Jerusalem

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Freitag, 12. Juli 2013

„Ein weißes Land“ von Sherko Fatah


Die vielfältigen Migrationsbewegungen des Zwanzigsten Jahrhunderts haben nicht nur unsere Wahrnehmung des Islam und der arabischen Welt nachhaltig verändert, sondern deren wechselhafte Geschichte auch ins Herz unserer Gesellschaft getragen. Autoren wie der kürzlich völlig zu Recht mit dem von der Stadt Heidelberg alle drei Jahre vergebenen Hilde-Domin-Preis für Exilliteratur ausgezeichnete Abbas Khider bereichern die deutsche Sprache und das Geistesleben in unserem Land auf vielfach-ungeahnte, wunderbare und kaum zu ermessende Art und Weise.

Auch der Berliner Schriftsteller Sherko Fatah wurde im Jahr 2007 mit diesem wichtigen Literaturpreis prämiert, noch bevor er seine wichtigsten beiden Werke veröffentlicht hatte. 1964 als Sohn eines Kurden irakischer Herkunft und einer deutschen Mutter in Ost-Berlin geboren, verbrachte er einen Teil seiner Kindheit und Jugend in Wien, bevor sich die Familie schließlich endgültig in West-Berlin niederließ. Seine familiären Wurzeln in Kurdistan hat Fatah jedoch immer gepflegt, er ist ein ausgewiesener Kenner der vielfältigen historischen Voraussetzungen für die blutigen Konflikte des Nahen Ostens, die uns bis heute in Atem halten.

In seinem letzten, von der Literaturkritik gefeierten und den virtuosen Erzähler schmeichelhaft, aber nicht unberechtigt in die Nähe von Dichtern wie Fjodor Dostojewski, Victor Hugo oder Robert Louis Stevenson rückenden Roman „Das dunkle Schiff“ beschrieb Fatah das bittere Schicksal eines geläuterten Islamisten im Berliner Exil, der seiner Vergangenheit als potenzieller Selbstmordattentäter auch im befriedeten Deutschland nicht zu entrinnen vermag.

In seinem Ende 2011 erschienenen und nun auch als Taschenbuch vorliegenden, kaum weniger beeindruckenden epischen Roman „Ein weißes Land“, noch im Frühjahr letzten Jahres aussichtsreich auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, macht sich Ende der 1930er Jahre ebenfalls ein junger Iraker auf den Weg nach Europa, um – wie er glaubt – sein Glück zu machen. Der doppeldeutige Titel des Buches bezieht sich anspielungsreich auf eine Formulierung Heinrich Himmlers, die dieser in einer Unterredung mit dem fanatischen Antisemiten und arabischen Nationalisten Mohammed Amin al-Husseini (1893-1974), dem berüchtigten Großmufti von Jerusalem, für die im Rahmen des bevorstehenden Angriffskrieges in Osteuropa von Nazi-Deutschland zu erobernden Gebiete gebraucht haben soll.



Der unbedarfte Antiheld des Buches, ein kurdischer Simplicius, ist stets auf Seiten jener, die ihm im jeweiligen Moment die meisten persönliche Vorteile zu verheißen scheinen und wird so zum dankbaren Spielball unterschiedlichster politischer Machtinteressen sowie der großen gewalttätigen nationalen und internationalen Konflikte der 1930er und 40er Jahre. Insbesondere die zahlreichen Schnittstellen zwischen deutschem und arabischem Antisemitismus werden in Sherko Fatahs großartigem spannenden Schelmenroman erstmals in diesem der Öffentlichkeit kaum bekannten offensichtlichen Zusammenhang literarisch beleuchtet.

Ich sitze hier und beobachte dich wie einen Fremden. Aber ich kenne dich. Vielleicht werde ich es dir nie sagen: Ich kenne dich, ich kenne dich gut. Es ist einige Jahre her. Es ist eine Ewigkeit her. Lange genug, um mich nicht mehr zu erkennen. Aber wie auch, du schaust mich nicht an, du schaust nie jemanden direkt an. Du bist der wichtige Doktor aus dem fernen Deutschland. Und ich, was bin ich schon? Der Bote, den du nicht brauchst, der dir lästig ist. [...] Und doch, Gottes Wege sind unerforschlich, bist du hierhergekommen. Du hättest überall hingehen können nach dem Krieg. Aber nein, du bist hier, vor meinen Augen, und allein dein Anblick bringt mir die alte Furcht zurück, die uns beide einmal umschlossen hielt wie eine Faust.

1921, im Jahr der irakischen Unabhängigkeit geboren, wächst der junge Anwar in einem wenig homogenen, multiethnischen Staat von Großbritanniens kolonialen Gnaden auf und gerät als Diener wechselnder Herren in die eskalierenden Auswüchse von Gewalt und ersten massiven Pogrome, woran nicht nur seine Freundschaft zu den beiden irakischen Juden Ephraim und Ezra scheitert, sondern auch seine Liebe zu des letzteren Schwester Mirjam. Innerhalb seiner unwahrscheinlichen, aber innerhalb der grausamen Zeitläufe dennoch denkbaren und daher möglichen Odyssee kämpft Anwar schließlich als Mitglied der sogenannten Ostturkmenischen Division der Waffen-SS an der Ostfront und ist an der blutigen Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto beteiligt, die er schwer verletzt überlebt.

Jemand will gehört haben, dass du ein Soldat geworden bist und in den Krieg gezogen bist. Ich kann mir das nicht vorstellen, du, in einer Uniform, mit einem Gewehr in der Hand. Gern würde ich wissen, gegen wen du kämpfst und ob du all das um einer guten Sache willen tust. Nie hast du über deine Ideen gesprochen, immer nur zugehört. Wie kommt es da, dass ausgerechnet du bereit bist, für sie zu sterben? Sind alle um dich herum wie du? Opfern sie sich oder sind sie einfach nur dumm? [...] Es ist erstaunlich zu sehen, wie wenig sich verändert, trotz der Schrecklichkeiten, die wir aus Europa hören. Man sagt, es gebe Lager dort, in denen die Juden umgebracht und verbrannt werden. Ich frage mich, ob du so etwas vielleicht gesehen hast. Und ich frage mich noch etwas – aber das spreche ich nicht aus. Wie alle anderen werden auch wir bald fortgehen und doch sage ich: Komm zurück.

Zurück in Bagdad erlebt Anwar, wie der Irak in konzertierten zionistischen Aktionen, an denen auch seine ehemaligen Freunde maßgeblich beteiligt sind, seiner jüdischen Bevölkerung nahezu vollkommen entleert wird – ein Jahrtausend fruchtbarer Koexistenz und gelungener gegenseitiger kultureller Interaktion geht somit zu Ende. Schließlich steht der lebenslang vergeblich dem vermeintlichen Glück hinterherjagende ewige Verlierer der Weltgeschichte erneut vor dem großen Nichts, gegen das die arabischen Gesellschaften derzeit immer noch mit unverminderter Leidenschaft revoltieren.

Sherko Fatah ist ein absoluter Glückfall für die deutsche Literatur, da er uns in bestechender literarischer Form, mit einer süchtig machenden Sprache und vor allem aus unserem eigenen kulturellen Verständnis heraus unmissverständlich klar macht, dass die Geschichte, die er so überaus versiert erzählt, heute auch unsere Geschichte ist.

„Ein weißes Land“, erschienen bei btb, 478 Seiten, € 10,99

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