheit auch in nichtjüdischen Kreisen erfreuen, was man trotz deren eher oberflächlicher Ausprägung durchaus als Indiz für Martin Bubers These interpretieren darf, dass der Weltsicht des Chassidismus aufgrund seines Anspruchs der Versöhnung der (scheinbaren) Gegensätze von Intellekt und Gefühl auch in einer durch und durch weltlich geprägten Gesellschaft höchste moralische Relevanz zukommt: sich um die Bedürfnisse seine Seele zu kümmern, ohne dass der Körper zu kurz kommt, und um seinen Körper, ohne dass die Seele dabei zu kurz kommt, ist ein erstaunlich zeitgemäßer Anspruch.

In der Welt der Wandlungen
In den Tagen des Baalschem lebte ein Mann, der sich grausam kasteite, um den heiligen Geist zu erlangen. Von ihm sprach einmal der Baalschem: „In der Welt der Wandlungen lacht man über ihn. Man übergibt ihm höhere und höhere Stufen und narrt ihn damit. Hätte er nicht Hilfe an mir, er ginge verloren.“

Erste Versuche, die wesentlichen Zeugnisse des religiösen und menschlichen Wirkens von Israel ben Elieser und Nachman von Bratslav ins Deutsche zu übersetzen, unternahm Martin Buber schon sehr früh: seine freien Nach- und Neudichtungen der Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und der Legende des Baalschem (1907), wurden zu großen und nachhaltigen kommerziellen Erfolgen in Deutschland, auch wenn sich der Autor bald aufgrund seiner nach späterer Einschätzung allzu freier Gestaltung davon distanzierte. Als konstituierende Grundlagentexte seines über Jahrzehnte auf geradezu biblischen Umfang angewachsenen literarischen Opus magnum „Die Erzählungen der Chassidim“ haben sie ihn fast sein ganzes Leben über begleitet und bereichern und schmücken nun in erheblichem Maße auch die wunderschön ausgestattete, ausgesprochen verdienstvolle und mit einer kongenialen Titelillustration Marc Chagalls stilvoll in farbiges Leinen gebundene Prachtausgabe, die nun anlässlich von Martin Bubers fünfzigstem Todestag bei Manesse erschienen ist. Dafür wurde die 1949 vom Autor persönlich für diesen Verlag zusammengestellte und mit einem umfangreichen Vorwort versehene Ausgabe von dem Judaisten Michael Brocke um ein umfangreiches Register, ausführliche Anmerkungen und ein Glossar sowie ein überaus erhellendes Nachwort erweitert.

Martin Buber, 1940er Jahre

„Die Erzählungen der Chassidim“ sind ein wunderbarer, geradezu unvergänglicher, mit bloßen erklärenden oder beschreibenden Worten kaum jemals annähernd zu ermessender literarischer Schatz jüdischer Weisheit, der als wesentliche Ergänzung der kontemplativen religiösen Literatur einen festen Platz neben der Bibel und dem Talmud haben sollte. Dabei sind die streng nach ihrem jeweiligen Urheberkreis geordneten, manchmal nur aphoristisch kurzen Abschnitte mit Erlebnissen oder Aussprüchen der großen Protagonisten des osteuropäischen Chassidismus gleichzeitig von größter universeller spiritueller Kraft und geradezu überwältigender Lebensnähe und Diesseitigkeit. Was beim Lesen allerdings immer wieder genauso sehr zu beeindrucken vermag, sind die herausragenden sprachlichen Fähigkeiten Martin Bubers: Sätze, die oft so unvermittelt und treffend eine grundsätzliche Wahrheit auszudrücken vermögen, dass man verzückt und überrumpelt und gefangen im jeweiligen Gedanken, manchmal beinahe vergisst weiterzulesen; Sätze somit auch, die einen wieder zum bewussten und konzentrierten Lesen erziehen. All diese feinen, einzigartigen, überlegenen Eigenschaften machen „Die Erzählungen der Chassidim“ zu einem besonders guten Beispiel wahrhafter Weltliteratur. Gleichzeitig wird vorbildlich deutlich, wie und in welchem Maß die Beschäftigung mit den Werten des Chassidimus die Persönlichkeit Martin Bubers und seine Ethik geformt und beeinflusst hat. In dieser weltbewegenden, revolutionären Hinsicht sind „Die Erzählungen der Chassidim“ wirklich ein großes, zeitloses Geschenk für die Menschheit.

„Die Erzählungen der Chassidim“, erschienen bei Manesse, 780 Seiten, € 29,95

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