Menschenhandel
und Zwangsprostitution sind zwar eindeutig keine Erfindungen der
Neuzeit, ohne Zweifel jedoch können wir gerade diese beiden
Erscheinungsformen moderner Sklaverei heutzutage aufgrund unserer
nahezu lückenlosen globalen Vernetzung eindeutig besser
dokumentieren und bekämpfen als etwa in der Antike oder in der
Renaissance. In jedem Fall besser auch als noch vor gut hundert
Jahren, als – was kaum jemandem in Europa bewusst ist – jüdische
Mafiabanden vor allem in Brasilien und Argentinien ein
weitverzweigtes, perfekt organisiertes und gut funktionierendes
Netzwerk errichtet hatten, das über ihre Mittelsmänner insbesondere
in den ärmlichen und stets von gewalttätigem Antisemitismus
bedrohten jüdischen Gemeinden Osteuropas gezielt auf Menschenfang
ging, um über viele Jahrzehnte weitgehend unbehelligt tausende
argloser jüdischer Frauen nach Südamerika zu verschleppen, welche
sie zumeist glauben gemacht hatten, eine verheißungsvolle
arrangierte Ehe in der sagenumwobenen Neuen Welt einzugehen, sie dort
stattdessen aber brutal zur Prostitution zwangen.
Diese
vornehmlich im Verborgenen operierenden Verbrecherorganisationen konnten in jenen unabhängigen
südamerikanischen Staaten, auf die sie ihre kriminellen Aktionen
konzentriert hatten, durch den ungehemmten, regelmäßigen Gebrauch
von physischer und psychischer Gewalt, politischen Drohgebärden
sowie Bestechung oft einen erheblichen gesellschaftlichen Einfluss
vorweisen, der sie in die bequeme Lage versetzte, meistenteils
unbehelligt von Polizei und Behörden ihren weitverzweigten
Geschäften nachzugehen. Aus historischer Perspektive berichtet der
brasilianische Schriftsteller Ronaldo Wrobel über die Praktiken
dieser skrupellosen jüdischen Menschenhändler, etwa in seinem
wunderbaren, soeben als Taschenbuch erschienenen Roman „Hannahs Briefe“, während die in ihrer Heimat vielfach ausgezeichnete
argentinische Autorin María Inés Krimer diese zum authentischen
pittoresken Hintergrund ihres soeben erst ins Deutsche übersetzten
humorvoll-ironischen Noir-Krimis „Sangre Kosher“ macht, einer
absolut hinreißenden, in hohem Maße originellen Neuentdeckung für
die internationale Krimilandschaft.
Manchmal
fragte ich mich, woher mein Interesse an der Zwi Migdal stammte. Die
Figuren und Geschichten, die sie zu bieten hatte, übertrafen an
Phantastik alles, was sich ein Schriftsteller hätte ausdenken
können. Jedes Mal wenn ich nachmittags allein im Archiv saß und
wartete, dass vielleicht das eine oder andere Kind nach der schul
bei mir vorbeisah, nahm ich mir ein neues Kapitel dieser
Geschichte vor, die ich aus irgendeinem Grund auch als die meine
betrachtete. Außerdem versuchte ich, mich dadurch für meine feuchte
Zwei-Zimmer-Wohnung, die Zeitungsstapel auf dem Schreibtisch, die
Kakerlake, die Morgen für Morgen durch meine Küche spazierte, und
meine unmäßige Neigung zu Süßspeisen zu entschädigen.
María
Inés Krimers durch liebevoll-lebensnahe, empathische
Charakterzeichnung in all ihrer menschlichen Unvollkommenheit für
den Leser unwiderstehliche, ebenso neugierige wie schlagfertige
Protagonistin Ruth Epelbaum war über lange Jahre Leiterin des
jüdischen Gemeindearchivs einer argentinischen Kleinstadt gewesen.
Seitdem ihr der Vorstand allerdings per Mehrheitsbeschluss wegen
ihrer mittlerweile allzu tiefen Einblicke in die Gemeindestrukturen
die freiwillige Kündigung nahegelegt hat, lebt die alleinstehende
desillusionierte Mittvierzigerin nun schon seit einigen Jahren in
Buenos Aires, wo sie ihren bescheidenen Lebensunterhalt mit allerlei
unbedeutenden Gelegenheitsjobs sowie fallweise auch als resolute und
scharfsinnige Privatdetektivin bestreitet. Bei der Beerdigung einer
entfernten Kusine, die erst kürzlich während des Haarefärbens im
Friseursalon verstorben war, erhält sie von dem Juwelier Chiquito
Gold unerwartet den unkompliziert scheinenden Auftrag, dessen Tochter
zu suchen, die seit über einer Woche spurlos verschwunden ist.
Calle Libertad am Abend |
Jede
Stadt besteht in Wirklichkeit aus mehreren Städten, das habe ich
immer wieder festgestellt. Sobald man sein übliches Viertel
verlässt, verschwinden die gewohnten Gesichter, und auf einmal sieht
man lauter Leute, die man längst vergessen oder für tot gehalten
hatte. Diese schwindelerregende Erfahrung machte ich einmal mehr in
der Calle Libertad.
Ihre
unmittelbar darauf mit großem Tatendrang begonnenen Recherchen, die
von ihrer neugierigen Schickse Gladys ungefragt immer wieder mit
unverhofftem Rat und nützlicher Tat unterstützt werden, führen
Ruth zunächst in ein luxuriöses Fitnessstudio, wo sie gleich beim
ersten Besuch zahlreiche für den weiteren Verlauf der Handlung
ausgesprochen wichtige Protagonisten kennenlernt: einen
dynamisch-durchtrainierten glatzköpfigen Bundesrichter, eine
offenherzige Rezeptionistin mit eindrucksvoll dimensionierten
künstlichen Brüsten sowie jenem jungen umschwärmten
Fitnesstrainer, der auf dem letzten Foto von Chiquitos vermisster
Tochter gemeinsam mit ihr vor einem eleganten Ferienhaus im
Paraná-Delta posiert hatte, einem beliebten Naherholungsgebiet der
besseren Gesellschaft von Buenos Arires. Doch noch bevor sie den
Coach bei nächster Gelegenheit eingehend befragen kann, hat er sein
Leben bereits unter kläglichen Umständen in einer öffentlichen
Toilette ausgehaucht, was Ruth unmissverständlich klar macht, dass
ihre Recherche weit über das Aufspüren einer möglicherweise aus
eigenem Antrieb durchgebrannten, eingebildeten Juwelierstochter
hinausgehen könnte.
Ich
dachte an die Leiche der jungen Frau. Ihre völlig aufgeweichte Haut.
Die an Hals, Kinn und Stirn klebenden Blätter. Die aufgerissenen
Augen. Den Schaum vor dem Mund. Ich empfand nichts besonderes für
diese Frau. Aber der, der sie ins Wasser geworfen hatte, konnte das
Gleiche, oder noch Schlimmeres, mit Débora getan haben. Und mit mir
würde er es vielleicht auch tun.
Auf
der Suche nach dem auf dem Foto abgebildeten Bungalow stößt Ruth
zielsicher auf die im Fluss treibende Leiche einer anderen jungen
Frau, die offensichtlich am selben Tag wie Débora Gold verschwunden
ist, wie sich schon bald herausstellt. Und in dem leerstehenden
Ferienhaus scheinen am Wochenende regelmäßig rauschende Partys
stattzufinden, eine verwirrt scheinende Indianerin als unzuverlässige
Zeugin will dabei nicht nur stets einen deutlichen Frauenüberschuss
beobachtet haben, sondern auch, dass die wenigen teilnehmenden Männer
immer allesamt sehr viel älter seien als die ausnehmend attraktiven
jungen Frauen. Als Ruth unter geheimnisvollen Umständen eine brutale
Videodatei zugestellt wird, beginnt sie langsam zu argwöhnen, dass
die jüdische Mafiaorganisation Zwi Migdal, die nach offizieller
Verlautbarung seit mehr als achtzig Jahren nicht mehr aktiv sein
soll, in Wahrheit lebendiger sein könnte als die Öffentlichkeit
glaubt.
María Inés Krimer/Foto: Alejandro Guyot |
Mit
„Sangre Kosher“, dem ersten Band einer als Reihe angelegten
Krimiserie um die sympathische jüdische Privatdetektivin Ruth
Epelbaum, bereichert der kleine Verlag Diaphanes im Rahmen seiner
von Thomas Wörtche herausgegebenen Reihe Penser Pulp den
unter dem zyklusartig verlaufenden Einfluss dominierender Großtrends
betont eintönigen deutschsprachigen Krimimarkt einmal mehr um eine
weitere überraschende schillernde Facette, die dem glänzend
unterhaltenen Leser auf eindrucksvolle Art und Weise vor Augen zu
führen versteht, dass selbst die unscheinbarsten (Sub-)Kulturen
immer wieder auch ein dankbares Objekt für umsichtige soziale
Recherche mit dem Mittel spannender Kriminalliteratur sein können
und unseren Blick auf die Gesellschaft somit höchst nützlich zu
bereichern vermögen. Auf weitere Bände der Reihe darf man sich
jetzt schon freuen!
„Sangre Kosher“, aus dem argentinischen Spanisch von Peter Kultzen,
erschienen bei Diaphanes, 198 Seiten, € 17,95
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