Jerusalem

Jerusalem

Sonntag, 9. März 2014

„Die Hände des Pianisten“ von Yali Sobol

Wie leicht und nahezu unmerklich der Übergang vom Rechtsstaat zum Totalitarismus in Zeiten von Krieg oder vorgeblicher allgemeiner Krise von einem skrupellos berechnenden Regime bewerkstelligt werden kann, das unter der Prämisse des Allgemeinwohls und kurzfristig konsensfähiger sogenannter „notwendiger“ Maßnahmen seine Option auf die totale Macht wahrnimmt, zeigt der israelische Schriftsteller und Musiker Yali Sobol (Sohn des Dramatikers Jehoschua Sobol) auf meisterhafte Art und Weise in seinem soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Die Hände des Pianisten“, einer mit unaufdringlicher Doppelbödigkeit und großem inneren Verständnis für die subtilen Funktionsweisen des Terrors ausgestatteten, großartigen literarischen Parabel, die überaus geschickt mit unserer optimistischen Erwartungshaltung sowie unserem natürlichen Gerechtigkeitsempfinden spielt.




Dabei lässt der in Israel vor allem durch seine Band Monica Sex zu Kultstatus gelangte Schriftsteller seine beunruhigende Dystopie schon mit einem gängigen zionistischen Denkverbot beginnen, um Schauplatz und zeitlichem Rahmen seines Romans in fragmentarischer Kürze treffend zu beschreiben: „Tel Aviv, nach dem nächsten Krieg“. Die Metropole am Mittelmeer ist während des nicht näher umschriebenen Kriegsverlaufs durch zahlreiche feindliche Raketentreffer erheblich zerstört worden, ihre Bewohner sind noch vollauf damit beschäftigt, sich wieder halbwegs in ihrem altvertrauten Leben einzurichten. Maßgeblich verantwortlich für das schnelle Ende eines für Israel eigentlich schon verloren geglaubten Krieges ist offenbar ein erfolgreicher Putsch einer kleinen Gruppe von Generälen, dem unter anderem der Generalstabschef und der rechtmäßig gewählte Ministerpräsident zum Opfer gefallen sind:

Das einzige, was der Öffentlichkeit offiziell bekannt gemacht wurde, war das über die Medien am Abend der Explosion verbreitete Bulletin des stellvertretenden Oberbefehlshabers, Generalmajor Menachem „Meni“ Schamai. Er gab einen kurzen Bericht über die Katastrophe ab und teilte dann mit, in Absprache mit dem Staatspräsidenten, dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs und dem Rechtsberater der Regierung sei ein Übergangsoberkommando unter seiner Leitung eingerichtet worden, in dem hochrangige Vertreter aller Regierungsstellen vertreten seien. Das ÜOK, so Schamai, werde die Führung der Staatsgeschäfte bis zum Ende des Krieges übernehmen und „Das Schiff an sichere Gestade steuern“.

Sehr gekonnt demaskiert Yali Sobol bereits hier die plumpe, selbstgefällige, sich volksnah-solidarisch gebende, schnarrige Vertraulichkeit der israelischen Militärs, wie sie auch heute wie selbstverständlich an der Tagesordnung ist, als allgegenwärtige, ganz reale potenzielle Gefahr für die israelische Demokratie sowie für eine perspektivisch sinnvollerweise zu schaffende Zivilgesellschaft, die diese Bezeichnung in vollem Maße verdient. In Sobols Roman ist freilich auch nach Ende des fiktiven Krieges keine Rede mehr von einer möglichen Rückkehr zu den demokratischen Strukturen des Status quo ante: eine Reihe von Notstandsverordnungen zementiert die Macht des Generalstabschefs und seines ÜOK und ermächtigt insbesondere die Polizeiorgane bei Bedarf zum Einsatz aller „notwendigen Mittel“.

Sie hatten keinen Haftbefehl, aber Vizekommandant Levi wusste, das würde nicht sein Problem werden. In den letzten Monaten, seit die Notstandsverordnungen in Kraft getreten waren, hatte sich das Verhältnis der Bürger zur Polizei spürbar verändert. Levi hatte diese Veränderung immer wieder in seinem Verhörraum beobachten können. Das war schon nicht mehr die alte generelle, mit Aversion einhergehende Furchtsamkeit, die sich in Ergebenheit ausdrückte, vermischt mit nur mühsam unterdrückter Aufsässigkeit. Jetzt war es echte Angst. Die Polizei hatte Mittel und Unabhängigkeit bekommen, wie sie sie noch nie gehabt hatte, und machte naturgemäß begeistert davon Gebrauch. Für korrupte Polizisten oder einfach nur Sadisten war die neue Situation das Paradies. Manche Leute machten unliebsame Erfahrungen. Schlimme Dinge, über die man sich bei niemandem beschweren konnte. Die Botschaft kam überraschend schnell in der Öffentlichkeit an: Mit der Polizei legte man sich besser nicht mehr an.

Der Autor zeigt mit heimtückischer Bravour und aus stetig wechselnder Perspektive seiner auf unterschiedlichen Seiten stehenden Protagonisten, wie leicht man unter den Bedingungen einer sich frisch entspinnenden Diktatur selbst als vollkommen harmloser, unpolitischer und weitestgehend gesetzestreuer Staatsbürger in die gleichgültigen Klauen eines sich in zunehmendem Maße selbst legitimierenden Polizeiapparats geraten kann. In Sobols Roman trifft es den hochbegabten klassischen Pianisten Joav Kirsch, dessen einst hoffnungsvolle Karriere stagniert, seitdem er die magische Altersgrenze von dreißig Jahren überschritten hat, was ihn nicht weiterhin zur lukrativen Teilnahme an hochdotierten Wettbewerben in Europa und den USA qualifiziert. Seit Ende des Krieges besteht seine einzige kümmerliche Einnahmequelle aus wenigen armseligen Auftritten unter vollkommen unprofessionellen, improvisieten Umständen im Staatsdienst, mit denen die Moral der Bevölkerung gestärkt werden soll.

Ayalon-Highway, Tel Aviv

So ist es zunächst seine Ehefrau Chagit, die als vielbeschäftigte Cutterin bei den Fernsehnachrichten für den Lebensunterhalt des kinderlosen Paares aufkommen muss. Als sich aufgrund der neuen restriktiven Ausreisebestimmungen auch eine seit langem geplante Europatournee zerschlägt und die zunehmend angespannte häusliche Situation die in langjähriger, aufrichtiger zärtlicher Liebe Verbundenen zu entzweien droht, gibt Joav schließlich dem Drängen eines ebenso wohlhabenden wie einflussreichen mysteriösen Bewunderers nach, regelmäßig in dessen Haus musikalische Soireen abzuhalten – ein Entschluss, der nicht nur seine finanzielle Situation deutlich verbessert, sondern den weltfremden Träumer auch wieder Anteil am gesellschaftlichen Leben nehmen lässt.

Ich kann nicht glauben, dass wir uns wegen ein paar Tomaten und einer Packung Hüttenkäse angebrüllt haben“, sagte er. Sie drehte sich zu ihm um. Die schrecklichen Gedanken, die ihr in der Nacht durch den Kopf gegangen waren, trafen sie für einen Moment wie ein Schlag, ließen ihren Magen verkrampfen und verflogen sogleich beim Anblick seines kindlichen Morgengesichtes auf dem Kopfkissen, das sie erwartungsvoll ansah.“Ich auch nicht.“Sie setzte sich im Schneidersitz vor ihn. Seine Hand tastete sich auf dem Laken voran und ergriff die ihre. „Das ist genau, was die wollen“, murmelte sie. Sie hatte keine Ahnung, wen sie mit „die“ meinte, aner diese „die“ gab es, und Joav und sie waren wie zwei Mäuschen in ihrem Versuchslabor.

Währenddessen muss sich der resignierte Polizeioberinspektor Itzak Levi, ein ehemaliger Philosophiestudent und einstmals leidenschaftlicher Schauspielschüler, gleichsam als letzte persönliche Bewährungsprobe, die ihm von seinen neuen Vorgesetzten gewährt wird, im Rahmen einer neuen, zunächst nur aus seiner eigenen Person bestehenden Spezialeinheit zur Sichtung, Erfassung, Überwachung und ideologischen Einordnung der israelischen Künstlerschaft bewähren. Nach monatelanger pedantischer Arbeit und ersten, von der Soldateska mit eitlem Beifall quittierten Erfolgen, zu denen nebenbei auch eine unverhoffte Hauptrolle für seine älteste Tochter an einem der renommiertesten Theater des Landes gezählt werden muss, wird seine Abteilung vom ÜOK großzügig zu einer schlagkräftigen Truppe ausgebaut, und er selbst ernennt mit diabolischem Kalkül ausgerechnet den ehrgeizigen, gestapohaften Verhörspezialisten Inspektor Wilner zu seinem Stellvertreter.

Oberinspektor Levi unterdrückte den alten Impuls einzuschreiten, ehe sein Ermittler die Grenzen des Erlaubten überschritte. Bis vor Kurzem noch hatte solche Gewaltanwendung als grenzwertig oder sogar unzulässig gegolten, aber die noch frischen Notstandsbestimmungen erlaubten größere Flexibilität und Eigenermessen beim Einsatz physischer Druckmittel, insbesondere in Fällen, in denen die Zeit eine Rolle spielte. Levi war nicht wirklich besorgt. Sein junger Inspektor war einer, der sich im Griff hatte. Außerdem hatten sie im Vorfeld die Spielregeln abgesteckt. Die beiden Ohrfeigen, die er dem jungen Punksänger verpasst hatte, waren absolut im Rahmen des Vereinbarten.

Yali Sobol/Foto: Ornit Pnini

Als der ahnungslosen Chagit eines Tages von einem Kollegen der Nachrichtenredaktion unter geheimnisvollen Umständen ein USB-Stick in die Hand gedrückt wird, den jener sie mit verzweifeltem Nachdruck sicher für ihn zu verwahren bittet und die Polizei kurz darauf eine allumfassende Razzia im TV-Sender durchführt, gerät sie trotz äußerster Vorsicht und absoluter Verschwiegenheit unweigerlich ins Visier von Oberinspektor Levis fieberhaft ermittelnder Geheimbehörde, deren oberste Priorität die Vertuschung eines ungeheuerlichen Skandals zu sein scheint, der bis in die höchsten Kreise der Macht führt. Während sich die Lebenswege der einzelnen Protagonisten im Verlauf der Ermittlungen auf schicksalhafte Art und Weise unerbittlich kreuzen, wird beispielhaft deutlich, wie unausweichlich und nachhaltig die absolute, gänzlich unsanktionierte Macht Menschen zu korrumpieren vermag; gleichzeitig wird der Leser mittels zahlreicher unerwarteter Wendungen immer wieder erfolgreich getäuscht und schließlich in seiner Hoffnung auf ein versöhnliches Ende auch nachhaltig enttäuscht.

Er schleifte den Pianisten, der kaum noch bei Bewusstsein war, zu einem Tisch in der Ecke des Raumes, hob seinen schlaffen Arm und spreizte die Finger der rechten Hand auf der Tischplatte. Dann zog er aus seinem Gürtel einen kurzen Schlagstock aus massivem Holz. Mit der einen Hand drückte er Joavs Hand auf den Tisch und schwang die andere, die den Schlagstock hielt, hoch über den Kopf. „Jetzt“, brüllte er. „Überleg schnell, ob es noch etwas gibt, was du mir sagen willst. Ich zähle bis drei. Eins... zwei... “

Die Hände des Pianisten werden somit zum äußerst zerbrechlichen Symbol des kostbarsten immateriellen Gutes, das wir in einem Rechtsstaat besitzen und mit Nachdruck unter allen Umständen zu vertreten haben. Yali Sobols unkonventioneller, hellsichtiger Roman ist zwar für die jüdische Bevölkerung Israels nur eine düstere, wenn auch denkbar-naheliegende Zukunftsvision, für die unterprivilegierte arabische Minderheit (die interessanterweise im Buch nicht einmal erwähnt wird) sowie insbesondere für die Palästinenser in den besetzten Gebieten jedoch seit vielen Jahrzehnten traurige Realität. Gerade aufgrund seiner moderaten, den Leser eher mit empathischem Wiedererkennen und unmissverständlichen Andeutungen überzeugenden, als durch brutale Gewaltszenen überrumpelnden humanistischen Sichtweise ist „Die Hände des Pianisten“ ohne Zweifel einer der erstaunlichsten und überzeugendsten politischen Romane, die innerhalb der letzten Jahre aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetzt worden sind. Gleichzeitig ist dem Autor mit seinem spannend zu lesenden Buch eine universell lesbare, unmissverständliche Warnung vor dem Weg in totalitäre Verhältnissen gelungen.

„Die Hände desPianisten“, aus dem Hebäischen von Markus Lemke, erschienen bei Antje Kunstmann, 288 Seiten, € 19,95

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.